Modafinil

Aufgrund der stimulierenden Wirkung wird Modafinil auch als „Cognitive Enhancer“ missbraucht. Umgangssprachlich wurde hierfür der Begriff „Hirndoping“ geprägt. Gesunde Menschen nehmen das Mittel in der Erwartung ein, ihre geistige Leistungsfähigkeit zu steigern und Müdigkeitszustände zu überwinden. Modafinil wurde vom US-amerikanischen Pharmaunternehmen Cephalon entwickelt und wird seit 1992 auch in Europa vermarktet. Wie Modafinil im Gehirn wirkt, ist noch nicht gänzlich geklärt. Als gesichert gilt, dass es die Konzentrationen der Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Serotonin in verschiedenen Hirnregionen erhöht. Daneben stimuliert es offenbar Nervenzellen, die so genannte Orexin-Rezeptoren aufweisen. Die dauerhafte Einnahme bleibt nicht ohne Folgen. Es wird von Patienten berichtet, die an plötzlichen Angstzuständen, Depressionen, Manien und Halluzinationen litten und Suizidgedanken äußerten.

Es war nicht so, dass Andreas das nicht gewusst hätte. Die wenigen Beipackzettel, die er je in seinem Leben vor Augen gehabt hatte, hatte er mit der gleichen stirnfurchenden Sorgfalt gelesen, mit der er auch die Auszüge seiner Konten studierte. Er war nicht der Typ, der sich umbrachte. Er war ein Kämpfer und die Waffe in seinem Arsenal, die er brauchte, um zu gewinnen, war Modafinil. Doch Aelita hatte den Schlüssel für die Waffenkammer und sie gab ihn nicht heraus.
„Warum nicht mehr?“, fragte er sie wütend.
Sie sah ihn über den Küchentisch hinweg so ruhig an, als würde sie den tobenden Zorn in ihm nicht spüren. „Weil ich dich liebe. Erst macht es dich süchtig, und dann bringt es dich um.“

„Ganz mieses Timing. ‚Liebe‘ ist deine Antwort auf alle Probleme. Sie bringt mir kein Geld auf die Firmenkonten und macht uns nicht satt. Ich bringe es dorthin, wenn ich nur noch eine Woche durchhalte. Du bist Arzthelferin, du kannst mir das Medikament wieder besorgen. Also tu es, verdammt noch mal! Für uns!“ Viel zu laut hatte er gesprochen, zum ersten Mal, seit sie bei ihm eingezogen war. Es machte ihn nur noch wütender.
Sanft erwiderte sie: „Nein. Und fluche bitte nicht.“
Er sprang auf. Der Stuhl hinter ihm polterte zu Boden. Er stützte die Hände auf die Tischplatte und schrie: „Ich fluche, wenn mir danach ist. Für wen schufte ich denn bis zum Umfallen? Doch nicht für mich, sondern für uns, für unser Glück! Was daran ist so schwer zu verstehen?“
„Für Glück brauchen wir kein Geld. Glück ist das Billigste auf der Welt, was es gibt. Es will nur gefunden werden und nirgendwo anders als in uns selbst.“
Er starrte sie an und starrte … und starrte … Sie rührte sich nicht und auch ihr schmales Gesicht war ruhig und beherrscht, wie er es nie anders bei ihr erlebt hatte. Außer in ihren Nächten, wenn es vor wilder Leidenschaft glühte und ein überirdisches Feuer darin zu brennen schien. Niemals in den vergangenen sechs Monaten ihres Zusammenlebens war Aelita laut geworden. Stets hatte sie ruhig und besonnen mit ihm geredet und sich durch nichts aus der Ruhe bringen lassen. Ihr schmales Gesicht mit den viel zu großen, goldbraunen, immer wie erstaunt blickenden Augen und den langen schwarzen Haaren furchte trotz ihrer vierzig Jahre nicht die geringste Falte. Es war, als würde die Zeit einen Bogen um sie machen. Sie trug am liebsten grellbunte Röcke, die ihn immer ein wenig an eine Zigeunerin erinnerten. Ließ sie sie fallen, kam darunter ein makelloser Körper zum Vorschein, der auch hätte einer Sechzehnjährigen gehören können. Was sie mit diesem fast androgynen Körper mit den kaum vorhandenen Brüsten und dem winzigen Becken tun konnte, war alles andere als kleinmädchenhaft. Mit ihr zu schlafen war für ihn wie Sex von einem anderen Stern. Nein, eigentlich war es kein Sex, es war fast schon so etwas wie eine spirituelle Erfahrung. Sie war zum Hafen im Auge seines Lebenssturms geworden, in dem er immer wieder hatte einlaufen können. Doch jetzt tobte ein Orkan in seinem Leben, der alles niederreißen konnte, wofür er gearbeitete hatte. Er brauchte mehr als eine sichere Zuflucht. Und vor allem brauchte er nicht ihren ewigen Sanftmut, an dem alles, was er ihr entgegenwarf, abprallte wie die Zeit von ihrer Samthaut.

