Der vierte Schlüssel

 

Vorwort

„Die Nornen knüpfen das Netz des Schicksals aus vielen Fäden. Nur die wenigsten davon verstehen wir. Leben nennen wir das und wir meinen, dass es für unsere Seelen eine Reise ohne Wiederkehr sei, weil der Fluss der Zeit nur eine Richtung kennt. Das zu glauben ist menschlich. Irren ist es auch.“
Johanna

Als Edmund Dantes, der Graf von Monte Christo, Rache nahm und mit seiner Geliebten Haidee davonsegelte, war ich glücklich. Erst, als der Spion Joachim Detjen gerade noch mit heiler Haut dem Bundesnachrichtendienst und der CIA entwischte, habe ich den letzten Teil von „Das unsichtbare Visier“ zur Seite legen können. Als Stenström in Arne Sjoebergs Roman „Die stummen Götter“ überall auf deren Wirken stieß, ohne sie je finden zu können, war ich traurig, und jedes Mal, wenn Jason Bourne seinen inneren Dämonen die Stirn bot, war ich begeistert. Nehme ich „Solaris“ von Stanislaw Lem zur Hand, rinnen mir am Ende Tränen aus den Augen. Das ist, was gute Geschichten mit mir machen.
Ich wünsche mir, dass Ihnen Christian Oldenburg das Gleiche antut, wenn er gegen den Willen der Staatssicherheit nach dem Mörder seiner Mutter fahndet, nach dreißig Jahren unter einem unsichtbaren Visier Rache nimmt, die stummen Götter sucht und schließlich sein Solaris erlebt.

Möge die Fantasie mit Ihnen sein.

 

1. Der vierte Schlüssel.

Ostberlin, Sommer 1977

Vier Schlüssel drückt uns das Leben in die Hand. Der Erste trägt den Namen Entscheidung. Er öffnet uns die Tür zur Zukunft. Der Zweite ist die Erinnerung. Mit ihm reisen wir in die Vergangenheit. Der Name des dritten Schlüssels lautet: Fantasie. Er öffnet uns das Universum. Scheinen alle Wege versperrt, braucht es noch einen vierten Schlüssel. Sein Name ist Hoffnung, aber er ist von trügerischer Natur.
Durch das halb offene Fenster drang der Klang von Stöckelschuhen auf Pflastersteinen herein und der Junge hob den Kopf vom Buch, in das er vertieft gewesen war. Der Reisewecker auf dem Nachttisch zeigte ihm, dass der neue Tag schon ein paar Minuten alt war und Erschrecken machte sich in seinem schmalen Gesicht breit. Er wusste, dass seine Mutter schimpfen würde, wenn sie ihn noch lesend im Bett vorfand. Noch nicht einmal ausgezogen und gewaschen hatte er sich.
Er überdachte seine Optionen und deren Konsequenzen. Er konnte das Licht ausmachen, sich schnell ausziehen und tun, als ob er schliefe. Seine Erfahrung sagte ihm, dass es nichts ändern würde, weil sie immer wusste, wann er versuchte, sie zu täuschen und die Konsequenz eine doppelte Bestrafung sein würde. Die andere Option war, nach unten zu laufen, ihr die Haustür aufzumachen und ihr vielleicht sogar ein paar Schritte entgegenzugehen. Er war sich sicher, dass sie sich darüber gefreut hätte. Trotzdem hätte sie ihm zur Strafe das Buch weggenommen.
Trotzig verkniff er die Lippen, versenkte seine Gedanken wieder in das Buch vor ihm und las den Absatz, den er eben gelesen hatte, noch einmal. Seine Großmutter hatte ihm beigebracht, dass die wichtigen Dinge in einem Satz immer vor dem Komma standen und dass es zu dieser Regel nur eine Ausnahme gab: Wenn nach dem Komma ein ‚Aber‘ folgte. Dann konnte man alles vergessen, was man vor dem ‚Aber‘ gelesen hatte. Diese vier Buchstaben kehrten die Bedeutung des vorhergehenden Satzes um und in einem solchen zusammengesetzten Satz stand das Wichtige nach dem Komma.
Ohne dass er es bemerkte, schob er die Zunge zwischen seine Lippen. Wie die einer Schlange züngelte sie auf seiner Oberlippe hin und her, während er darüber nachdachte, wie er den letzten Satz mit seinem ‚Aber‘ zu verstehen hatte.

