In Zeiten der Mutlosigkeit braucht es nichts weiter als ein wenig Mut.

I. Gehe langsam, wenn du es eilig hast

Hätte ich doch bloß früher …, sind Gedanken, die man, je älter man wird, immer häufiger im Nacken spürt. Wie eiskalte Finger packen sie zu und da ist nicht viel, was man dem entgegensetzen kann. Außer vielleicht ein: Dann eben jetzt! So mag diese kleine Geschichte hoffentlich all jenen Menschen eine kleine Hilfe bei ihrer Entscheidung sein, ob es sich lohnt, sich noch im Alter ernsthaft mit Musik zu be-schäftigen.
Doch wo ist der Anfang? Nun, vielleicht auf Kos, einer wirklich kleinen griechi-schen Insel in der südlichsten Ägäis. Sechs Monate im Jahr spielt dort ein kleiner großer Pianist im Neptun-Hotel für die Urlauber. Es war seine Musik, die mich nicht mehr losließ und den Wunsch nach mehr in mir geweckt hat. Eine Stunde Anfän-gerunterricht, drei Zigaretten und zwei Cappuccino hat er gebraucht, mir die Tür ins Land der Musik zu öffnen. Er hat mir die Wege gezeigt, die es auch in meinem Alter noch dort für mich gibt, und das Feuer, das er vor gut zwei Jahren in mir entfacht hat, lodert seitdem jeden Tag heller. Er weiß es nicht, aber ich nenne ihn „Freund“, denn statt mich auszulachen, hat er mir das schönste Geschenk überreicht, dass ein Mensch einem anderen machen kann: Er hat mir Mut gemacht, und ist es nicht das, was wir alle ab und zu in unserem Leben brauchen? Jemanden, der uns Mut macht?
So weit so gut. Doch bereits anderthalb Jahre später hätte diese Geschichte ihr Ende finden können mit meinem enttäuschten Brief an meine Klavierlehrerin.

Liebe Magdalena,

ich war vorletzten Donnerstag nicht sehr glücklich, als Du mir sagtest, dass ich jedes Stück, in dessen Erlernen ich so viel Mühe und Zeit investiert habe, wieder verlernen werde, wenn ich es nicht regelmäßig übe.
Wozu lerne ich denn so angestrengt, opfere jede freie Minute, um die Stücke meiner Wunschliste spielen zu können, wenn es doch umsonst ist? Woher soll ich denn die Zeit nehmen, das, was ich schon kann, auch noch immer wieder zu üben? Der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden und zehn davon verschlingt die Arbeit.
Bei meinem Entschluss, mit fünfundsechzig noch Klavierspielen zu lernen, war sicherlich auch eine Menge Ego dabei. Ein „Euch werde ich es zeigen“, oder besser noch: „Mir selbst werde ich es zeigen.“ Ein Jahr später weiß ich, dass sich kein Borstenviech dafür interessiert, nicht einmal mehr ich selbst. Ich habe mir bewiesen, dass ich es könnte, wenn ich es wollte. Außerdem stellt sich die Frage, was es mir überhaupt bringt, Stücke spielen zu können, die zehntausend Pianisten, Studenten und Kinder besser spielen können.
Andererseits – in diesem einen Jahr am Klavier habe ich Menschen kennengelernt, deren Werke ihren Tod überdauert haben und bin dankbar dafür. Wenn ein Akkord unter meinen Händen endlich seinen Klang entfaltet, wird mir warm und wenn ich abends sitze und einfach irgendetwas spiele, und so sei es noch so anfängerhaft, ist es, als würde ich meine Seele auf die Tasten übertragen und es ist einfach nur schön.
Ich mag es wie die Hände des Norwegers Olafson und auch wie deine Hände über die Tastatur schweben, die scheinbare Leichtigkeit und Schwerelosigkeit des Spiels. Ich mag keine Dramatik, sondern Licht für die Seele. Ich mag verstehen, Zusammenhänge erkennen. Ich möchte wissen, warum nach einem Akkord nur ein oder zwei andere kommen können und nur genau diese. Aber ich mag auch stundenlang ein und dieselbe Notenfolge üben, weil meine Finger das möchten, sie die Tastatur lieben, ich das Gehirn dabei nicht benutzen muss und ich mich daran erfreue, wie es von Mal zu Mal besser klingt.
Doch das alles nur, um es wieder zu vergessen? Zu verlernen? Doch wenn ich nicht bestimmte Stücke lerne, was lerne ich denn dann? Wenn ich jede Taste blind finden könnte, müsste mein Gehirn sich damit nicht mehr beschäftigen und könnte sich mit den Noten beschäftigen. Wenn ich jede Note und jeden Akkord auf Anhieb erkennen könnte, müsste sich mein Gehirn auch damit nicht mehr während des Spielens beschäftigen und könnte sich mit dem Stück selbst und seiner Betonung befassen. Und wenn ich verstehen würde, wie ein Stück aufgebaut ist, könnte ich mir vielleicht sogar denken, wie der nächste Akkord, die nächste Harmonie sein müsste, wenn ich es vergessen hätte. Mein Kopf wäre endlich wirklich frei und dann würde mir auch kein erlerntes Stück mehr wirklich verloren gehen. Ich bin mir sicher, dass das möglich ist. Doch wie unendlich lange wird das denn dauern? Habe ich überhaupt noch die Zeit dafür?