Es gab etwas in ihrem Blick, dem er nichts entgegenzusetzen hatte, ja, das sogar verhinderte, dass er die Augen senkte und als er schon glaubte, sie würde gar nicht mehr antworten, sagte sie mit einem seltsamen Singsang in der Stimme: „Zuerst wirst du denken, du hättest Halluzinationen.“
„Wie bitte?“
„In wenigen Stunden wirst du Dinge sehen, riechen, schmecken und Geräusche hören. Und du wirst zu wissen glauben, dass sie nicht real sind. Dann werden dich schwere Muskelkrämpfe quälen, zuerst in der linken Hand, dann im ganzen Arm und du wirst das Gefühl haben, dass du von innen verbrennst.“
Jetzt verstand er, dass sie die Wirkung des Aufputschmittels meinte. Er höhnte: „Kommt noch mehr?“
„Natürlich. Dein Herz wird aussetzen und du wirst sterben, falls nicht rechtzeitig ein Arzt kommt.“
„Quacksalberin!“ Er war so müde, dass er sich kaum noch auf den Beinen halten konnte, trotzdem setzte er sich ins Auto und fuhr vor ihrem verzeihendem Lächeln davon, irgendwohin, einfach nur weg.

***

Fast zwei Stunden später saß er auf seinem Lieblingsstein am Strand von Börgerende-Rethwisch und sog mit jedem Atemzug Luft wie süßes Blei mit einer Beimischung von ein wenig Meeressalz in seine Lungen. So bitterherb schmeckte die Luft nur hier an der Ostsee und nur an einigen wenigen, ganz besonderen Abenden im Jahr. Der Duft erinnerte ihn daran, dass manche Gefühle nicht nur eine Farbe, sondern auch einen Geschmack und einen Geruch besitzen.
Er hatte sein Gesicht vor Aelita verloren und das Wissen darum machte ihn nur noch wütender. Er hätte sich lieber die Zunge abgebissen, als irgendjemanden in dieser Welt um Verzeihung zu bitten. Gerade sie nicht, denn um Entschuldigung zu bitten, war ein Zeichen von Schwäche für ihn und wie hätte eine Frau wie sie einen schwachen Mann lieben können?
Das Leben war kein Ponyhof und er hatte ein Geschäft zu retten, das kurz vor dem Bankrott stand. Sie wusste nicht, dass er sich ihretwegen auf das riskante Unternehmen mit den Ukrainern eingelassen hatte und er würde es ihr auch nie erzählen. Ihr Gerede von „sich Zeit nehmen“ und „innerer Energie“, die ihm verlorenging, konnte er, wenn es gut ging, dann mit einem Lächeln abtun, denn beides würden sie haben. Im Moment nervte sie ihn nur. Wenn es einen Gott gab, hatte er vor den Preis den Schweiß gesetzt und sie tat so, als wüsste sie es nicht. Er hielt sie für eine außergewöhnlich kluge und gebildete Frau und er verstand nicht, dass sie ihm im einundzwanzigsten Jahrhundert noch mit irgendwelchem esoterischen Mist kam. Keine der weißen Hexen aus ihren alten Büchern würde kommen und seine tiefroten Bankkonten auffüllen. Er wollte ihre Engelsgeduld nicht, ihre ewig währende Verzeihung und ihren Heiligenschein. Er wollte, dass sie an seiner Seite mitzog, ihn in diesem Kampf nicht allein ließ! Doch er war sich sicher, dass sie nichts davon verstanden hatte.