„Ich lass mich von Sven scheiden,“ sagte sie, als der Mann ihr, ganz Gentleman, die Wagentür aufhielt. Als hätte sie nicht die Stunden in seinem Bett genug Zeit dafür gehabt. „Christian wächst mir über den Kopf. Für seine zwölf Jahre ist er viel zu erwachsen … macht, was er will … hat seine Gefühle nie unter Kontrolle, aber redet nicht darüber … hört nicht auf mich … Ich werde nicht mehr mit ihm fertig. Er braucht einen Vater, dem er sich anvertrauen kann. Der für ihn da ist, der ihm zuhört. Einen, der mehr als nur einmal im halben Jahr zwischen zwei Aufträgen auf einen Sprung vorbeikommt.“
Wortlos setzte er sich hinter das Lenkrad. Sie ließ den Sicherheitsgurt einrasten, drehte heftig den Kopf zu ihm und fügte hinzu: „Und ich brauche einen Mann, der für mich da ist. Ich brauche Dich. Für immer und nicht nur, wenn ich am Wochenende hier bin.“
Sie hatte seine Reaktion sehen wollen in einem Moment, in dem er auf etwas anderes konzentriert war, war er sich sicher und ebenso darin, dass er sich keine Blöße gegeben hatte. Es war seine Ausbildung, die verhinderte, dass er in Panik verfiel. Für immer war eine zu lange Zeit, um für ihn akzeptabel zu sein. Es war sein Beruf, weit vorauszuplanen, doch jederzeit mit der Gewissheit, dass kein Plan die erste Feindberührung überlebte und nur Flexibilität und die schnelle Reaktion auf geänderte Umstände die Erreichung des angestrebten Ziels garantieren konnten. Seine und ihre Ziele lagen so weit auseinander wie der Pole der Erde. Nicht, dass er es ihr jemals gesagt hätte.
Dunkelheit ist die Abwesenheit von Licht. Finsternis ist das Fehlen von Liebe, erinnerte er sich. Irgendwo hatte er es gelesen und es sofort wieder ad acta gelegt. Man warf Äpfel und Birnen nicht in den gleichen Topf, das Ergebnis war nicht weiter als Mus. Man tat das genau so wenig, wie man eine Ehe aufkündigte, um danach wieder eine mit dem bisherigen Liebhaber einzugehen. Wenigstens nicht, wenn man Verstand hatte. Auch dabei kam nur Mist heraus, erst recht, wenn sich beide Männer kannten.
Er analysierte ihre möglichen Bedürfnisse, die als Gründe in Frage kamen für ihre Entscheidung, die ihm plötzlich schien, und die möglichen Folgen, die daraus für ihn und seine Karriere erwachsen konnten. So hatte man es ihm beigebracht. Beurteilung der Lage, Klarmachen der Aufgabe, Entschluss fassen und dann: Mit Entschlossenheit und Initiative handeln.
Äußerlich gelassen, wie sie es von ihm gewohnt war, lenkte er den Wartburg durch Berlin-Marzahn, vermied die Alleen und nutzte auf dem Weg Richtung Ostbahnhof nur schmale Nebenstraßen. Auch das tat er wie immer. „Hast du es ihm schon gesagt?“, fragte er scheinbar leichthin.
„Nein.“
„Du solltest es alsbald ins Auge fassen. Dann hat das Versteckspiel endlich ein Ende.“ Er lächelte sie an, berührte ihr Knie, drückte es, dann legte er die Hand wieder auf das Lenkrad. Er nutzte immer beide Hände zum Fahren. Sicherheit war sein Beruf.
Eine Querstraße vor der Wohnung, in der sie ein Zimmer gemietet hatte, stellte er den Wartburg ab. Auch wie immer. Doch statt ihr seinen üblichen Abschiedskuss über die Gangschaltung hinweg zu geben, stieg er aus und öffnete ihr die Beifahrertür. Am nahen Ostbahnhof pfiff eine alte Dampflok. Der leichte Wind wehte Rauchgeruch herüber. Er mischte sich mit den Ausdünstungen von Blut aus der Abdeckerei ein paar Straßen weiter und auch dem Mief aus den vom Wochenende vollen Mülltonnen am Straßenrand. Es war eine ganz normale Sonntagnacht im Ostberlin des Jahres neunzehnhunderteinundachtzig.
Sie blickte vom Sitz hoch zu ihm. „Was ist denn mit dir los? Ist dir der Schreck in die Glieder gefahren?“
Leise lachte er. „Kennst du mich so schlecht? Ich freue mich. Ich hätte mich nie getraut, dir das vorzuschlagen. Komm! Ich bringe dich nach Hause.“ Er lachte kollernd. „Auch in Ostberlin soll es böse Menschen geben.“
Sie zog sich an seiner Hand aus dem Fahrersitz und in ihrem Gesicht sah er den Streit ihrer Gefühle. Angst war dabei, Ungewissheit, Hoffnung und schließlich Freude. Sie hängte sich bei ihm ein, nachdem er die Beifahrertür leise angedrückt hatte. Den Kopf zärtlich an seine Schulter gelegt, spazierte sie neben ihm auf dem mit Katzenbuckeln gepflasterten Bürgersteig entlang und jedes Mal, wenn einer der Absätze ihrer Stöckelschuhe auf einem der rundköpfigen Steine aufsetzte, gab es ein beschwingtes klack, das in der nächtlichen Stille die ganze Straße entlang zu hören war. Seine Schritte waren so lautlos, als ginge sie alleine hier. Er fühlte einen pelzigen Geschmack im Mund.
„Willst du wirklich mitkommen? Ich habe nur ein Zimmer. Christian wird dich sehen …“ Etwas schepperte, ein schwarzer Schatten huschte vorbei, kaum zu erkennen in der Dunkelheit. Sie klammerte sich fester an ihn.
„Nur eine Ratte“, beruhigte er sie. „Die Tonnen sind voll. Wenn du dann nicht mehr nur alle paar Wochen hier bist, suchen wir dir eine vernünftige Wohnung. In einer besseren Gegend.“
„Ein paar heile Straßenlaternen mehr würden mir schon reichen“, stellte sie trocken fest. „Es gibt hier Stellen, an denen kannst du die Hand vor Augen nicht sehen.“
Vor der Bushaltestelle zwei Häuser vor ihrer Wohnung blieb er stehen. „Hier zum Beispiel?“, fragte er mit rauer Stimme. Testosteron machte das, Adrenalin auch. Sie konnte es nicht missverstehen. Sie war nicht dumm. Genau das war sein Problem mit ihr.
Ihr Lachen schallte die schmale Straße entlang, brandete wie eine Woge gegen die lichtlosen Fensterscheiben der Häuser und Karosserien der wenigen Wartburgs und Trabbis am Straßenrand. „Und ob … hier hast du mich das erste Mal geküsst, als du mich abgeholt hast. Und als du mich zurückgebracht hast, wie heute Nacht, haben wir hier … im Stehen …“
Er warf einen schnellen Blick um sich. Alles war totenstill. „Komm!“, hauchte er und drängte sie in die Bushaltestelle.
„Oh mein Gott … was tust du? Wir sind doch gleich bei mir …“ Sie wehrte sich nicht sehr.
„Nein, hier. Es hat etwas so … Verruchtes.“ Billiges, angerostetes Stahlblech an drei Seiten, von denen in dicken Fladen die Farbe abblätterte, Wellblech auf dem Dach und darunter Dunkelheit. Widerstandslos ließ sie sich von ihm in eine Ecke drängen. Er stellte sich hinter sie und presste sie an sich.
„Du Ferkel,“ flüsterte sie. Gurrend zog sie sich Strumpfhose und Schlüpfer in die Kniekehlen, dann den Rock. „Mach schon!“ Voll Ungeduld und brodelnder Lust drückte sie ihren Po gegen seinen Unterleib.
Ihr den rechten Arm um den Oberkörper legend, hauchte er einen Kuss in ihren zarten Nacken. Der Rest war eine rein mechanische Tätigkeit, geübt in vielen Trainingsstunden: Mit der linken Hand verschloss er ihr Mund und Nase, sein rechter Arm fesselte ihre Oberarme und presste über ihren Brüsten ihren Brustkorb zusammen. Dann überließ er sich dem brodelnden Adrenalinstrom in seinem Körper. Fast einhundert voll austrainierte Kilogramm Mann gegen nicht einmal sechzig zarter Weiblichkeit. Mühelos erstickte seine Hand ihre Schreie, sein Arm jeden Befreiungsversuch. Mit einem hässlichen Knacken barst einer ihrer Wangenknochen unter dem Druck seiner Hand. Noch etwas knackte und ihm schien, es müsste die ganze Straße entlang zu hören sein. Schließlich hing sie so schlaff, wie nur ein toter menschlicher Körper sein kann, in seinen Armen. Er hielt sie weiter fest. Er wollte sicher sein.
Als er es war, ließ er sie auf die morschen Holzlatten der Bank sinken. Ein wenig heftiger als normal atmend, betrachtete er ihre zusammengesunkene Gestalt. Durch einen einzigen Satz von ihr war sein Begehren so endgültig verflogen, dass er meinte, nie wieder eine Frau besteigen zu können. Nicht einmal eine Erektion hatte er noch bekommen, als ihr zuckender Po sich an seinem Penis gerieben hatte. Er fragte sich, was er an ihr so erregend gefunden hatte, dass er für die Nächte mit ihr seine Karriere riskiert hatte.
Mit einer Hand drückte er ihren Oberkörper gegen die Rückwand der Haltestelle, zerriss ihr die Strumpfhose und den Slip und fetzte ihr Bluse und Büstenhalter vom Körper. Sorgsam achtete er darauf, keine Kratzer mit den Fingernägeln auf ihrer zarten Haut zu verursachen.
Ihr Leib fiel von der Bank auf den Boden, nicht mehr als ein totes Ding, das immerhin noch ein Signal aussenden konnte: In Berlin, dem Aushängeschild der Deutschen Demokratischen Republik, lauerten Gefahren, die man nicht so einfach auf die leichte Schulter nehmen durfte. Was den Bürgern fehlte, war Sicherheit, mehr Sicherheit.
Er trat an den Rand der Bushaltestelle, so, dass er noch durch das Dach und die Seitenwände gedeckt war, und prüfte mit schnellen Blicken die Straße und die Fenster. Nur in einem halb geöffneten Fenster, zwei Häuser weiter, sah er noch Licht durch die Vorhänge schimmern. Es war die Wohnung, in der sein Opfer ein Zimmer für das Wochenende gemietet hatte. Konzentriert schaute er hinauf, doch nichts rührte sich hinter der Gardine.
Gelassen und lautlos schritt er zu seinem Wagen und rekapitulierte dabei sein Handeln. Einen Fehler fand er nicht. Er wusste, dass man in der konspirativen Wohnung, in der er sich mit ihr wie immer getroffen hatte, keine verwertbaren Spuren finden würde. Er war nicht der Einzige, der sie für seine Treffen benutzte. Genau genommen ging es in ihr zu wie in einem Taubenschlag und schon morgen würde dort ein anderes Treffen stattfinden. Sollte man je ihre Spuren bis in diese Wohnung zurückverfolgen, so würde es unmöglich sein, aus der Vielzahl der dortigen unterschiedlichen Fingerabdrücke auf ihn zu schließen.
Dunkelheit ist die Abwesenheit von Licht. Finsternis ist das Fehlen von Liebe. Nun, das war dann eben so, dachte er. Vor langer Zeit hatte er sich für die Dunkelheit entschieden und er erinnerte sich nicht an einen einzigen Tag, an dem er diesen Entschluss bereut hatte.

Die Schritte draußen waren schon eine ganze Weile verstummt. Der Junge hatte nicht gehört, wie seine Mutter den Schlüssel in die Haustür gesteckt hatte. Er schlussfolgerte, dass sie jetzt unter dem Fenster oder auf der Straßenseite gegenüber stand und wütend zu ihm hinaufsah. Trotzdem würde sie ihn am nächsten Morgen mit einem Lächeln aus dem Bett scheuchen, damit sie den Zug nach Schwerin nicht verpassten, aber die Traurigkeit in ihren Augen würde wieder ein wenig größer geworden sein.
Wie mit Flammenzeichen geschrieben sah er das ‚Aber‘ in dem, was er eben gedacht hatte. Das Wichtige kam immer danach und obwohl es warm war im Zimmer, fröstelte ihn. Er wollte seine Mutter nicht traurig sehen. Wieder blickte er zur Uhr, dann zu seinen Schuhen und plötzlich hatte er es eilig. Er musste die Arme seiner Mutter um sich spüren, ihr das sagen, was er fühlte und ihr schon viel zu lange nicht mehr gesagt hatte: Sei nicht böse, Mama. Ich hab dich doch lieb.
Er sprang auf und schlüpfte in seine Schuhe. Im Vorbeigehen warf er einen letzten Blick ins Buch. Denn Hoffnung ohne Zeit, die sie braucht für ihre Erfüllung, ist wie ein Baum ohne Wasser und Zeit ohne Hoffnung ist ein finsterer Kerker, las er. So sind sie Liebende, die Zeit und die Hoffnung, alleine bedeutungslos, gemeinsam unbesiegbar.

 

2. Geschichte oder Geschichten?

September 1981, Warnemünde

Die Ehe zwischen Uranos, dem Herrscher der Welt, und Gaia, der Mutter Erde, schien nicht mit allzu viel Glück und Liebe gesegnet gewesen zu sein. Auf Geheiß seiner Mutter schnippelte Kronos seinem Vater Uranos das Gemächt weg und warf es über seine Schulter in den Ozean. Nicht nur der Herrscher der Welt war deswegen fürchterlich aufgewühlt, sondern auch das Meer selbst. Es schäumte, seine Wogen stiegen gen Himmel und als es sich wieder beruhigte, entstieg den Wellen am Strand der Insel Zypern eine wunderschöne Frau, geboren aus der Potenz des Weltenherrschers Uranos und dem Schaum des Meeres: Aphrodite.
Gesegnet mit unwiderstehlichem Liebreiz, stieß sie die Göttinnen Hera und Athena vom Schönheitsthron und der Göttervater Zeus konnte nicht anders, als die Schaumgeborene an Kindes statt unter seine Obhut zu nehmen und sie zur Hohepriesterin der Liebe zu machen. Ob er die Schöne tatsächlich dann auch nur wie eine Tochter behandelte, darüber stritten sich die Geister. Nur in einem waren sie sich sicher: dass die Schöne viel Unheil angerichtet hatte.
Vielleicht war es damals sogar eine Nacht wie diese gewesen, als die Göttin erschienen war: finster, warm und windstill, das Wasser glatt wie ein Spiegel und mit einem üblen Geruch. Nach der Hitze des Spätsommertages waren am Abend dicke Wolken über Warnemünde aufgezogen und hatten die Wärme konserviert wie in einer Thermoskanne. Kein Windhauch vertrieb den Gestank von Sonnencreme, verfaulendem Tang und totem Fisch und keine Menschenseele trieb sich noch am Strand herum.
So wäre es auch gewesen, wenn statt der Finsternis der Mond geschienen und die Schönheiten des Fernsehballetts eine Stripteaseshow am Strand dargeboten hätten, denn jeder Urlauber wurde über das Nachtbadeverbot an der Ostseeküste belehrt, sobald er im Ferienhotel seinen Personalausweis zur Anmeldung auf den Tisch des Empfangs legte. Die Freiheit war für DDR-Bürger nur drei Seemeilen entfernt, vorausgesetzt, sie erreichten ein Schiff außerhalb der Hoheitsgewässer, bevor sie in der Ostsee ertranken. Die Soldaten der Grenzbrigade Küste sorgten mit regelmäßigen Patrouillen dafür, dass niemand auch nur den Versuch wagte, sie zu erreichen.
Selbst auf der Strandpromenade verlustierten sich nur noch wenige Urlauber. In den FDGB-Hotels war Fütterungszeit und wer dazu zu spät kam, den bestrafte zwar nicht gleich das Leben, aber sein Magen.
Eine einsame Spaziergängerin ließ sich mit einem unterdrückten Stöhnen auf die breite Balustrade sinken, die in Hüfthöhe die Promenade zum Strand hin begrenzte. Noch vor ein paar Wochen war Larissa Gromkowa eine hochangesehene Onkologin gewesen. Bis sie ihre eigenen Forschungen hingeworfen, das bahnbrechende Exposé vernichtet und auch den Testprototyp sabotiert hatte. Doch sie war Wissenschaftlerin, keine Expertin in verdeckter Kriegsführung, aber die Leute des KGB, die ihr Labor bewacht hatten, schon und so war es weder so geräuschlos abgelaufen, wie sie sich das vorgestellt hatte, noch unblutig und dass sie überhaupt bis Warnemünde hatte fliehen können, grenzte an ein Wunder.
Mit einem erneuten Stöhnen richtete sie sich wieder auf und ging zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war. Nach gut zweihundert Schritten blickte sie noch einmal die Promenade entlang, dann huschte sie zum Strand hinab.
Flockiger Schaum schwamm auf dem Wasser am Ufer. Ohne zu zögern, trat sie hinein und ließ ihren Bademantel von den Schultern gleiten. Mit beiden Händen löste sie ihren dicken roten Haarknoten und schüttelte ihren Kopf, dass ihre lockigen Haare als wallende Pracht bis zu ihrem Po herabfielen.
Sie warf einen letzten Blick auf die Lichter der Stadt, dann wendete sie sich um und ging tiefer ins Wasser. Als es ihr bis zum Bauchnabel reichte, ließ sie sich ganz hineingleiten und schwamm mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen los.