II. Ihr aber seht und sagt: Warum? Aber ich träume und sage: Warum nicht? (George Bernard Shaw)

Dein Gehirn hat nicht unendlich viel Platz, sagte meine Mutter vor fast sechzig Jahren, als sie mich erwischte, wie ich von der Sonntagsschule in der Kirche kam. Je mehr du es mit Glauben vollstopfst, um so weniger Raum bleibt dir darin für Wissen. Aber es ist deine Entscheidung, was dir wichtiger sein wird im Leben. Ich rede dir da nicht hinein.
Wie alle Mütter war sie eine kluge Frau, auch wenn sie damals nicht wusste, dass sie Eulen nach Athen trug, denn bereits nach dieser ersten Bibelstunde war für mich der Weg zum Glauben versperrt. Der achtjährige Rebell in mir, der schon ein Problem hatte, sich bei irgendjemand zu entschuldigen, fragte sich, wie er einem solch eitlen Fratz huldigen sollte, der wollte, dass ich vor ihm auf die Knie fiel und ihn anbetete.
Glaubens- und konfessionslos wurde so „Wehmut“ für mich der Name der Zeit, „Diva“ der des Glücks und mein Leben schien mir wie jedes andere auch nichts wei-ter als die Aneinanderreihung von flüchtigen Glücksmomenten und ihrer Erinnerung, bis auch diese dereinst zu Schatten verblassen und alles endet.
Ich erinnere mich an den Sommer 1978. In der brütenden Augusthitze warf der schwarze Asphalt vor dem Kasernentor ebenso Blasen wie meine von den unge-wohnten Stiefeln malträtierten Fußsohlen. Es war mein erstes Jahr als Offiziersschüler. So hart die Ausbildung auch war, ist mir dieser staubtrockene Sommer in Löbau doch als ein tropisches Paradies in Erinnerung geblieben. Der Abba-Film kam in die Kinos und ich gehörte zu den Glücklichen, die zwei Plätze in der hintersten Reihe, unmittelbar vor der Wand, ergattern konnten. Bei „Dancing Queen“ nahm ich mit klopfendem Herzen Heikes Hand und bei „Eagle“, stoppte sie mein verliebtes Flüstern mit einem Kuss. Weihnachten stand sie dann vor meiner Tür, mit dem Album von Isao Tomita „Pictures at an Exhibition“ in der einen Hand und einem blauen Köfferchen in der anderen. Auch wenn wir es nur eine Woche zusam-men aushielten, weil unser Temperament sich nicht vertrug und der eine des anderen Teufel war, erlebte ich in den Jahren danach diese Nächte in meiner Erinnerung immer wieder, wenn ich Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ hörte und wurde im Radio „Eagle“ von Abba gespielt, spürte ich immer noch ihre sanften Lippen auf meinen und den Geschmack von Vanilleeis.
Musik scheint schon eine ganz besondere Magie zu sein. Eine, die weder des Glaubens noch des Wissens bedarf. Sie schert sich nicht einmal darum. Weiß man, wie ein Illusionist scheinbar eine Frau zersägt, ist die Illusion dahin, ein kleiner Traum gestorben und die Welt ein wenig dunkler. Doch zu wissen, dass Johann Sebastian Bach sein Präludium Nr. 1 Note für Note bei schummrigem Kerzenlicht in einer Gefängniszelle niedergeschrieben hat; zu verstehen, wie er es Akkord für Akkord aufgebaut, die Akkorde dann aufgebrochen und so ein Meisterwerk ganz ohne Melodie im eigentlichen Sinne geschaffen hat, mindert nicht die Faszination, die es ausstrahlt. So scheint Musik gleichsam ein Naturgesetz zu sein, das unabhängig und unbeeinflusst davon wirkt, ob wir es kennen oder verstehen.
Es ist gut zehn Jahre her, da hatte ich in einem Schweriner Hotel die IT-Technik eines deutschlandweiten Modekongresses sicherzustellen. Es war ein Donnerstag-abend und so gegen einundzwanzig Uhr hatte ich alles vorbereitet. Ich beschloss, in der mit Chrom und Plastik auf die achtziger Jahre getrimmten Hotelbar noch einen kleinen Absacker zu nehmen. Sie war so gut wie leer, nur die Veranstalterin des Kongresses hatte wohl die gleiche Idee gehabt und hielt sich an einem Glas Rotwein fest.
Ich nahm mir den Hocker neben ihr, doch es kam kein Gespräch zustande und zwanzig Minuten und zwei weitere Gläser Rotwein später meinte sie schließlich: „Ein toller Hecht bist du nicht gerade.“
Zwanzig Minuten hatte sie für diese Erkenntnis gebraucht, obwohl Fischkunde nicht ihre Stärke war. Sonst hätte sie gewusst, dass die tollen Hechte sich im wah-ren Leben spätestens dann verdrückten, wenn ein Hai vorbeikam. Oder die Realität.