Das Atmen fiel ihm schwer. Gedankenlos öffnete er die kleine weiße Dose und nahm die letzte Tablette. Der Stein unter seinem Po hatte die Sonnenstrahlen gespeichert und sandte sie als Wärme über das Rückgrat an sein Gehirn. Sein Herz wollte sie wieder in Licht verwandeln, doch er hörte es nicht. Er ließ die Beine ins Wasser baumeln und wartete darauf, dass die Wirkung der Droge einsetzte.
Seiner Großmutter hatte in so einem armseligen Fischernest gelebt. Oft war er in den Ferien bei ihr gewesen. An Abenden wie diesen hatte sie ihm gesagt: „Wenn die Luft dir schwer wie Blei auf die Brust drückt und die Sonne blutrot das Wasser berührt, darfst du niemals an den Strand gehen!“ Ohne es zu erklären, hatte sie dann mit besonderer Sorgfalt das Haus verschlossen. Noch bei Tageslicht hatte sie die Fensterläden zugeklappt und penibel überprüft, dass alle Riegel in ihren Halterungen eingerastet waren. Als hätte sie Angst gehabt, dass etwas Böses dem Meer entsteigen und in ihr Haus eindringen könnte.
Tatsächlich zeigte der Rand der Sonne, der eben begann in den Fluten der Ostsee zu verschwinden, ein so intensives Blutrot, wie er es noch nie gesehen hatte und er fragte sich, vor welcher uralten Legende seine Großmutter wohl Angst gehabt haben mochte. In den Nächten im Jahr, in denen sie sich so seltsam verhalten hatte, kreuzten große Meteoritenströme die Umlaufbahn der Erde, im November die Leoniden und heute waren es die Sternschnuppen der Perseiden, die glühende Spuren im nächtlichen Himmel hinterlassen würden. Die Christen nannten sie „die Tränen des Laurentius“ und wer eine solche Sternschnuppe sah, hatte angeblich einen Wunsch frei. Er lächelte bitter. Wenn es denn so einfach wäre, dachte er, dann hätte ich gerne wieder schwarze Zahlen auf dem Firmenkonto.
Mittlerweile war es merklich dunkler geworden, eine erste, feurige Spur, Vorbote des mächtigen Stroms der Perseiden, zog über den Himmel. Er sah keine Menschenseele mehr am Strand, urplötzlich schienen alle Urlauber verschwunden zu sein und da, wo eben noch die Fischerboote vom Fang heimgekehrt waren, glänzte das Meer wellenlos wie blutrotes Silber. Etwas schien in der Luft zu liegen, undefinierbar, nicht greifbar und doch so präsent, dass ihm ein Schauder den Rücken hinunter rann. Die Sonne versank im Meer, die Dämmerung zog herauf, mit ihr kam eine Brise kalter Luft und er hörte seine Großmutter rufen: [i]Flieh, lauf weg, bevor es zu spät ist![/i] Über ihm krächzte ein Rabe. Der schwarze Vogel flatterte direkt über seinem Kopf und sein Geschrei war der einzige Laut, den er noch hörte. Selbst das Rauschen der Wellen war verschwunden.