Nur noch einer der beiden mächtigen Dieselmotoren im Maschinenraum trieb die Time Bandit II durch die Wellen. Obwohl auf den besten Schwingungsdämpfern gelagert, die es für Geld zu kaufen gab, waren seine Vibrationen immer noch stark genug, dass Albina R. Devereaux sie selbst auf der Brücke noch spürte. Ein Kommando von ihr hätte genügt, um auch den zweiten, ebenso starken Diesel wieder zu starten. Zusammen konnten sie fünfzigtausend Pferdestärken an die beiden armdicken Schraubenwellen schicken und das war mehr als genug, damit die achtzig Meter lange Luxusyacht fast jedem Verfolger eine Nase drehen konnte. Modernere Schiffe erreichten Geschwindigkeit durch Elegantheit der Linienführung und technische Raffinesse, die Time Bandit II setzte auf brachiale Kraft. Trotzdem hatte sie nicht gereicht, um Larissa Gromkowa noch zu retten. Mit allem, was die beiden Maschinen hergaben, hatte die Time Bandit II die Wasser der Nordsee durchpflügt, als gäbe es kein Morgen mehr, während Albina an ihren Fingernägeln kauend auf der Brücke hin und her getigert war. Nur, um am Ende feststellen zu müssen, dass sie das Wettrennen gegen den nassen Tod verloren hatte.
Die Besatzung nannte sie nur Skipper und manchmal, wenn sie glaubten, dass sie es nicht hörte, auch Käpt’n Nemo oder den Fliegenden Holländer. Ihr war es gleichgültig. In ihrem Pass und in den Papieren, die sie als Eigner und Kapitän der australischen Hochseeyacht auswiesen, stand zwar Albina R. Devereaux, aber sie hatte schon so viele Namen benutzt, dass sie sich nicht einmal mehr an alle davon erinnerte.
Kapitän Nemo oder Fliegender Holländer wären gar nicht so unpassend gewesen, fand sie, doch kein Passfälscher der Welt, der etwas auf sich hielt, würde je diese Namen verwenden. Immer mehr Hafenbehörden verfügten über Computer. In Minutenschnelle konnten Nachrichten von einem Ende der Welt zum anderen geschickt und Daten abgeglichen werden und es war nur noch eine Frage der Zeit, wann ihre Tarnung als reicher, menschenscheuer Sonderling, der mit einer ihm treu ergebenen Besatzung über die Weltmeere kreuzte, auffliegen würde.
Mit einem sanften roten Glühen kündigte die Sonne ihr Erscheinen über der Ostsee an. Albina richtete ihren Blick dorthin, wo in wenigen Minuten der Rand der Sonne scheinbar aus dem Wasser auftauchen und der Erde Licht und Wärme spenden würde, wie sie das seit mehr als drei Milliarden Jahren getan hatte. Leben wäre ohne sie undenkbar, auch wenn es in geologischen Zeiträumen betrachtet, erst noch sehr jung und das der Menschen nur einen Wimpernschlag alt war. Würde man das Leben auf der Erde in einem Buch mit eintausend Seiten dokumentieren, wären die ersten siebenhundert Seiten eine Geschichte über Einzeller. Erst auf Seite neunhundertsechzig wäre der Landgang des ersten Fisches verzeichnet. Die gesamte Geschichte des Menschen selbst würde auf diesen eintausend Seiten gerade mal ausreichen, um auf der allerletzten Seite einige wenige Zeilen zu füllen. Albina war sich sicher, dass die Menschen nichts mehr hinzuzufügen hatten. Nach ihrer Meinung war das letzte Wort der letzten Zeile darin am sechzehnten Juli 1945 begonnen worden und es hieß: Auslöschung, Selbstmord ihrer ganzen, vorgeblich intelligenten Spezies. Sie war dabei gewesen damals, als auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico unter dem Namen Trinity-Test der erste Atombombenversuch der Menschheit stattgefunden hatte. Die Detonation war so gewaltig gewesen, dass alle Seismographen rund um die Erde die Schockwellen registriert hatten. Selbst tief unter dem Eis der Antarktis hatten Messgeräte das künstliche Beben aufgefangen.
Es hätte das Tor zum Fortschritt sein können, zu Energie ohne Ende und zu einer blühenden Welt. Doch nur knapp einen Monat später, am sechsten August, als die Bombe über Hiroshima detoniert war und achtzigtausend Menschen im Bruchteil einer Sekunde hineingestoßen worden waren durch den simplen Befehl von Harry S. Truman, dem damaligen amerikanischen Präsidenten, hatte Albina begriffen, dass sie stattdessen am Tor zur Hölle mitgebaut hatte.
Sie schüttelte die Erinnerung ab, rückte die weiße Kapitänsmütze auf ihren grauen Haaren zurecht und reckte sich, dass ihre Gelenke knackten, doch die Müdigkeit in ihren Gliedern ließ sich nicht so einfach vertreiben. Die ganze Nacht hatte sie kein Auge zugetan, war immer wieder zwischen der Brücke und der Krankenstation hin- und her gependelt und hatte dabei die diensthabende Besatzung mit ihrer Unruhe in Atem gehalten. Sie hatten Larissa Gromkowa aus dem Wasser geborgen, doch der Schaden an ihrem Körper war irreparabel gewesen und so hatte sie ihnen nicht viel mehr sagen können, als sie ohnehin schon gewusst hatten.
Hinter ihr betrat jemand die Brücke. Sie drehte sich nicht um. Seit mehr als zehn Jahren kannte sie den Schritt des Schiffsarztes.
„Sie hat es hinter sich,“ sagte er. „Ich glaube, sie wollte es sogar. Sie hatte schon abgeschlossen, denke ich, als sie ins Wasser ging.“
„Zehn Minuten! Wären wir nur zehn Minuten schneller gewesen!“ Albina konnte die Bitterkeit nicht aus ihrer Stimme heraushalten. „Aber es hätte auch nichts geändert. Höchstens, dass ich ihr persönlich den Kopf hätte abreißen können. Sie hat die Büchse der Pandora geöffnet und wir haben keine Kontrolle darüber, was mit dem geschieht, was daraus entfleucht ist.“ Sie drehte sich herum. „Es können in der Zukunft ein paar Tausend, wenn nicht gar Millionen sein, die ihrem Ehrgeiz zum Opfer fallen werden. Das kann jemanden, der nur etwas Gutes schaffen wollte, schon in den Selbstmord treiben.“
„Du musst es ja wissen.“ Der Schiffsarzt setzte sich in den Sessel des Kapitäns. Albina zog die Stirn kraus. Dieser Sessel gehörte nur ihr und niemand von der Besatzung hätte es gewagt, ihn zu benutzen, nicht einmal, wenn sie schlief. Niemand außer dem kleinen Franzosen. „Irgendwann lasse ich dir doch noch den Mund zunähen,“ drohte sie.
Lässig schlug er seine kurzen Beine übereinander. „Und was, bitteschön, willst du dazu benutzen, wenn die einzigen fähigen Hände für so etwas auf diesem Schiff meine sind?“
„Einen Presslufttacker?“, schlug sie vor. „Rostige Krampen? Das kann dann auch einer von den Schiffsingenieuren erledigen.“
Aus dem roten Glühen am Horizont vor der Time Bandit verirrte sich ein erster Sonnenstrahl sich auf die Brücke. Reinweißer Calacatta Vagli-Marmor, an den Wänden von zarten Bernstein- und Goldadern durchzogen, leuchtete auf und die goldgefassten Armaturen und Steuerungselemente der Kommandobrücke schienen plötzlich in Flammen zu stehen. Das Wasser spiegelte die Sonnenstrahlen, die grauen hohen Felsen am Ufer reflektierten sie und selbst die Luft schien in den Lichtkaskaden ein ganz besonderes Leuchten zu besitzen. Mit jeder Sekunde gewann die aufsteigende Sonne an Kraft und verwandelte sie in das strahlenfunkelnde Innere eines Brillanten.
„Wie wunderbar!“, flüsterte der alte Franzose in Albinas Sessel und betrachtete mit offenem Mund voller Staunen das Spiel des Lichts auf der Kommandobrücke. Albina ging zu ihm und griff nach seiner Hand, als brauchte sie eine Stütze. „Jede Medaille hat immer zwei Seiten und nur, wenn man beide sieht, kann man die richtigen Entscheidungen treffen. Sie spendet Wärme und damit Leben, ja, aber in ihr lodern Kräfte, für deren Beherrschung wir nicht reif sind.“
„Und es niemals sein werden, denkst du.“ Er drückte ihre Hand, wie sie es getan hatte, als man ihn ebenso wie Larissa aus dem Meer gefischt hatte. Albinas Hand war es gewesen, die ihm wieder Mut zum Leben eingehaucht hatte.
Eine Wolke schob sich vor die Sonne. Aus der lichtdurchfluteten Kathedrale wurde wieder das, was es schon immer gewesen war: die Brücke eines ultramodernen Schiffes, nichts weiter.
„Fünf Grad Steuerbord!“, wies Albina den Steuermann an und ließ Vincents Hand wieder los. „Ich will nicht so dicht unter Land fahren.“
„Aye Skipper!“, antworte der Steuermann.
„Sag mir, dass du alles hast, Vincent.“
„Natürlich. Aufgezeichnet, implementiert und programmiert. Es sollte keine Probleme geben, wenigstens nicht, was das betrifft.“
„Was sonst? Unverträglichkeiten?“
„Wenn du in die Zukunft sehen kannst? Ich kann es nicht. Der Aufklärer hat dein Wissen, deine Erfahrung und wahrscheinlich auch deine Weltsicht. Inwieweit sich das alles mit dem von Larissa verträgt …“, unbehaglich zuckte er die Schulter, „das werden wir abwarten müssen. Ist nur so ein Gefühl.“
„Dann solltest du ihn jetzt wohl aktivieren.“
„Skipper!“ Heftig fuhr der Erste Offizier auf. Auch der Steuermann, der bis jetzt durch nichts zu erkennen gegeben hatte, dass er sich um etwas anderes kümmerte, als das Schiff sicher durch das Skagerrak zu navigieren, riss die Augen auf.
„Sie haben einen Einwand, Achmed?“ Albina hob die Augenbrauen.
„Ich mache mir nur Sorgen, Skipper.“ Der Erste Offizier war ein langer, schlaksig wirkender Mann mit einer spiegelnden Glatze und weit ausladendem Hinterkopf. Die tiefen Falten in seinem schwarzen Gesicht bewegten sich, als würde ein Erdbeben der Stufe neun den Grand Canyon erschüttern. „Was ist, wenn wir die Verbindung zu ihm verlieren?“
„Er ist lernfähig und in gewissen Grenzen autark.“, warf der Schiffsarzt ein.
Achmed lachte ihn aus. „Nur das keiner weiß, wo genau diese gewissen Grenzen liegen. Er lernt wie ein Kind, dass sich die Hand auf einer heißen Herdplatte verbrannt hat und sie deswegen nie wieder anfassen wird. Try and error sagt man dazu, aber da draußen gibt es Fehler, die macht man nur einmal!“ Er schnaubte. „Wieso erzähle ich dir das? Du weißt das doch besser als ich!“
„Was willst du damit sagen?“ Vincent richtete sich in seinem Sessel auf.
Albinas leiser Sopran trennte die beiden Streithähne. „Und er weiß auch, wie die letzte Diskussion zwischen uns ausgegangen ist. Sie offenbar nicht mehr.“
Warnend hob Achmed einen Zeigefinger. „Ist er einsatzbereit? Ja, schon lange. Ist er getestet? Ja. Unter realen Bedingungen? Nein, nein und nochmals nein! Ich mache mir Sorgen.“
„Die nicht damit zusammenhängen, dass Ihr liebstes Spielzeug jetzt zeigen muss, was es kann?“ Erst jetzt blickte Albina von ihren Schuhspitzen hoch. In ihren Augen funkelte Zorn und jeder auf der Brücke sah die Sorgen in ihrem Gesicht, die sie keine Nacht mehr ruhig schlafen ließen. „Wollten Sie sonst noch etwas bemerken, Erster?“
Achmed verkniff das Gesicht und hütete sich, auch nur noch ein Sterbenswörtchen von sich zu geben. Die Wutausbrüche Albinas konnten den Stahlboden unter seinen Füßen mehr zum Erzittern bringen als die beiden Dieselmotoren unter voller Kraft.
„Dachte ich mir.“ Albina zügelte ihr Temperament. „Orstchov ist in Oslo. Wir müssen wissen, an welcher Teufelei er nach X-44 als Nächstes arbeitet.“ Sie schnaubte: „Er hätte es ‚Pandora‘ nennen sollen!“
Achmed zog eine Augenbraue hoch. Das Wort war zum zweiten Mal gefallen.
„Alte griechische Sage. Kennst du nicht.“ Der kleine Schiffsarzt stieß ein glucksendes Lachen aus. „Prometheus stahl den Göttern das Feuer und brachte es den Menschen. Zur Strafe ließ der Göttervater Zeus ihn an die Felsen des Kaukasus ketten und jeden Tag von einem Adler seine Leber verputzen. Für die Menschen hatte sich Zeus eine andere Schweinerei einfallen lassen. Der Schmied Hephaistos erschuf dazu aus Lehm eine wunderschöne Frauengestalt und Zeus hauchte ihr Leben ein. Aphrodite schenkte ihr holdseligen Liebreiz, Athene schmückte sie mit Blumen, und Hermes verlieh ihr eine bezaubernde Sprache und den Namen Pandora. Sie drückten ihr eine Büchse in die Patschhand, die mit allen Übeln der Welt und der Hoffnung gefüllt war, und dann drückten sie die Schöne Epimetheus, dem Bruder des Prometheus, aufs Auge. Prometheus warnte seinen Bruder, Geschenke des Zeus anzunehmen. Doch Epimetheus ignorierte die Warnung und heiratete Pandora. Natürlich öffnete sie in der Hochzeitsnacht die Büchse, schließlich war sie eine Frau und deren zweiter Name ist Neugier. Nun, alle Laster und Untugenden entwichen und machten sich unter den Menschen breit und Tode erschrocken, schlug sie den Deckel wieder zu. Als einzige blieb die trantütige Hoffnung drin, weil sie immer so lange braucht, bis sie zu Potte kommt. So wurde die Welt ein trostloser Ort, weil alle Laster und Übel jeden Tag Party feiern, aber die Hoffnung für immer weggesperrt ist.“
„Ich werde mich wohl nie an deinen schrägen Humor gewöhnen.“ Albina drohte Vincent mit dem Zeigefinger, dann ergänzte sie: „Larissas Serum hätte viele Blutkrankheiten heilen können. Doch indem Orstchov aus ihrem Wissen eine Waffe konstruiert hat, hat er die Büchse wieder zugeschlagen, bevor die Hoffnung entweichen konnte. Was glauben Sie eigentlich, an wem er X-44 getestet hat? An wem jeder, dem er seine Formel verkauft, sie testen muss? An Affen? An Schweinen? So naiv können Sie nicht sein. Sollte er herausbekommen, dass wir dank Larissa das Serum herstellen können, wird nicht nur er uns jagen lassen, wie noch nie jemand gejagt worden ist. Deshalb werden wir auch verschwinden, sobald wir den Aufklärer abgesetzt haben.“
Jetzt konnte sich der Erste Offizier nicht mehr beherrschen. Er zischte: „Und was, wenn der Aufklärer gefasst wird, Skipper? Er hat es im Blut.“
Sie starrten sich an, bis schließlich Achmed als erster den Blick senkte. Hart sagte Albina: „Steuermann, setzen Sie Kurs auf Oslo!“