„Viel Glück noch,“ setzte sie hinzu, griff nach ihrer Handtasche, rutschte vom Bar-hocker und im Spiegel hinter der Bar richtete ein Mann mit kurzen silbergrauen Haaren seine ruhigen Augen auf mich. Ich nickte ihm zu. Wir kannten uns seit fast sechzig Jahren.
Da, wo er herkam, schätzte man einen Mann nach dem, was er tat, nicht nach dem, was er vorgab zu sein oder zu wollen. Er mochte sich selbst, meistens jeden-falls und konnte über sich lachen. Er liebte den Duft von verschwitzter Frauenhaut und mochte schwarzen Tee mit Milch. Kaffee nahm er vorzugsweise intravenös, Humor war ihm am liebsten black & dry, Lustschreie in stiller Nacht waren für ihn die schönste Musik, neben Nightwish und Within Temptation und Al Pacino in: „Im Auftrag des Teufels“ das Beste, was Menschen je auf die Leinwand gebannt hatten. Er wäre wahrscheinlich der tolle Hecht gewesen, den die Schönheit neben mir nicht gefunden hatte. Wenn er es denn gewollt hätte. Vielleicht hätte sie sich auch nur ein wenig mehr Mühe geben müssen.
Ich prostete ihm zu. Aus der Ferne der Lebenserfahrung betrachtet, erschienen mir die meisten meiner Entscheidungen, die mich hierher geführt hatten, logisch, um nicht zu sagen, notwendig und sinnvoll und darum gesellschaftlich akzeptabel, gleichwohl manche von ihnen in einer persönlichen Katastrophe gemündet hatten. Genauer hingeschaut, zeigte sich jedoch der Trugschluss, denn letztendlich hatte jede meiner Entscheidungen nicht auf Vernunft, sondern auf Emotionen basiert. Die öffentlich sichtbare Äußerung derselben war jedoch nicht unbedingt karrierefördernd. Schließlich waren wir gut darin, anderen schnell den Stempel „schwierig“ zu verpassen und ihnen damit zu einem nur noch recht überschaubaren Freundeskreis zu verhelfen. So mich selbst konditionierend auf Disziplin, Effizienz und Berechenbarkeit, hatte ich Lebensjahr für Lebensjahr mehr den Rebellen in mir, der einmal stark genug gewesen war, sich gegen Gott und Regierung aufzulehnen, hinter Gitter gezwungen.
Geboren, gelebt, geliebt, erinnert … Sollte das wirklich alles gewesen sein? Ich nahm einen großen Schluck Whisky.
Ein Euro fiel hinter mir in die Jukebox an der Wand. In der Stille der Lounge klang es, als würde ein Felsbrocken einen Berghang hinabpoltern. Tasten wurden gedrückt, die Mechanik surrte, als der Greifer nach der Platte fasste und mit einem leisen Ratschen setzte die Nadel auf dem Vinyl auf. High Heels klackten auf Mar-morfliesen, näherten sich und die ersten Takte von Abbas „Eagle“ fluteten die Bar. Mir schien plötzlich prickelndes Eiswasser den Rücken hinab zu rinnen.
„Ist es nicht langweilig, mit seinem Spiegelbild zu trinken?“ Der Hocker neben mir fand wieder eine Besitzerin. Sie fragte nicht, ob der Platz noch frei wäre. Um ihren ungeschminkten Mund spielte ein spöttisches Lächeln. Trotz des schummrigen Lichts trug sie eine Sonnenbrille mit großen Gläsern. Nicht groß genug, die Spuren in ihrem Gesicht zu verbergen, die das Leben darin hinterlassen hatte. Viel Leben, wie es aussah und viele Spuren. Doch sie trug sie mit Würde, als wären sie eine Auszeichnung.
„Nein, gar nicht,“ erwiderte ich.
„Sicher?“, fragte sie.
And I dream I’m an Eagle. And I dream I can spread my wings, klang es aus der Jukebox. Nachdenklich drehte ich das Whiskyglas in meiner Hand. Sicher war nur, dass, wenn es doch einen Gott gab, er die Musik erfunden haben musste, und der Teufel das Tanzen, die Fröhlichkeit und die Frauen beigesteuert hatte.
„Sicher ist nur eins“, antwortete ich schließlich. „Ohne Musik geht gar nichts. Nicht in dieser Welt und auch nicht in einer anderen, in der ich leben wollte.“
Sie nahm die Sonnenbrille ab und wie vor dreißig Jahren, lachten tausend kleine Teufelchen aus ihren hellen Augen.
Sie flüsterte: „Dann lass uns noch einmal tanzen.“
Irgendwann, die Stühle waren längst hochgestellt, das letzte Glas gespült, warf uns der Barkeeper hinaus und wir gingen lachend unseres Weges. Sie auf ihr Zimmer und ich nach Hause zu meiner Familie. Für ein paar Stunden hatte die Musik für uns das Gestern und das Morgen zur Bedeutungslosigkeit degradiert, war sie das Fenster gewesen, hinter dem die Sonne die schwarzen Regenwolken der Ge-genwart verjagt hatte und hinter dem Glück und selbst längst vergangene Freude wieder zu einem Götterfunken erblüht waren.