Er stand auf, musste sich dazu mit der Hand am Stein abstützen und ärgerte sich über seine Schwäche. Er lebte im einundzwanzigsten Jahrhundert, und die Zeit der Legenden und der Ungeheuer – wenn es sie denn einmal gegeben hatte – war längst vorbei. Nicht weit entfernt sah er eine alte Frau an einem Stock den menschenleeren Strand entlang humpeln. Manchmal bückte sie sich, hob etwas auf, betrachtete es und ließ es dann wieder fallen. Immer näher trottete sie, bis sie schließlich an seinem Felsen anlangte. Ihr schwarzer Rock aus einem schweren, samtartigem Stoff mochte vor einigen hundert Jahren einmal modern gewesen sein, und das ausgeblichene Leinenhemd, dass sie darüber trug, besaß altertümliche Verschnürungen statt Knöpfen und war so voller Wasserflecken, als hätte sie eben damit gebadet. Weiße, zu einem Zopf geflochtene Haare hingen ihr über die Schulter und reichten fast bis zum Boden. Ihre ledrige Gesichtshaut war voller Runzeln und kleiner und großer Altersflecken.
Sie stützte sich mit beiden Händen auf ihren knotigen Stock und hob den Kopf. Krächzend und stotternd, als hätte sie ihre Stimme lange nicht mehr benutzt, fragte sie: „Habt Ihr vielleicht ’nen Bernstein gesehen?“
Dabei funkelte sie ihn mit Augen an, die viel zu klar und scharf für so eine alte Frau waren. Ihr Blick ging ihm unter die Haut und ließ ihn frieren. „Bernsteine sammelt man am Morgen, nach einem Sturm, alte Frau“, antwortete er.
Sie lachte keckernd. „Das denkt ihr feinen Herren aus der Stadt alle. Die Tränen des Meeres muss man sammeln, wenn sie vergossen werden. Sie werden abends geweint. Drum bin ich hier.“ Sie neigte ihren Kopf ein wenig zur Seite, schaute ihm ins Gesicht, und ein einziger, senfgelber Schneidezahn grub sich dabei in ihre Unterlippe: „Wie Ihr. Warum heult Ihr, junger Herr?“
„Bitte? Ich weine ja wohl nicht. Ich bin hier, um den Sonnenuntergang zu genießen. Das hast du mir gerade verleidet, alte Frau.“
Sie keckerte wieder. „Ja, wenn Ihr meint. Aber der Sonnenuntergang ist vorbei und die Tränen des Laurentius rinnen bereits über das Himmelszelt. Schaut hin!“
Mit einem vor Dreck starrenden Finger zeigte sie zum Himmel und tatsächlich raste eine Sternschnuppe über das Firmament und hinterließ dabei eine feurige Spur. Sie ließ sich auf die Knie sinken, richtete sich ächzend wieder auf und hielt etwas gelb glänzendes, Hühnereigroßes vor sein Gesicht. „Ich hab‘ doch gesagt, Ihr heult. Ein schöner großer Bernstein ist das!“
Mit offenem Mund starrte er auf ihre Hand und wollte es nicht glauben. „Du verarschst mich!“
Sie packte mit erstaunlicher Kraft seine Hand, patschte den Bernstein hinein und ein stechender Schmerz fuhr durch seinen linken Arm. „Ihr Menschen übertölpelt euch immer nur selbst. Geht zu der alten Hintze, sie macht Euch daraus eine schöne Kette für Euer Weib.“ Sie beugte ihren Kopf ganz nahe zu ihm, ihre Augen schienen von innen zu leuchten und ihr Geruch nach Tang und Meer nahm ihm den Atem. „Ihr habt eine Träne des Laurentius gesehen und so habt Ihr einen Wunsch frei. Was wünscht sich der feine Herr?“
Lauernd sah sie ihn an und er lachte sie aus. „Du kannst Wünsche erfüllen, alte Hexe? Nur zu, aber von Bankkonten wirst du keine Ahnung haben und was es bedeutet, wenn man aus den roten Zahlen herauskommt. Also bring mir Glück, Alte! Ein kleines bisschen Glück, weiter will ich nichts!“
„Welch einfacher Wunsch. Es hat doch schon bei Euch gewohnt, Ihr wahrt nur zu blind, es in Eurem Eigendünkel zu sehen. Aber so sei es – er sei Euch gewährt.“
Sie sank in sich zusammen und wandte sich um. Doch als wäre ihr etwas eingefallen, drehte sie sich noch einmal zu ihm herum. „Ihr habt hier nichts verloren. Schert Euch zu dem Weib, das Euch liebt. Es wartet schon viel zu lange auf Euch. Eure Großmutter war klüger als Ihr!“ Sie trottete davon und murmelte dabei vor sich hin: „Die Menschen werden sich nie ändern …“
Einen Moment schaute er ihr noch hinterher, dann wandte er sich ab und machte sich auf den Heimweg. Mühsam stapfte er durch den Sand und jeder Schritt fiel ihm schwerer als der vorhergehende. Seine linke Hand war zur Faust geballt, ein Krampf verhinderte, dass er sie öffnete und sein ganzer Arm brannte wie Feuer.