Fast lautlos glitt die Time Bandit II durch den Oslofjord. Ein frischer Wind wehte über das Panomaradeck und Albina schlang sich den groben Wollschal enger um Kopf und Hals. „Du bist ein Unmensch!“ Der Schiffsarzt stellte sich neben sie. Er wirkte, als könnte er sich kaum noch auf den Beinen halten vor Müdigkeit. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte er kein Auge zugetan und die Spuren davon waren mehr als deutlich in seinem Gesicht zu sehen.
„Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie recht du hast. Du bist erst seit zehn Jahren an Bord.“ Albina lachte leise. Es klang nach allem anderen als Humor.
„Hast du mir etwas verschwiegen?“ Er seufzte theatralisch: „Natürlich hast du das. Miteinander schlafen schon, aber nur keine Intimitäten.“ Er wurde wieder ernst. „Du weißt, dass ich dir nie vor der Besatzung widersprechen würde, aber Achmed hat recht. Man wird zu Hause über deine Entscheidung nicht glücklich sein. Wenn überhaupt, sollen wir den Aufklärer nur in einem absoluten Notfall einsetzen. Jahrelanges Training hin oder her – niemand weiß, wie er reagieren wird. Er ist immer noch nur ein Prototyp. Wir sehen zwar alles, hören alles und können ihn im Notfall auch fernsteuern, aber was ist, wenn uns etwas zustößt?“
„Das weiß ich auch!“, erwiderter Albina heftig. „Aber unsere Ressourcen gehen zur Neige und unser Bewegungsspielraum wird immer enger.“
„Und es hat nichts damit zu tun, dass du genau so müde bist wie wir alle und wieder nach Hause willst?“ Vincent legte ihr eine Hand auf den Arm.
„Und wenn? Was ist schlimm daran?“ Sie nickte zu einer kleinen Insel hinüber, an der sie gerade vorbeifuhren. „Das ist die Insel Håøya da drüben und auf ihr die Festung Oscarsborg. Sie ist über einhundertfünfzig Jahre alt, genau wie ihre drei Kanonen. Sie tragen die biblischen Namen Moses, Aron und Josva, sind museumsreifer Schrott und das waren sie auch schon vor vierzig Jahren, als das deutsche Kriegsschiff Blücher hier auftauchte, gefolgt von einer Flotte, um Oslo einzunehmen. Der Festungskommandant, der 65-jährigen Oberst Birger Kristian Eriksen, traf eine Entscheidung, von der er annehmen musste, dass sie ihn entweder vor ein norwegisches Kriegsgericht oder vor ein deutsches Erschießungskommando bringen würde: Er eröffnete ohne Befehl seiner Regierung das Feuer. Mit nur drei Schüssen, abgefeuert von zwei Rekruten und dem Festungskommandanten selbst, haben sie die Blücher versenkt. Niemand, am allerwenigsten die übermächtigen Deutschen, hatten damit gerechnet, dass drei museumsreife Kanonen in einer über einhundert Jahre alten Seefestung genügen würden, den gerade erst in Dienst gestellten, schwer gepanzerten Stolz der deutschen Kriegsmarine auf den Grund des Oslofjords zu schicken und dass es so dem Festungskommandanten, gelingen könnte, seinem König die entscheidenden Stunden zu verschaffen, die Regierung und den Staatsschatz in Sicherheit zu bringen. Aber genau so ist es geschehen.“
Über das Gesicht Vincents huschte ein zärtliches Lächeln. „Ich glaube, wir werden alt.“
„Woran machst du das fest?“
„Wir erzählen zu viele Geschichten.“
„Die Büchse der Pandora?“
„Auch.“
„Wer sagt, dass es nur eine Geschichte ist?“ Auch Albina lächelte und wenn darin ein wenig Trauer war, so taten beide, als sähen sie es nicht. „Der Oberst wusste, dass Zeit in jedem Krieg der entscheidende Faktor ist und er hatte nichts weiter, als die Hoffnung, das Richtige zu tun. Etwas anderes haben wir auch nicht, Vincent. Nichts weiter als die Hoffnung, das Richtige zu tun. Mehr hatten wir nie. Bis zu einem gewissen Punkt hat Achmed natürlich recht. Deshalb will ich, dass du noch drei Gesetze mit Prioritätslevel verankerst, bevor der Aufklärer aufbricht. Ich will, dass er nach spätestens zehn Jahren zum Hauptquartier zurückkehrt, falls wir den Kontakt verlieren, er wird sich nirgendwo einmischen und natürlich darf er niemals seine Daten preisgeben.“
Vincent wiegte den Kopf hin und her. „Nicht einmischen? Wie stellst du dir das vor? Einer Maschine Selbstoptimierung und Intelligenz einzuprogrammieren und ihr gleichzeitig zu verbieten, sie anzuwenden ist wie … wie … als hättest du deine Geschlechtsorgane nur zum Ansehen, dürftest sie aber nicht benutzen. Intelligenz und freier Wille gehören zusammen, man sollte sie nicht trennen. Das wäre Sklaverei.“
„Aber man kann es und genau das wirst du. Es ist eine Maschine, Vincent, nichts weiter.“ Die Wangenmuskeln im Gesicht von Albina R. Devereaux spannten sich und ihr Gesichtsausdruck wurde kalt und hart. „Automatische Zerstörung, wenn sie dagegen verstößt.“