So scheint es nur logisch, dass ich mich in der Abenddämmerung meines Lebens ernsthaft der Musik zugewandt habe. Und schon das ist wieder ein Oxymoron: Logik und Musik. Auch wenn, wie ich gerade lerne, Mathematik und Regeln das Gerüst der Musik bilden und Physik und Biologie bestimmen, wie wir sie wahrnehmen, geht ihre Wirkung doch weit über das hinaus, was sich heute, trotz aller Fortschritte der Neurologie, Akustik und Physik, erklären lässt. Freude, Trauer und Glück lassen sich nun einmal nicht berechnen, schon gar nicht wiederholbar programmieren und so bedarf es weiterhin des Genius solcher Menschen wie W. A. Mozart, J. S. Bach, L.v. Beethoven, den Schumanns und ihrer Interpreten.
Von der Arbeit nach Hause zu kommen, sich ans Klavier zu setzen und das Präludium zu spielen ist wie ein Surfboard auf die Wellen zu legen und sich vom Ozean treiben zu lassen, mal stürmisch, mal sanft. Ich weiß nie, wo die Reise hingeht, und ich denke, ich kann es nie zweimal nacheinander gleich spielen. Manchmal tobt sogar ein Orkan, Blitze zucken vom Himmel und Donner grollt. Aber wenn dann der letzte Ton verklingt, weiß ich, dass angekommen bin. In mir.
Jemand hat einmal gesagt, dass nicht jeder Musiker an Gott, aber alle an Johann Sebastian Bach glauben. Ich denke, er hat recht und so habe ich also doch noch meinen Glauben gefunden.