Auf der Dünenkrone blickte er noch einmal zurück und erstarrte. Die Abenddämmerung war weit fortgeschritten, die Fischerboote kehrten von ihrem Fang heim und neben dem Stein, auf dem er eben gesessen hatte, spielten Kinder am Wasser, als wären sie die ganze Zeit da gewesen.
Die Beine gaben nach unter ihm und er brach zusammen. Auf den Knien versuchte er, seinen Wagen und das Telefon dort zu erreichen. Er schaffte noch ein paar Meter, dann wurde ihm schwarz vor Augen. Sein Herz hämmerte in wilden Schlägen gegen die Rippen, ein wildes Feuer schien ihn von innen zu verbrennen und sein Bewusstsein setzte aus.
Ein spitzer Schmerz explodierte zwischen seinen Zehen, raste seinen Körper hinauf und zerbarst zu einer Funkenkaskade hinter seinen Augenlidern. Dann war da ein leises Schimpfen: „Ich hätte nicht so lange warten sollen. Das ist keine Haut mehr, das ist eine Panzerplatte!“

Dann noch eine Funkenkaskade, diesmal von seinem anderen Fuß und schließlich zwei von seinen Schienenbeinen. Er fühlte zwei sanfte Hände, die erst seinen Nacken und dann seine Stirn massierten und er hätte sie unter Milliarden anderer erkannt. Dann wieder die Stimme: „Ich habe dir ein paar Nadeln gesetzt. In ein paar Minuten sollte es dir besser gehen.“
Er kämpfte gegen die Tonnengewichte auf seinen Augen, und als er sie endlich besiegt hatte, blickte er in Aelitas schmales, ein wenig sorgenvolles Gesicht. Er lag in seinem Wagen auf dem heruntergeklappten Beifahrersatz, es war fast dunkel draußen, hinter den Dünen rauschte das Meer, wie es das seit Millionen von Jahren getan hatte und irgendwie beruhigte ihn dieser Gedanke. „Woher …“ Er brach ab, ohne die Frage auszusprechen. Seine Stimme wollte nicht so wie er.