 

3. Die Engelslarve.

Your cruel device
Your blood, like ice
One look, could kill
My pain, your thrill
(Alice Cooper)

Frühling 1989, Oslo

Nirgendwo war es einfacher, andere ungestört zu beobachten, ohne selbst aufzufallen, als in einer möglichst großen Ansammlung von Menschen. Das hatte man Sven Oldenburg beigebracht und auch, dass selbst eine gezielte Tötung hier möglich war, weil in der entstehenden Verwirrung niemand mehr wusste, wer sie begangen hatte und der Täter unerkannt in der Masse untertauchen konnte. So wäre Oberst Müller begeistert gewesen von dem um diese Nachmittagszeit hoch frequentierten Kaffee in Oslo, das Sven für sein Treffen gewählt hatte. Der Ausblick auf den Hafen war atemberaubend. Die Fotoapparate schussbereit, wimmelten Sonntagsspaziergänger über die Promenade und hielten die Objektive auf alles, was ein brauchbares Motiv für die Kinder und Enkel abgeben konnte. Niemand von ihnen dachte bei dem strahlenden Sonnenschein an eine Gefahr. Sven Oldenburg schon. Er dachte immer daran. Eine Berufskrankheit.
Er hatte Segelohren und die schiefe Nase eines abgehalfterten Preisboxers, der mit ihr zu oft die Fäuste seiner Gegner gestoppt hatte und dazu Augen in der blassblauen Farbe abkühlenden Stahls. Ansonsten gab es in seinem kantigen Allerweltsgesicht keine auffallenden Merkmale, die sich in der Erinnerung hätten festhaken können. Die Falten um seine Mund- und Augenwinkel, die fünfzig Lebensjahre eingegraben hatten, passten in das Bild. Mit seiner grauen Anzughose, dem dazu passenden Hemd mit Binder, dem Brillengestell aus Draht und den peinlich genau auf links gescheitelten Haarüberbleibseln auf seinem fast kahlen Kopf wirkte er auf jeden wie ein Beamter, der sich seinen baldigen Ruhestand redlich verdient hatte. Die abgetragene braune Lederjacke um seine breiten Schultern, seine akkurate Haltung, die hellwache Intelligenz in seinen Augen und sein Blick, der in Sekundenschnelle alles erfasste und sich nie lange an einem Punkt aufhielt, erzählten denen, die sie verstehen konnten, eine andere Geschichte: Die von einem Mann, der in einem anderen Land und einer anderen Zeit einen Stetson mit breiter Krempe, Stiefel, ein paar Skalpe an den Schultern und einen Fünfundvierziger Colt an der Hüfte getragen hätte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert skalpierte man seine getöteten Feinde nicht mehr und statt eines Colts am Gürtel trug man jetzt eine Makarow oder eine Walther unter der Achsel, je nachdem, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs man ausgebildet worden war.
Die Nachmittagssonne brannte Sven ins Gesicht. Er drehte den gelben Korbstuhl ein wenig mehr zur Seite und musterte durch die dunklen Gläser seiner Brille die Gäste an den anderen Tischen. Nie hielt sich sein Blick dabei lange genug auf einem Gesicht auf, dass es hätte Aufmerksamkeit erregen können. Niemand schien von ihm mehr als nötig Notiz zu nehmen und dass er mit seinen breiten Schultern und seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht des öfteren vor allem von Frauen mit Blicken gestreift wurde, war er gewohnt.
Neben seinem Stuhl stand eine schwarze Aktentasche. Ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Buch befand sich darin, Otto Nordenskjölds ‚Antarctic – zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol‘, eine Originalausgabe in norwegischer Sprache. Ein Nachdruck im Militärverlag der DDR war seinem Sohn Christian auf den Fuß gefallen, als er mit vier Jahren in einem seiner berüchtigten Wutanfälle gegen das Bücherregal seiner Großmutter getreten hatte. Sechs Monate lang hatte er es kaum aus der Hand gegeben und sich damit das Lesen beigebracht. Danach hatte er es nicht mehr gebraucht. Er hatte es im Kopf gehabt, Seite für Seite, Wort für Wort. Wie auch viele der anderen Bücher, die er danach gelesen hatte.
Sven wartete auf Kerstin Wendt. Sie hatte ein Treffen gewollt und er ahnte, weshalb. Vor ein paar Monaten hatte er die Nachricht nach Berlin geschickt, dass Ruud Ängström eine Antarktisexpedition plante. Das war für Norwegen, das Land der Polarforscher, zwar nichts Ungewöhnliches, aber Spezialisten für hochenergetische Strahlung, für Ultra- und Infraschall und Astrophysiker gehörten gewöhnlich nicht zu einer solchen Expedition, schon gar nicht, wenn sie dazu extra aus den USA eingeflogen wurden. Es stank nach Waffenforschung und Norwegen war Gründungsmitglied der NATO. Ruud Ängström tat nichts, was nicht Profit versprach und die Entwicklung von Waffen warf jede Menge ab. Er hatte seine Finger in jedem Geschäft, das nur einigermaßen Geld abwarf: Banken, Rüstung, Erdöl, Pharma, Medien.
Auf schlanken braunen Beinen und mit schwingenden Hüften schlängelte sich die junge Bedienung zwischen den Tischen zu ihm hindurch, Sven bestellte einen Kaffee mit extra Zucker und lächelte ihr mit um eine Winzigkeit nach oben gezogenen Mundwinkeln zu.
High Heels trippelten in seinem Rücken, das Geräusch näherte sich, ein Hauch von Kamille wehte ihm in die Nase, zwei Arme schlangen sich von hinten um seinen Hals und weiche Lippen flüsterten an seinem Ohr: „Du schaust anderen Frauen auf den Hintern? Hast du meinen vergessen?“
„Auf die Beine. Sie sind schön.“ Er dreht den Kopf zur Seite.
Kerstin Wendt küsste ihn auf die Wange, warf einen verstohlenen Blick an seinem Kopf vorbei in die Runde, dann nahm sie ihm gegenüber Platz. Sie öffnete ihren hellen Sommermantel und zupfte das Sommerkleid mit den karmesinroten Kamelien darunter über ihren schmalen Knien zurecht. Sie wog knappe fünfzig Kilogramm und war so feingliedrig wie eine Meißner Porzellanpuppe. Mit ihrer kessen Stupsnase, den himmelblauen Augen mit dem gewissen Etwas darin und den rabenschwarzen, seidig glänzenden Locken wirkte sie wie ein junges Mädchen. Doch dort, wo ihre Haare aus der Kopfhaut wuchsen, zeigte sich Grau, um ihren Mund wanden sich winzige Fältchen, gegen die auch Schminke machtlos war und Sven war nicht der Mann, das zu übersehen.
Für eine Sekunde blendete ihn eine Sonnenspiegelung. Es konnte eine Autoscheibe gewesen sein oder ein Fenster, das geöffnet wurde. Er drehte ein wenig seinen Kopf, nicht so weit, dass er direkt in die Richtung blickte, hob dann die Kaffeetasse zum Mund und fixierte aus den Augenwinkeln den vielleicht zwanzig Meter entfernt stehenden Mann mit dem Tirolerhut. Er lehnte an einem Geländer, das einen Anlegesteg von dem Bereich des Kaffees trennte und fotografierte mit einer Kamera mit einem auffallend großen Objektiv zu einer Insel im riesigen Hafenbecken hinüber.
Vielleicht war es nur ein Tourist oder ein Fotograf, der hier nach Motiven für eine Postkartenserie suchte. Möglich, dass er sich gedreht hatte und die Linse des Teleobjektivs die Sonnenstrahlen in dem Sekundenbruchteil gespiegelt hatte, als sie auf ihn gerichtet gewesen war. Nichts weiter als ein Zufall.
Sven senkte die Stimme: „Braucht ihr neue Fotos von mir? Die hättet ihr einfacher in der Botschaft machen können.“
„Dir entgeht auch nichts.“
„Außer dem, was hinter deiner Engelslarve vorgeht.“
„Und du trägst eine Sonnenbrille.“
Er nahm sie ab. Sie studierte ein paar Sekunden sein Gesicht, dann zog sie einen Schmollmund. „Du bist mir immer noch böse. Ich hatte dir gesagt, es ist nicht für die Ewigkeit.“
„Vielleicht hättest du sagen sollen: Es ist für die Katz.“
„Fang bitte nich wieder damit an, ja?! Ich war es, die dir nach dem Tod deiner Frau Halt gegeben hat. Mehr war es nie und das wusstest du. Ich eigne mich schlecht als Mutter und schon gar nicht für einen Jungen, bei dem niemand weiß, ob er als Nächstes aus dem Fenster springen oder dir die Faust ins Gesicht schlagen wird.“ Sie legte kurz die Hand auf seine. „Es tut mir leid.“
Die Kellnerin kam vorbei. Kerstin bestellte einen Schoppen Erlauer Stierblut. Sven zog seine Hand weg. „Schwerer Rotwein bei der Sommerhitze? Kopfschmerzen kennst du wohl nicht, oder?“
„`S gibt wenig, was mir Kopfschmerzen macht. Rotwein gehört nicht dazu.“
„Das ist das Problem,“ sagte er bitter.