III. Freude, schöner Götterfunken

Was heißt denn aber musikalisch sein? Du bist es nicht, wenn du, die Augen ängstlich auf die Noten gerichtet, dein Stück mühsam zu Ende spielst; du bist es nicht, wenn du (es wendet dir Jemand etwa zwei Seiten auf einmal um) stecken bleibst und nicht fortkannst. Du bist es aber, wenn du bei einem neuen Stück das, was kommt, ohngefähr ahnest, bei einem dir bekannten auswendig weißt, – mit einem Worte, wenn du Musik nicht allein in den Fingern, sondern auch im Kopf und Herzen hast.
(Robert Schumann)

Wir alle erinnern uns daran, wie es gewesen ist, jung zu sein. Das Leben scheint endlos und selbst im mittleren Alter ist der Horizont des Seins wenn auch schon sichtbar, so doch noch weit entfernt und alles scheint noch immer möglich. Doch wie ist es, alt zu sein?
Nun, zuerst einmal ist „alt“ ein Attribut, das, auf den Menschen angewandt, gerne mit weniger leistungsfähig, kränklich, unbeweglich und allerlei anderen, meistens negativen Wertungen einhergeht. Doch ist das wirklich so? Mache ich einen Spaziergang, begegne ich immer mehr jungen Menschen mit über das Handy gesenktem Kopf, krummem Rücken und Übergewicht. Leistung, Leistungsbereitschaft, sich zu schinden für ein Ziel, kommt immer mehr aus der Mode. Die schnelle Befriedigung ist angesagt und der nächste, möglichst anstrengungslos zu erlangende Kick wird gesucht. „Work-live Balance“ ist wichtig, möglichst wenig tun und viel bekommen verlangt und risikoloser „Kampf“ und Gratismut sind „in“. Leistung hält keiner Kritik mehr stand und so wird nicht die Leistung verbessert, sondern die Kritik reduziert. Zumindest, wenn es um die eigene Leistung geht, denn das „Ich“ will gehätschelt werden.
Nicht anders, wenn es um das Klavierspielen geht. Hier wird mit Trivialitäten Geld verdient, denn dass Lernen mit weißen Haaren sowohl möglich als auch hilfreich für die Verlangsamung der Alterungsprozesse im Gehirn ist, pfeifen die Spatzen, wenn auch nicht sonderlich melodisch, schon seit Ewigkeiten von den Dächern. Nun ja, „It’s a material world,“ höre ich Madonna singen und sehe Bill Clinton grinsen: „It’s the economy, stupid!“ Das ist nun einmal die Welt, in der wir leben. Ihr zu entfliehen, und sei es auch nur für ein paar Minuten in das Reich der selbst gespielten Musik, scheint kostenpflichtig. Dagegen ist schwer etwas zu sagen, allerhöchsten die Frage nach dem Beipackzettel zu stellen: „Zu Risiken und Nebenwirkungen fragen Sie Ihren Pianoverkäufer, Klavierlehrer und die an die Wand hämmernden Nachbarn.“