Sie schaute ihn mit einem dieser langen Blicke an, die er einmal gehasst hatte, weil sie ihm unter die Haut gingen. „Ich weiß immer, wo du bist. Und ich weiß immer, wann du mich brauchst.“
Was auch immer ihre Antwort bedeuten sollte – er verstand sie nicht. Sein Körper hatte ihn im Stich gelassen. Er war so sehr am Ende seiner Kräfte gewesen, dass seine Erschöpfung und die heiße Sonne Halluzinationen hervorgerufen hatten und sein Kreislauf zusammengebrochen war. Er hasste sich dafür. Er hasste seinen Körper, er hasste seinen Kopf und fragte sich, wie er nur so schwach sein konnte. Jetzt lag er hier in seinem Wagen wie ein hilfloses Baby und musste sich von der Frau versorgen lassen, die er liebte, obwohl er es doch war, der sich um sie zu kümmern hatte.
Mit einem leisen Lächeln hatte Aelita ihn beobachtet, als wüsste sie, was in ihm vorging. Sie strich ihm eine schweißnasse Haarsträhne aus der Stirn, dann erhob sie sich aus ihrer knienden Stellung neben ihm und schloss leise die Beifahrertür. Auf der anderen Seite stieg sie wieder ein.
Er drehte den Kopf. Etwas in ihm verlangte, dass er sie keine Sekunde aus den Augen ließ. Und etwas anderes wollte, dass er seine Augen schloss und sich dem hingab, was auch immer sie als Nächstes tun würde. Sie schnallte sich an, startete den Wagen und fuhr los. Es waren die gleichen Handlungen, die er selbst ein dutzendmal täglich machte und wie selbstverständlich kam diese zarte Frau mit seinem großen Wagen zurecht, den sie nie zuvor gefahren hatte. „Du bist der netteste Kotzbrocken, dem ich je begegnet bin.“
Wie ein wärmender Mantel füllte ihre Zärtlichkeit das Innere des Wagens und er wusste, was sie meinte. Er kannte sich. „Ich weiß. Um mich zu biegen, brauchtest du so etwas wie Zauberkräfte. Es wäre so einfach, ein Fingerschnipsen, und alles wird gut. Aber das, was die Leute als Zauberei bezeichnen, sind nur Resultate, von denen sie nicht verstehen, wie sie zustande gekommen sind. Es gibt für alles eine Erklärung. Ursache und Wirkung, Kausalität. Also werde ich auch so bleiben. Tut mir leid.“ Seine Worte waren schärfer herausgekommen, als er es gewollt hatte. Fast so, als hätte er sich gegen etwas wehren wollen. Er setzte brummend hinzu: „Du liest zu viel Bücher über diesen Kram.“
„Eher zu wenig. Hätte ich schon mehr gewusst, würdest du jetzt nicht in diesem Zustand neben mir liegen.“
Er seufzte leise. Er verstand sie nicht. Was auch immer sie mit ihm gemacht hatte, es begann zu wirken. In seinem Kopf begann sich das Durcheinander zu verziehen und er fühlte sich kräftiger. Und schuldiger. Er hatte sie mies behandelt, trotzdem war sie rechtzeitig genug gekommen, um ihm wahrscheinlich das Leben gerettet zu haben. Er gestand, und nur er wusste, wie schwer es ihm fiel: „Du hattest wohl Recht. Das Medikament hätte mich umgebracht. Danke.“
Sie bog auf die Hauptstraße ein. „Welches Medikament? Die Tabletten in deiner Dose habe ich gestern gegen ein herzstärkendes homöopathisches Mittel ausgetauscht. Das, was du hattest, waren Entzugserscheinungen.“
Es dauerte ein paar Sekunden, bis er begriff. Sein Zorn flammte wieder auf. „Fahr sofort rechts ran! Du hast mich manipuliert!“, schrie er.
Sie reagierte nicht.
„Du sollst anhalten!“ Er tastete nach der Sitzverstellung, um die Rückenlehne hochzufahren.
Aelita drehte den Kopf. „Was die Medizin nicht heilt, heilt das Eisen; was das Eisen nicht heilt, heilt das Feuer“, sagte sie in dem gleichen Singsang, mit dem sie auch in der Küche gesprochen hatte, nahm die rechte Hand vom Lenkrad und griff nach seinem verkrampften linken Arm. Eine Lanze aus rotleuchtender Energie bohrte sich in sein Gehirn. Er schrie auf und sank zurück.
Als sei nichts geschehen, fuhr sie weiter. Nach einigen Minuten lenkte sie den Wagen an den Straßenrand, stellte den Motor ab und öffnete ihren Sicherheitsgurt.