„Bist du kältefest?“ Sie schob eine zusammengefaltete Tageszeitung über den Tisch.
„Soweit ich mich erinnere, habe ich in einem anderen Leben, als ich noch Geologe war, meinen Fuß schon einmal auf den Nordpol gesetzt, zusammen mit der Besatzung eines sowjetischen Atom-U-Bootes. Und ich habe dich überlebt. Kältefester geht wohl kaum.“
„Du bist eklig!“ Indigniert verzog sie das Gesicht.
Er setzte seine Sonnenbrille wieder auf und musterte hinter den dunklen Gläsern versteckt, mit seinen Blicken weiter die Umgebung. Der Mann mit dem Tirolerhut wendete ihnen den Rücken zu. Sie sagte: „Wir werden dich in der Botschaft als Kulturattachée ablösen. Du fliegst nach Westberlin, von da aus nach Toronto und dann nach Reykjavik. Dort triffst du Jochen Detjen, einen westdeutschen Seismologen. Das Schaf träumt von einer Rinderzucht in Argentinien. Wir verschaffen sie ihm. Er sieht dir gar nicht mal so unähnlich. Er hat sich für die Expedition beworben und nach unseren Informationen kennt ihn niemand der anderen Expeditionsmitglieder persönlich. Alles, was wir über ihn haben, ist in deinen Unterlagen. Du hast drei Monate mit ihm, um dein Wissen aufzufrischen und alles über ihn zu lernen.“ Unauffällig tippte sie auf die Zeitung. „Der Rest steht in dem Dossier. Bis auf eine Telefonnummer.“
Sie legte eine Hand über ihren Mund, damit niemand von ihren Lippen ablesen konnte und sagte sie leise. Sven zog die Brauen hoch. „Das ist eine Nummer von drüben.“
„Tu nicht so, als wüsstest du von nichts. Du bist ein mieser Schauspieler. Das mit der DDR und dem Sozialismus erledigt sich gerade. Der Eiserne Vorhang wird löchrig und es ist abzusehen, wann er ganz eingerissen wird. Aber für gewisse Leute sind wir wertvoll, du auch, erst recht, wenn du mit Informationen zurückkommst. Der Plan B dafür lag schon lange in der Schublade. Deine Arbeit bei der Expedition ist ein Teil davon.“
„Ihr braucht ein Druckmittel und ich soll es euch beschaffen,“ konstatierte er.
„Nicht ihr, sondern wir! Oder gehörst du nicht mehr zu uns?“ Scharf blickte sie ihn an. „Wir lassen unsere Leute nicht hängen. Ich am allerwenigstens. Bei dem, was zwischen uns war … Auf deinen Sohn wartet ein Studienplatz, wenn er in Kühlungsborn fertig ist. Drüben. Wir werden ihn sogar großzügig finanzieren.“
Sie beugte sich zu ihm über den Tisch und in ihrer Stimme war dunkler Rauch: „Du kommst frühestens in ein oder zwei Jahren wieder. So lange, in der Kälte, ohne Frau, ein Mann wie du … Lass uns an etwas Schönes denken. Nicht nur mein Hotelzimmer wird dir gefallen, versprochen. Und falls du etwas ertränken möchtest – die Zimmerbar ist gut gefüllt.“ Lasziv fuhr sie sich durchs Haar. „Aber erst hinterher ja?“
Wer mit dem Teufel tanzt, muss auch irgendwann die Musik bezahlen. Svens Sohn Christian hatte ihm das an den Kopf geworfen. Er hatte sie vom ersten Moment an durchschaut gehabt. Sven erwiderte: „Timeo Danaos et dona ferentes.“
„Wenn du mir Schweinereien sagen willst, mach es so, dass ich auch meinen Spaß dabei habe.“
„Eine alte Lebensweisheit: Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.“
„Du gibst mir einen Korb?“ Ihre Augen weiteten sich. Enttäuschung und Verletztheit standen ihr ins Gesicht geschrieben. Sven wusste, dass nichts von beidem stimmte. „Tut mir wirklich leid, aber ich habe in zwei Stunden einen Termin mit dem Botschafter.“
Er griff nach der Zeitung, rollte sie nachlässig zusammen und stopfte sie in die Innentasche seiner alten Lederjacke. Ich bin nur keine Marionette mehr, an deren Fäden du ziehen kannst, indem du einfach deine Beine spreizt. Auch wenn sich dazwischen die heisseste Hölle befindet, die sich ein Mann nur wünschen kann. Nur wird sie leider gesteuert von einem eiskalten Verstand, dachte er, öffnete seine Aktentasche und legte das Buch auf den Tisch. „Sorge bitte dafür, dass Christian das bekommt.“
„Aber natürlich.“ Mit einem zuckersüßen Lächeln küsste sie ihn auf die Wange und hauchte: „Danke für den interessanten Nachmittag.“ Dann griff sie nach dem Buch und spazierte davon.

 

4. Vertrieben aus dem Paradies

Das Schnellboot schüttelte sich unter dem Anprall der Ostsee wie ein nervöses Rennpferd vor dem Start. Am hellen Tag hätte seine graue Farbe es so gut wie unsichtbar zwischen den Wellen gemacht. Jetzt, kurz bevor die Sonne hinter den bleigrauen Wolken unterging, war es nur wenig mehr als ein Geist. Vor ein paar Minuten war der Wind auf Nord-Nord-West gesprungen und frischte weiter auf. Die Kronen der Wellen schäumten weiße Wut, Gischt klatschte gegen die niedrige Plexiglasscheibe vor der Steuerkanzel, Spritzer flogen darüber hinweg und Korvettenkapitän Manfred Elsner ins Gesicht.
Er hob den Feldstecher und schwenkte ihn auf den norwegischen Frachter, der knapp eine Seemeile nördlich seine Anker ausgeworfen hatte. Seit drei Tagen lag er mit einem Ruderschaden knapp sechs Seemeilen vor der Küste und wartete auf Ersatzteile aus Oslo. Kein Mensch bewegte sich an Deck. Er setzte das Glas ab und blickte auf den Chronometer neben dem Steuerrad.
„Machen Sie sich etwa Sorgen?“ Mit einem Grinsen unter seinem Seehundschnauzer zog der vierschrötige Steuermann neben ihm den Kopf vor dem nächsten Spritzer ein. Es klang, als wäre er es, der das tat.
„Pff …“ Elsner sah keinen Grund, den erfahrenen Stabsmaat mit dem zu belasten, was ihm durch den Kopf ging. Die Ausbildung hatte härter zu sein als jeder Gefechtseinsatz. Soldaten wurden nicht für den Frieden, sondern für den Krieg ausgebildet und darin, in ihm zu überleben. Krieg war brutal, hinterhältig, machte aus netten Menschen blutrünstige Monster und fand nicht nur wochentags von acht bis siebzehn Uhr statt. Er hielt es für seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Ausbildung die Soldaten so perfekt wie irgend möglich darauf vorbereitete, und dazu mussten sie härter, besser und, wenn es notwendig war, auch brutaler sein als jeder Krieg es sein konnte.
Was hätte der Korvettenkapitän auch dem Stabsmaat antworten sollen? Dass jeder mal einen Fehler machte? Dass irgendetwas in ihm darauf hoffte, dass Oldenburg das endlich einmal passierte? Dass er genau deswegen die Maate Andres und Werner mitgeschickt hatte, um dem Mann das Leben da unten schwer zu machen?
Elsner ärgerte sich, dass in seinem Kopf die Gedanken an Christian Oldenburg mehr Platz einnahmen, als er ihm zugestehen wollte. Einsiedlerkrebs nannten ihn alle hinter seinem Rücken und Elsner konnte sich nicht erinnern, ihn je lachen gehört zu haben. Oldenburg musste man die Worte mit der Zange aus dem Mund ziehen, wenn er sich überhaupt einmal herabließ, mehr als nur Dienstliches von sich zu geben. Wenn andere im Ausgang in die nächstbeste Kneipe einfielen, ging er in die Stadtbibliothek oder setzte sich in den Zug und fuhr nach Rostock und vergrub sich im Schifffahrtsmuseum oder der Universitätsbibliothek. Er mied jeden Kontakt, der über das dienstlich Notwendige hinausging und vielleicht mochte ihn deshalb niemand. Manchmal sieht er mich an, als nähme er Maß für einen Sarg, und dabei bin ich nun wirklich nicht der schlimmste Schleifer in der Truppe, dachte Elsner. So benimmt sich kein Mann in seinem Alter. Etwas treibt ihn vor sich her und es lässt ihn sogar diese mörderische Ausbildung durchhalten. Ich glaube nicht, dass ich wissen will, was das ist.
Ein Brecher traf den Bug des Schnellbootes und drückte ihn tief ins Wasser. Er schlug den Kragen der Wetterjacke hoch. „Halten Sie das Boot auf Position. Ich gehe mal nach hinten.“ Abrupt drehte er sich um und kämpfte sich auf dem stampfenden Boot zum Heck.
„Position halten. Jawoll.“ Den Blick, den ihm der Steuermann mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterherwarf, sah er nicht mehr. Der Korvettenkapitän wusste nur, dass Andres und Werner noch eine Rechnung mit Christian Oldenburg offen hatten. Dass sie damals, nachdem er die beiden zusammengeschlagen hatte, fünf Leute gebraucht hatten, um den tobenden Oldenburg überhaupt zu Boden zu bringen, wusste Elsner nicht. Es interessierte ihn auch nicht.