Da sind hunderte, wenn nicht tausende von Texten und Videos, in denen die Vorteile des Klavierlernens im Alter aufgezählt werden nebst einem Button (zumindest bei den meisten der von mir gesichteten Artikel und Videos), dessen Anklicken zu einem kostenpflichtigen Angebot führt, mit dessen Hilfe alles einfach und selbstverständlich schnell zu erreichen ist. Aber, kurz und knapp nach anderthalb Jahren: Es ist nicht wahr. Ernsthaft Klavierspielen ist eine Schinderei, bedeutet üben, üben und nochmals üben, denn nicht nur die Finger lernen, sondern auch die Ohren. Schon bald nehmen sie Fehler wahr, die man am Anfang noch überhört hat und wenn sich ein Stück dann endlich nahezu schwerelos anhört, es ein Genuss ist, es zu hören, dann nur deswegen, weil unendlich viel Übung, Mühe, aber auch Liebe und Freude hineingesteckt wurde. Was, zumindest mich, voller Respekt zu Pianisten und eigentlich zu jedem professionellen Musiker aufschauen lässt, weil ich nun wenigsten ein kleines bisschen nachvollziehen kann, wie hart sie gearbeitet haben müssen für den perfekten Klang.
Doch genau das sind die Dinge, mit denen wir „Alten“ groß geworden sind. Wir haben nichts geschenkt bekommen, wir wissen, dass Leistung von „leisten“ kommt und wir haben das Glück erfahren, den Stolz auf das Erkämpfte und Vollbrachte genießen zu können. Denn das ist auch das Alter: Erfahrung, Weisheit und die in einem langen Leben erworbene Fähigkeit, etwas, was man begonnen hat, auch zu Ende zu bringen. Immer noch!
Leider habe ich nirgendwo etwas gefunden, was auch nur im Entferntesten einem Erfahrungsbericht ähnelt, der sich mit der Problematik des Musizierens im Alter beschäftigt. Das Leben tendiert in Richtung Gleichgewicht und wo viel Licht ist, da lässt der Schatten nicht lange auf sich warten. Geben die Finger überhaupt noch die notwendige Beweglichkeit her? Was ist mit den alten Augen, die winzige Noten lesen müssen und dabei schnell ermüden? Wie kommt ein alter Mensch damit klar, eine Stunde auf der Kante des Klavierstuhls zu sitzen? Was macht das mit dir, wenn du üben möchtest, aber der Rücken schmerzhaft streikt oder die Finger beim Üben eines Trillers einfach ihre Arbeit einstellen und auch der stärkste Wille sie nicht zwingen kann?
Das sind die einfachen, eher technischen Fragen und für sie gibt es Allheilmittel: Geduld und die Erinnerung an die tausenden im Laufe des Lebens gelösten Probleme und beseitigten Widerstände. Eine Schatztruhe voller Möglichkeiten, über die junge Menschen noch nicht verfügen. Ludwig van Beethoven hat seine genialsten Stücke im Alter komponiert, zu einem Zeitpunkt, an dem er fast taub war, mit einem Holzbrett zwischen den Zähnen und dessen anderem Ende auf dem Klavier, um über den Körperschall trotzdem die Töne hören zu können.
Die schwierigen Fragen sind eher psychologische. Wie fühlt es sich an, das Wunderland der Musik zu betreten und gleichzeitig zu wissen, dass die Zeit nicht mehr reicht, es zu durchqueren? Wie ist es, den Druck aushalten zu müssen, ein Stück nicht bis zur Perfektion üben zu können, weil jeder Übungstag eine Pause auf der Reise ins Wunderland ist oder aber schweren Herzens auf wenn schon nicht Perfektion, dann wenigstens Wohlklang verzichten zu müssen? Was macht es mit einem alten Menschen, der in einer Welt der Leistung und des Vergleichs sozialisiert wurde, zu wissen, dass ein siebenjähriges Kind schneller lernt und besser spielen wird, als er es sich jemals erträumen kann und das er, sollte er jemals vorspielen, immer den demütigenden Mitleidsbonus haben wird: „Er hat ja erst mit sechzig angefangen.“