Er flüsterte, für laute Worte hatte er nicht die Kraft: „Warum hältst du jetzt an?“
Wie sie es vor einer Ewigkeit getan hatte, wie ihm schien, strich sie ihm wieder mit einem leichten Druck über die Stirn. „Weil ich es JETZT will!“
Eine Straßenlaterne leuchtete ins Innere des Wagens. In ihrem Licht fiel ihm auf, wie groß die braunen Augen waren in ihrem schmalen Mädchengesicht und er fragte sich, was sie dahinter vor ihm verbarg.
Sie stieg aus, ging um den Wagen herum, öffnete die Tür an seiner Seite und zog ihm die vier Akupunkturnadeln aus den Beinen. Dann fuhr sie seine Rückenlehne in die Senkrechte, öffnete seinen Sicherheitsgurt und kraftlos, wie er war, ließ er es geschehen. Selbst, wenn er etwas hätte tun können, hätte er nicht gewusst, was. Sie setzte sich auf den Bordstein neben dem Wagen, stützte die Ellenbogen auf die Knie und vergrub den Kopf in den Händen. So blieb sie minutenlang sitzen. Schließlich hob sie ihn wieder, ordnete mit einem Handgriff ihre Haare und sagte: „Bitte setz dich zu mir.“
Er war sich nicht sicher, ob er die Kraft dazu hatte, doch es ging. Er stieg aus und ließ sich neben ihr auf dem Bordstein nieder, darauf bedacht, sie nicht zu berühren. Der Boden unter ihm war noch warm wie der Felsen am Strand, auf dem er gesessen hatte. Mit der Erinnerung daran kam auch die Halluzination wieder und er schüttelte sich.
Aelita lehnte den Kopf an seine Schulter und sagte: „Es hat nur zu allen Zeiten Menschen gegeben, die mehr wussten. Das, was sie taten, konnte niemand erklären und so mystifizierte man sie und nannte sie Hexen und Zauberer. Selbst heute, nach zweitausend Jahren, weiß niemand genau, wie die Akupunkturnadeln, die ich dir gestochen habe, wirken. Man weiß nur, dass sie die Selbstheilungskräfte des Körpers aktivieren, aber niemand hält es mehr für Zauberei.“ Sie verstummte einen Moment, schaute zum sternenklaren Himmel auf, dann auf die Uhr an ihrem schmalen Handgelenk und fuhr fort: “Du hast mir sehr weh getan vor ein paar Stunden und nichts in dieser Welt geschieht, ohne dass es Konsequenzen hat. Der Schmerz, den ich dir eben zugefügt habe, war die Rache des kleinen Mädchens in mir.“
„Aber …“
Sie legte einen duftenden Finger auf seine Lippen. „Psst! Schau zum Firmament!“
Er blickte nach oben, gerade rechtzeitig genug, um zu sehen, wie eine wahre Feuerkaskade über den Himmel zog. Eben musste ein ganzer Meteoritenschwarm in der Atmosphäre verglüht sein.
„Und jetzt küss mich, du Dummkopf!“ Heiß presste sie ihre Lippen auf seine, ihre Zunge suchte nach einer Spielgefährtin, fand sie und die Berührung war glühende Lava, die ihn verbrannte.
Nach einer Ewigkeit, die ihm viel zu kurz erschien, löste sie sich wieder von ihm und sagte: „Fast auf die Minute genau vor einundvierzig Jahren bin ich hier in einem Fischerhaus geboren worden. Den ersten Schrei meines Lebens stieß ich aus, als ein solcher Tränenschwall des Laurentius, wie du ihn eben gesehen hast, den Himmel in Feuer tauchte. Meine Urgroßmutter war eine Heilerin und wusste so viel, dass die abergläubischen Menschen hier sie „weiße Hexe“ nannten. Ich habe ein bisschen davon geerbt. Verglichen mit ihrem Wissen bin ich noch eine Anfängerin. Mit dieser Erklärung wirst du dich zufriedengeben müssen.“ Sie lachte leise und es klang wie das Klingeln eines Silberglöckchens im Dunkeln. „Auch wenn es dir nicht gefällt. Wir Frauen haben gern unsere kleinen Geheimnisse. Und jetzt komm!“
Sie waren bereits wieder einige Minuten unterwegs, da fiel ihm auf, dass sie nicht auf der Straße nach Schwerin fuhren. Er war so sehr mit Nachdenken beschäftigt gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte. Er fragte: „Wohin fahren wir?“