Er konnte achtundneunzig Meter ohne Luftholen unter Wasser schwimmen, und unverletzt einen Sturz aus fünf Metern Höhe überstehen. Das Gehirn, mit dem ihn seine Mutter in die Welt entlassen hatte, war zu mehr in der Lage, als nur im Dunkeln den Weg zur nächsten Toilette zu finden. Zum Denken, zum Beispiel und auch dazu, Vertrauen in das zu haben, was er selbst herausfand. Eine Nacht genügte ihm, ein Buch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke zu lesen, ohne das es der Unteroffizier vom Dienst mitbekam, und der Tag, um zu verstehen, was der Autor hatte nicht in Worte gießen dürfen und deshalb zwischen den Zeilen versteckt hatte. Für die Quantenmechanik hatte er etwas länger gebraucht. Immerhin hatte er sie verstanden. Er wusste, welche Prozesse bei der Detonation eines Kernsprengkopfs abliefen und warum das Butterbrot beim Herabfallen immer auf der falschen Seite landete.
Was er nicht wusste, war, warum man die wirklich wichtigen Dinge ohne ihn diskutierte: Ob die rothaarige Schöne, die in der Kneipe an der Kaserne aushalf, Strümpfe trug oder ob es Strumpfhosen waren und ob sie die aus dem Westen bekam; wie man sie dazu bringen konnte, ihre endlos lang scheinenden Beine in einer dunklen Ecke breitzumachen und wie man am besten eine Pulle Wodka in die Kaserne schmuggeln konnte, ohne von der Wache erschossen zu werden, oder in den Bunker zu wandern.
Zu sagen, dass es ihn nicht störte, wäre eine Lüge gewesen. Es war das kleinere Übel, das, bei dem er sich nicht zum Affen machte. Er blickte lieber auf eine auf ihn gerichtete Kalaschnikow als in die Augen eines Mädchens, denn bei der Maschinenpistole wusste er, was in ihr vorging, wenn der Abzug gedrückt wurde.
Doch wenn er auf dem Weg zum Bahnhof und zur nächsten Bibliothek an der Kneipe nahe der Kaserne vorbeikam und die Schöne draußen bediente, passierte etwas in seinem Körper, das er nicht verstand, und er beschleunigte seine Schritte. Erst recht, seit er sie in Rostock in einem kleinen Kaffee gesehen hatte, zusammen mit einem weit älteren Mann. Christian hatte sich ein paar Tische weiter gesetzt und beide beobachtet. Sie hatten nicht wie ein Liebespaar ausgesehen, auch nicht wie alte Bekannte. Eher, als würde sie etwas berichten und der Mann sich nach Details erkundigen. Ihre ganze Körpersprache hatte gewirkt, als wäre er ihr Chef und sie erstattete ihm Bericht. Wie ein mentaler Geruch hatte etwas zu Christian herübergeweht und es hatte ihn an seinen Vater erinnert und an die Art und Weise, wie der sich auf den neuesten Lebensstand seines Sohnes bringen ließ, wenn er nach seinen langen Dienstreisen wieder einmal zu Hause vorbeischaute.
Wer den Wolf scheut, soll nicht in den Wald gehen. Wie eine gleißende Messerspitze bohrte sich der Satz in seine Gedanken und hätte es sein Mundstück nicht verhindert, hätte er das getan, was Elsner noch nie gesehen hatte: Er hätte aufgelacht, wenn auch bitter. Es war einer der Lieblingssprüche seines Vaters und Christian erinnerte sich an seine letzte Begegnung mit ihm.
Der Besucherraum, gleich hinter dem Wachgebäude der Kaserne in Kühlungsborn, hatte bestialisch nach kaltem Zigarettenrauch gestunken, obwohl die Fenster geklappt gewesen waren. Der Mief von Caro und F6 hatte sich in die Wände gefressen, war aus jedem Winkel hervorgedünstet und hatte das Atmen schwer gemacht. Ganze Armeen von Müttern, Vätern, Ehefrauen und Geliebten hatten hier schon gewartet und vor Nervosität eine Kippe nach der anderen gequalmt. Sie hatten gewartet auf den Moment, in dem der Sohn, der Geliebte, der Vater endlich in der Tür stand für eine Stunde Zweisamkeit, ein paar Umarmungen und viel zu wenig Küsse.
Draußen waren Kommandos gebrüllt worden, Stiefel hatten auf Pflastersteinen getrampelt, dann war da ein nicht ganz synchrones, aber unverwechselbares metallisches Klicken gewesen: Magazine, die in Kalaschnikows eingesetzt worden waren und einrasteten. Ein weiteres Kommando, diesmal laut genug, dass er es verstanden hatte: Im Gleichschritt – Marsch! Wieder hatten Stiefel getrampelt, diesmal im Gleichschritt, das Geräusch war leiser geworden und verklungen. Die neue Objektwache war aufgezogen.
Er hatte sich seinem Vater gegenüber auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches gesetzt und die Hände flach auf die Oberschenkel gelegt. „Moin“, hatte er gesagt. Mehr nicht, dann hatte er seine Augen auf die weißgekalkte Wand ein paar Zentimeter über dem Kopf seines Vaters gerichtet.
„Entspann dich,“ sagte sein Vater. „Oder musst du einen Befehl dazu haben? Wie geht es dir?“
„Brauchst du die Information für den Bericht über dieses Gespräch?“
„Höflich und freundlich wie immer.“ Sein Vater hob die Hände, dann ließ er sie auf den Tisch fallen. Vielleicht hatte er gehofft, dass die Zeit tatsächlich Wunden heilte. „Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Einen Namen?“
„Sei nicht albern.“ Sein Vater holte die zusammengerollte Fotokopie einer Karte aus seiner Aktentasche und breitete sie auf dem Tisch aus. Er ließ sich Zeit dabei. „Die Karte des Piri Reis. War nicht einfach, sie zu besorgen. Es ist eine exakte Kopie des Originals aus dem Topkapi, dem Palast des Sultans in Istanbul. Da liegt es unter Glas. Panzerglas wahrscheinlich. Sie ist ein Mysterium. Genau das, wovon du nicht genug kriegen kannst. Nahrung für deinen Kopf.“ Er lachte, aber es klang nicht echt. „Damit du nicht so viel grübelst.“
„Ich habe Grund dazu.“
„Du hast Grund, endlich erwachsen zu werden!“
Die Karte rollte sich mit einem leisen Geräusch wieder zusammen.
„Ich hatte wirklich gehofft, dass du hier zu Verstand kommst.“ Sein Vater knurrte wie ein bissiger Wolf.
„Der funktioniert bestens. Ist nicht so verklebt wie bei anderen.“
„Ich bin eigentlich nicht hergekommen, um mir von dir Frechheiten anzuhören!“
„Natürlich nicht. Du hoffst immer noch, dass mich irgendjemand wieder … geradebiegt. So hast du es damals genannt, nicht? Du kennst mich wirklich nicht. Wie solltest du auch …“
Zornrot im Gesicht, atmete sein Vater zwei, dreimal unüberhörbar. Noch vor ein paar Jahren wäre jetzt ein Wutausbruch fällig gewesen, doch den Teil hatten sie hinter sich gebracht. Es war der Tag gewesen, an dem Christian erfahren hatte, dass sein Vater weder ein Handelsvertreter noch ein Forschungsreisender war und dass er Marx, Lenin, das Parteiprogramm und die Dienstanweisungen aus Berlin lieber las als Kant, Nietzsche, Heine, Novalis, Lem und Reiseberichte, vorzugsweise über Arktis und Antarktis, wie es Christian tat.
„Das hier …“ Sven schwenkte die Arme, „hätte deine Mutter nicht gewollt. Wenn du dem Licht nicht vertraust, dann such nicht im Dunkel nach Halt!“
„Leg ihr nichts in den Mund!“ Mit aller Kraft bezwang Christian die rote Flut, die gegen den Damm in ihm brandete, Spritzer flogen schon über die Dammkrone. „Lass es einfach! Lass es, hörst du? Ihr könnt den Amis die Konstruktionsunterlagen für ihr Spaceshuttle stehlen, aber bei einer in Berlin auf offener Straße vergewaltigten und erwürgten Frau fällt euch nichts Besseres ein, als ein sechzigjähriger Triebtäter, der in seiner ersten Nacht in Freiheit nach zwanzig Jahren gleich wieder über eine Frau herfällt und dann auch noch zufälligerweise auf der Flucht erschossen wird? Der hätte doch nicht einmal mehr einen hochgekriegt! Ein Hungerhaken von knapp einen Meter siebzig? Der soll ihr drei Rippen gebrochen und die Wangenknochen zerquetscht haben? Soll ich dir ausrechnen, wie hoch der Druck dafür in Kilogramm pro Quadratzentimeter sein muss? Das war damals schon Kinderkacke und sie stinkt heute noch genau so, weil sie keiner weggeräumt hat. Das war ein Zweimetermann, mit dem sogar ich meine Probleme hätte. Wie oft willst du diese Diskussion noch mit mir führen?!“ Seine Wut zu bezwingen, kostete ihn mehr Kraft, als er gebraucht hätte, den Tisch umzuwerfen. Niemand brachte in der DDR die Frau eines Stasioffiziers um, ohne dass man die genauen Hintergründe herausfand, und auf der Flucht erschossen war das genaue Gegenteil davon.
Sanft fragte sein Vater: „Fehlt sie dir immer noch so sehr?“
Du fehlst mir! Blutrot waberte es vor Christians Augen hoch wie die Flamme aus einem Benzintank. Doch den Schrei brachte er nicht über die zusammengepressten Lippen. Stattdessen ballte er die Faust und ließ sie auf die Tischplatte krachen.
„Na sowas“, knurrte er und zog, und als sei nichts gewesen, einen Holzsplitter aus der Haut über seinem Mittelfingerknöchel. „Aber das interessiert dich ja nicht. Den zweiten Teil können wir uns dann sparen. Immer noch: die Stasi oder ich. Du wirst dich entscheiden müssen.“
„Du bist so ein sturer …“ Scheinbar ungerührt nahm sein Vater einen Kugelschreiber aus der Innentasche seiner Lederjacke und schrieb etwas in sein kleines Notizbuch. Dann riss er den Zettel heraus und schob ihn an dem Loch vorbei, das Christians Faust hinterlassen hatte, über den Tisch. „Ich werde wohl eine Weile nicht mehr kommen können … Ruf die Nummer an, wenn du Hilfe brauchst. Yuri ist kein Freund, aber er wird helfen, wenn er es kann.“
Ohne ihn noch einmal anzusehen, war Christian hinausgegangen. Den Zettel und die Karte hatte er mitgenommen.