Auch wenn ich meinen Frieden mit dem absehbaren Ende gemacht und keine Angst vor ihm habe, so macht es mich doch zornig, dass ich mich nur noch auf das Wesentliche konzentrieren kann. Während ich diesen Text schreibe, kann ich nicht am Klavier sitzen und das bereitet mir fast körperliche Schmerzen. Jeden Tag fühle ich mich wie ein Kind in einem unendlich großen Spielzeugladen, dessen Mutter festlegt: „Du darfst aber nur eins mitnehmen und nein, wir kommen nicht wieder hierher zurück.“
So bedeutet offenbar, das Klavierspielen im Alter zu erlernen, die Beschränkung auf das Wesentliche. Doch was ist das: das Wesentliche? Nun, es gibt jemanden, der das weiß. Der Klavierlehrer/die Klavierlehrerin: Nicht nur technischer Lehrer, sondern vor allem Mentor, der dem Schüler ein Freund ist auf einer seiner letzten, aber wahrscheinlich schönsten Reise und ihm bei der Auswahl der Sehenswürdigkeiten zur Seite steht. Er ist derjenige, der dem Schüler auch bei der schwierigsten Übung das Wichtigste, ohne das auch das ambitionierteste Bemühen wie Regentropfen im Wüstensand versickert, nahebringt: die Freude am Spielen. Sie ist der Motor für alles, der Lohn für jede Qual, jede Schinderei, jeden Schmerz und das Einzige auf dieser Welt, das sich verdoppelt, wenn es geteilt wird, denn ein guter Klavierlehrer wird die Freude seines Schülers teilen.
Zusammengefasst bedeutet das Klavierspielen im Alter dann wohl nicht, noch so schnell und so viel wie möglich zu schaffen, sondern mich an Robert Schumann zu erinnern: „Bemühe dich, leichte Stücke gut und schön zu spielen; es ist besser, als schwere mittelmäßig vorzutragen.“ Wenn ein Akkord nach langer Mühe endlich zu klingen beginnt, ein Stück einen Sinn ergibt, es „mitnimmt“, die Spannung sich erst aufbaut und schließlich auflöst, die Gefühle ihre Ketten sprengen und ich, lange nachdem der letzte Ton verklungen ist, immer noch dasitze und mich frage: „Habe ich das gerade gespielt?“, lautet die Antwort: ja. Manchmal, wenn das Licht gedimmt war, alles schlief und irgendetwas tief aus meinem Innern ein Stück ganz anders klingen ließ, als ich es geübt hatte, geschah etwas, was keine Wissenschaft je erklären können wird: Plötzlich schien etwas im Raum zu schweben, das viel größer war als ich selbst. Tränen, die ich sonst nicht weinen konnte, rannen und jede einzelne war ein Tropfen pures Glück.
All das ist jede, wirklich jede Mühe wert, für jeden. Wird der Weg das Ziel, wird die Schönheit am Rand des Weges nicht mehr übersehen, weniger wird zu mehr und langsamer wird zu schneller. So ist dann Klavierspielen auch noch Charakterschule.