„Zu meiner Urgroßmutter.“
„Warum?“
„Es wird Zeit, dass sie meinen Mann kennenlernt.“
Meinen Mann. Aelita hatte diesen Satz gesagt, wie sie immer mit ihm sprach – ruhig, ohne besondere Betonung, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt. So saß sie auch hinter dem Lenkrad – entspannt, die kleinen Hände nur locker um das Leder gelegt, als würde das Auto von alleine den Weg finden. Vielleicht tat es das auch, er war mittlerweile bereit, fast alles zu glauben. Nur zu einem war er nicht bereit – sich einfach so aufzugeben. Er sagte: „Das hatte ich nicht gefragt.“
Sie schaute kurz herüber, seufzte und sah dann wieder nach vorn auf die dunkle Straße. „Es wird noch ein hartes Stück Arbeit mit dir, bis du, statt zu fragen, fühlen kannst. Du bist ein Stiesel, der alles unter Kontrolle haben will, aber kein Egoist. Du könntest dich nicht mit geschlossenen Augen in meine Arme fallen lassen, dazu hast du noch zu wenig Vertrauen. Aber du zerreißt dich für deine Leute und du hast alles für mich riskiert, obwohl ich das gar nicht gebraucht hätte. Du hast ein Herz, nur das Leben hat bei seiner Erziehung ein wenig gepfuscht und ich biege das wieder hin. Doch die Wahrheit ist …“
Sie unterbrach sich und er hakte nach: „Was?“
So leise, dass er es zwischen den Fahrgeräuschen fast nicht gehört hätte, sagte sie: „Die Wahrheit ist, dass ich dich liebe. Und das braucht keine Erklärungen.“
Die letzten Stunden hatten sein Selbstbild auf den Kopf gestellt und wo vorher alles einen festen Platz gehabt hatte, herrschte nur noch Chaos. Der Wagen rumpelte über einen Feldweg und er stieß sich den jetzt zwar schmerzfreien, aber noch immer verkrampften Arm an der Lehne.
Der Wagen stoppte und die Scheinwerfer beleuchteten eine uralte Fischerkate mit reetgedecktem Dach, auf dem Moos wuchs und die sich schief und krumm zwischen den Dünen zu verstecken schien. Ein einziges, flackerndes Licht brannte in einem winzigen Fenster. Aelita stand schon an der Pforte eines kleinen Holzzauns, ehe er auch nur die Autotür öffnen konnte. Sein Herz fing an zu klopfen, als hätte er gerade einen Hundertmetersprint hinter sich. Von dem Haus ging eine Präsenz aus, die ihm den Atem nahm. Aelita öffnete die Pforte und rief: „Komm. Großmama wartet nicht gerne.“

Langsam ging er die wenigen Schritte bis zum Gartentor. Vor der Pforte blieb er stehen. Etwas in ihm wollte nicht, dass er weiterging. Aelita hatte auf ihn gewartet, sie reichte ihm die Hand und sagte, als wüsste sie genau, was er fühlte: „Bitte komm. Es ist wichtig. Für uns.“
Er griff nach ihrer Hand, ließ sich von ihr hinter den Zaun ziehen. Die Tür der Kate wurde geöffnet, ein dunkler Schatten erschien darin und eine Stimme, deren Besitzerin uralt sein musste, sagte: „Ihr seid zu spät. Das Essen ist schon fast kalt!“
„Es hat ein bisschen länger gedauert, als ich dachte, Großmama“, erwiderte Aelita und drückte seine Hand, als wollte sie ihm Mut machen.
Er schaute auf die runzlige Alte. Wieder fuhr ein brennender Schmerz seinen Arm hinauf. Diesmal jedoch löste er den Krampf, seine Hand öffnete sich, etwas rollte heraus und fiel ihm vor die Füße. Er senkte er seinen Blick nach und Entsetzen kroch ihm wie ein kalter, glitschiger Fisch den Rücken hinauf. Keines Gedankens fähig, starrte er auf den hühnereigroßen Bernstein vor seinen Füßen. Wie durch Watte hörte er die Worte von Aelitas Großmutter: „Ihr müsst nicht an uns glauben, junger Herr. Wir glauben an Euch, und meine Enkeltochter liebt Euch. Das ist mehr Glück, als Ihr in einem ganzen Leben aufbrauchen könnt. Das war Euer Wunsch und ich habe ihn Euch erfüllt. Nun erfüllt mir meinen und seid mein Gast.“
Ungläubig starrte er ihr in das runzlige Gesicht mit den vielen kleinen und großen Altersflecken, dann wurden seine Knie weich und er ging zu Boden, wieder einmal.
Die Alte keckerte: „Dein Bräutigam scheint mir ein wenig schwächlich, Kind.“
Aelita lachte: „Du hast ihn erschreckt, Großmama. Gib ihm ein bisschen Zeit, sich an uns zu gewöhnen.“
Sie kniete sich neben ihn, strich ihm das Haar aus der Stirn und flüsterte zärtlich: „Pass in Zukunft ein bisschen auf, was du dir wünschst, mein Liebster. Du könntest es bekommen …“

RHCSo 2022

Bild von Enrique Meseguer auf Pixabay

Schlagwörter: , , , , , , , , , , , , ,

Verfasst 19. Februar 2022 von Rainer Sonnberg in category "Erzählungen

Kommentar verfassen