Er blickte auf den fluoreszierenden Zeiger des Kompasses an seinem rechten Handgelenk und berechnete den Kurs neu. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein, eingebrannt durch ihm unendlich scheinendes Training, führte der Auftrag Regie. Getrieben von den Bewegungen seiner flossenbewehrten Beine, schoss er durch die flüssige Unendlichkeit. Wie schützender schwarzer Samt schmiegte sich das Wasser an ihn, oben und unten waren ebenso sinnentleerte Worte wie Schwerkraft, Zeit, Mädchen und sogar der Tod. Das Leben war hier entstanden und tat es noch immer, jeden Tag aufs Neue in der schützenden Fruchtblase von Millionen Müttern auf der ganzen Welt.
Doch es war ein Ticket ohne Rückfahrkarte, die Geborgenheit hier unten war nur eine geliehene. Er würde hier immer nur der Fremde sein, der seine Vertreibung aus dem Paradies nicht akzeptieren wollte. Waren die Flaschen auf seinem Rücken entleert, zerriss die silberne Perlenkette seiner Atemluft über ihm wie eine durchtrennte Nabelschnur, das Elysium schloss seine Pforten und er musste zurück zu den Menschen.
Den ersten Teil der Aufgabe hatte er erfüllt und noch für fünfundvierzig Minuten Luft in den Flaschen. Er wusste, dass es für ihn mehr als genug war, um das Boot zu erreichen, auch wenn er stärker gegen die Grundströmung anschwimmen musste, als er erwartet hatte. Es war nicht so einfach gewesen, wie er gehofft hatte, aber was war schon einfach, dreißig Meter unter der Wasseroberfläche bei fast völliger Finsternis?
Hinter ihm flammte der Handscheinwerfer eines der anderen beiden Taucher auf und leuchtete den Meeresgrund an. Christian warf einen kurzen Blick auf die Zeiger seines Kompasses, schaltete auch seinen Handscheinwerfer ein und ließ sich nach unten sinken, um die Abdrift über Grund zu schätzen. Die Strömung war stärker geworden und er damit um einiges vom Kurs abgekommen. Er verbrauchte bereits die Luft aus der zweiten Flasche auf seinem Rücken – das hatte er erwartet. Ging ihm die Atemluft aus, konnte er zwar immer noch an der Oberfläche zurückschwimmen, aber das hätte ihn die Erfüllung des Trainingsziels gekostet. Das war keine Option. Außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass es gut wäre, noch eine Reserve zu haben, für den Fall, dass der Korvettenkapitän sich etwas dabei gedacht hatte, ihm ausgerechnet Andres und Werner zur Sicherung mitzugeben. Angst hatte er nicht, unter Wasser focht man keine Kämpfe aus, das konnte schnell tödlich ausgehen. Aber er ahnte, dass sie sich eine Schweinerei ausgedacht hatten.
Er korrigierte den Kurs um ein paar Grad nach Südost. Den Scheinwerfer ließ er jetzt eingeschaltet. Er hatte sich auf dem Hinweg jeden Stein, jede Felsformation genauestens eingeprägt. Doch in den nächsten Minuten schwamm er über nichts anderes als Sand, nur hier und da unterbrochen von ein paar flachen Felsen, die nicht auf der Karte verzeichnet gewesen waren, und er korrigierte den Kurs noch einmal nach Südost, diesmal deutlich. Wie Pilotfische ihrem Hai folgten ihm die beiden anderen Taucher.
Das Licht seines Handscheinwerfers schälte eine angerostete Antriebsschraube und einen Teil eines schlanken Metallzylinders aus der Dunkelheit. Das vordere Ende steckte im Schlick und an seinem Heck ragte ein stromlinienförmiger Behälter mit einer rückwärtigen Austrittsöffnung nach oben.
In seinem Nacken meldete sich ein Kribbeln. Selten, aber immer noch häufig genug stießen Taucher in der Ostsee auf Überbleibsel aus dem Weltkrieg und für das, was in einem solchen Fall zu tun war, gab es ein festgelegtes Protokoll. Nur wirkte das, was aussah wie das Heck eines Torpedos, nicht, als hätte es fünfundvierzig Jahre im Wasser gelegen. Ohne jeden Bewuchs oder Muschelbefall ragte es aus dem Schlick. Entweder lag es erst seit kurzem hier oder etwas hatte verhindert, dass sich Unterwasserleben auf dem angerosteten Metall ansiedelte.
Mehr als ein kurzes Handzeichen, das fünf Minuten bedeutete, brauchten die beiden Männer hinter ihm nicht. Sie hatten Erfahrung bei der Bergung von Blindgängern, er nicht. Er hielt seine Position und sicherte, während die beiden einen großen Bogen schwammen. Sie mussten den Torpedo gegen die Grundströmung anschwimmen, wollten sie nicht riskieren, dass der Druck des strömenden Wassers sie gegen die Waffe trieb.
Extrem vorsichtig, ihre Position mit genau abgemessenen Flossenschlägen haltend, trugen sie den Schlick ab, bis das Vorderteil des Torpedos sichtbar wurde.
Die fünf Minuten waren um. Er gab den beiden ein Handzeichen, aber sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es nicht bemerkten. Für einen Augenblick schien ihm, als würde das Wasser um sie herum dunkler werden, aber es konnte eben so gut auch eine Täuschung gewesen sein, die durch die Bewegung der Handscheinwerfer entstanden war.
Er wollte gerade seine Position verlassen, da hoben die beiden Taucher die Köpfe und sahen zu ihm herüber. Mit leichten Flossenschlägen hielten sie ihre Position über dem Torpedo. Er bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, leuchtete ihn sogar noch an, damit sie ihn sehen konnten, und fragte so, ob alles okay war – sie reagierten nicht. Er wiederholte die Frage und bekam immer noch keine Reaktion. Wie Roboter verharrten sie an ihrer Position.
Gerade in dem Moment, als er sich entschloss, doch zu ihnen zu schwimmen, erwachten sie aus ihrer Erstarrung. Ohne, dass er bemerkt hätte wie, wie sie sich verständigt hatten, rissen sie gleichzeitig ihre Tauchermesser aus der Scheide an der Wade, ihre Flossen wirbelten und wie Torpedos, deren Sensoren ein Ziel erfasst haben, schossen sie auf ihn zu.

Elsner stand schon wieder neben dem Steuermann, als das rote Notsignal in den Himmel schoss. Er riss das Fernglas hoch, aber mehr als die verglimmende Spur am Himmel sah er nicht. Nur eine halbe Seemeile entfernt davon leuchteten die Positionslichter des norwegischen Frachters. An Bord gingen Lampen an und Elsner sah Gestalten umherhuschen und ein Schlauchboot fertig machen.
Er malte mit den Kiefern, als bisse er auf eine Nuss. Seine Gedanken rasten. Der Einsiedlerkrebs macht keine Fehler, dachte er immer wieder. Er kann doch nicht … Oder haben sie übertrieben? Hätte ich sie doch nicht dafür einteilen sollen?
Mit einer entschlossenen Bewegung setzte er das Glas ab. „Los! Volle Kraft! Alles, was wir haben.“
Er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da schob der Steuermann schon den Fahrtregler nach vorne. Die mächtige Maschine riss den Bug des Schnellboots aus dem Wasser und ließ es in den nächsten Wellenberg eintauchen. Ein Brecher krachte gegen den Rumpf, dann noch einer und noch einer – das Boot nahm Fahrt auf.

 

 


Verfasst 2. Mai 2023 von Rainer Sonnberg in category "Was ist das hier?

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