 

Danke

Die Liste derer, die mir das Tor zur Wunderwelt der Musik geöffnet haben und es noch immer tun, ist lang. Die meisten davon haben wahrscheinlich nicht die geringste Ahnung, was sie damit angerichtet haben und auch noch nie meinen Namen gehört.
Zuerst natürlich Nikos Avategelos. Jeden Abend spielt er das Gleiche, viel Pop, ein wenig Klassik, ein sanftes Hintergrundgeräusch für den Barbetrieb im Neptun-Hotel. Immer hat er dabei ein freundliches Lächeln für jeden Urlauber, unterhält sich sogar, ohne sein Spiel zu unterbrechen, als hätten seine Hände einen eigenen Verstand. Doch manchmal spielt er auch ernsthaft, dann kommt der meisterhafte Pianist zum Vorschein und es sind die Momente, in denen ich mich am liebsten zu ihm setzen und auf seinen Schwingen mitfliegen möchte.
Dann ist da Kit Armstrong, dessen unnachahmliche Leichtigkeit beim Spiel vorbachscher Klassiker in der Schelfkirche in Schwerin wie eine sanfte Welle von der Bühne in den Zuschauerraum schwebte, mich für einer Stunde mitnahm und anschließend voller Staunen zurückließ. Oder ein Vikingur Olafson, dessen Art, Mozarts Rondo zu spielen, mir jedes Mal ein dickes Grinsen über so viel Lebensfreude ins Gesicht zaubert. Franz Titscher, dessen Lehrvideos auf Youtube alles so spielerisch einfach erscheinen lassen und dessen Credo: „Auch das Üben soll Freude machen“ mich immer wieder ans Klavier zurückbringt.
Und dann sind da noch zwei wunderbare Frauen. Iris, die es klaglos erträgt, dass ich jede Minute, die ich erübrigen kann, am Klavier verbringe statt mit ihr. Ohne ihr Verständnis und ihre Liebe wäre ich rettungslos verloren.
Und natürlich Magdalena, die Pianisten mag, die mit ihrer Musik eine Geschichte erzählen. Nie habe ich auch nur ein Wort der Kritik von ihr gehört und es hat Monate gedauert, bis ich verstanden habe, dass es sehr wohl einen Unterschied zwischen „gut“, „sehr gut“, „super“ und „Ich bin begeistert,“ gibt. Mehr als eine Lehrerin ist sie meine Mentorin und Führerin ins Zauberland der Musik. Manchmal spielt ein ganz besonderes Lächeln um ihre Lippen und dann weiß ich, dass sie mir gerade eine Tür geöffnet hat, hinter der es etwas zu entdecken gibt und sie mir nicht die Freude nehmen will, selbst herauszufinden, was es ist. Gerade versuche ich, das Präludium Nr. 1 von Johann Sebastian Bach zu verstehen, quäle mich wie immer am Anfang durch die Takte und es hört sich wahrscheinlich schrecklich an. Doch dann kommt der Takt 11, G-Dur, und es ist wie ein Sonnenaufgang über einer Frühlingswiese. Immer und immer wieder muss ich es spielen, die Noten fügen sich zu etwas, das mehr ist als die Summe ihrer Werte und ich bin mir sicher, dass achtzig Kilometer entfernt sie jetzt lächelt, weil sie es genau gewusst hat. Sie hat auch nicht allzu lange gebraucht, mich zu überzeugen, dass Selbstzweifel menschlich sind, wenn man etwas wirklich will und das nach meinem Brief an sie diese Geschichte dann eben doch noch nicht zu Ende ist.
„Spiel etwas …,“ hat sie nur gesagt und ich war verloren.
Ans Klavier …

Metaphysik? Esoterik? Nein, Musik. Mehr als nur Linien, Zeichen, Noten und Töne. Auf Papier gegossene, gespielte und damit für die Ewigkeit festgehaltene Gefühle.

Allen diesen wunderbaren Menschen möchte ich mit diesem Text auf diese vielleicht etwas unkonventionelle Weise danken für ihre Begleitung auf der wunderbarsten Reise meines Lebens, die hoffentlich noch lange nicht zu Ende ist. Eine Reise, die jeder andere auch antreten kann, wenn er es nur genug will.

Danke!

Rainer Sonnberg im April 2025

Johann Sebastian Bach: Präludium Nr. 1 in C-Dur

Image by Stefan Keller from Pixabay 


Verfasst 1. März 2025 von Rainer Sonnberg in category "Erzählungen

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