Eine kleine Geschichte über Prostitution
Johanna hatte die in der Woche gekommene Post auf seinen Schreibtisch gelegt. Außer jeder Menge Werbeprospekte waren es nur zwei Briefe. Den von einer Rechtsanwaltskanzlei in Hamburg versenkte er ungeöffnet im Papierkorb. Bevor er den anderen öffnete, nahm er sich eine Flasche Bier aus seinem Rucksack. Eine ganze Weile saß er an seinem Schreibtisch, nahm ab und zu einen Schluck und erst, als die Flasche leer war, griff er nach dem Brieföffner. Es war ein schönes Stück, geformt wie ein mittelalterlicher Ringknaufdolch mit Intarsien aus Perlmutt und einer stumpfen Edelstahlklinge. Bedächtig schob er sie unter den Papierfalz des Umschlages und öffnete den Brief. Ein einziges Blatt fiel heraus. Außer dem Briefkopf der Universität enthielt er nur weitere fünf Zeilen. Er las nur die Erste. Betreff stand da und dahinter: Ablehnung Ihres Antrags auf Fördermittel.
Eine ganze Weile betrachtete er das Blatt, ohne es wirklich zu sehen. Schließlich stand er auf, heftete es mit einer Reißzwecke an die Tür, nahm im Zurückgehen den Brieföffner vom Tisch und ging zum Fenster. Er ließ den Ringknaufdolch auf seiner Handfläche kreisen, wie er es schon als Kind getan hatte, um dann das Staunen seiner Kumpel zu genießen, wenn er der waagerecht rotierenden Bewegung ein vertikales Wirbeln hatte folgen lassen und der Dolch zielsicher mit der Spitze zuerst in irgendeinem Baumstamm gelandet war. Keiner hatte es ihm darin gleichtun können. Es war lange her, dass er dieses Kunststück das letzte Mal gemacht hatte, die Tauchermesser der Kampfschwimmer waren dafür zu wenig ausbalanciert gewesen und nach seiner Entlassung aus dem Lazarett hatte ihm das Leben eher wenig Grund gegeben, mit Messern um sich zu werfen.
Als wäre sie ein Teil von ihm, wirbelte die Waffe auf seiner Handfläche und dann, ohne dass er hätte sagen können, wie er es gemacht hatte, schlug sie mit einem Krachen, das durch die ganze Wohnung zu hören war, mit der Spitze in der Mitte des nur daumennagelgroßen Logos der Universität auf dem Brief ein.
Johanna riss die Tür auf. Sie blickte erst ihn an, dann um die Tür herum. Der Zierdolch steckte so tief im Holz, als wäre er mit einem Hammer hineingetrieben worden. Mit einem großen Hammer. Die Klinge vibrierte immer noch, als wüsste sie nicht wohin mit der Energie, mit der sie geschleudert worden war.
„Geht es dir gut?“
„Ging mir nie besser.“ Er war selbst verblüfft. Er erinnerte sich nicht daran, besonders viel Kraft eingesetzt zu haben.
Zweifelnd hob sie die Augenbrauen. „Dann möchte ich nicht wissen, was du machst, wenn es dir schlecht geht.“
Sie trug noch die gleichen Sachen, mit denen sie ihn vom Bahnhof abgeholt hatte: Pumps, Rock und Bluse. Er hätte es gehört, wenn sie sich mit den Absätzen auf dem Holzfußboden bewegt hätte und das bedeutete, dass sie die ganze Zeit, ohne sich zu rühren, auf dem Bett im Schlafzimmer gelegen oder gesessen hatte. Genau wie er regungslos auf den Brief gestarrt hatte. Mehr als eine Stunde, sagte ihm seine Uhr. Es war kurz nach elf Uhr abends.
„Schläfst du so oder willst du doch noch auf eine Party?“, fragte er, nur um etwas zu sagen.
Sie blickte kurz an sich herunter, strich mit der Hand über das Leder ihres Rocks, als wollte sie glätten, was keiner Glättung bedurfte und kreuzte die Arme unter ihren Brüsten. „Ich habe hier ein bisschen sauber gemacht. Ich hoffe es, stört dich nicht. Ordnung scheint nicht dein Hobby zu sein.“
Er hatte gefühlt, dass hier etwas nicht stimmte, gleich, als er in sein Zimmer gekommen war. Es gefiel ihm nicht, aber ändern konnte er es auch nicht mehr. Er prostete ihr zu. „Ich trinke Bier. Regelmäßig. Ist mein Grundnahrungsmittel, gewissermaßen. Im Deutschen bedeutet das Wort eine helle oder dunkle Flüssigkeit herben Geschmacks, die man gewöhnlich aus einer Flasche zu sich nimmt und die gewisse Anteile Alkohol enthält. Von Ordnung steht nichts auf dem Etikett.“
Sie machte einen Schritt in sein Zimmer hinein, ließ sich mit der Schulter gegen den Türrahmen sinken und konstatierte: „Du hattest Ärger.“
„Das täuscht. Eine verfrühte Schneeflocke. Lag hochkant auf den Gleisen. Bedeutet bei der Deutschen Bahn eine Stunde Verspätung. Mindestens. Sollen auch schon Züge entgleist sein deswegen. Im Getränkeabteil war noch Platz.“
„Es war warm heute und hat geregnet und nicht geschneit.“ Spöttisch leuchteten im gedämpften Licht der Lämpchen hinter der Karte des Piris Reis ihre Augen so grün wie der Smaragd in dem Ring, den seine Mutter immer dann angelegt hatte, wenn sein Vater nach Hause gekommen war.
Er nahm noch einen Schluck. „Der Beruf verdirbt. Ich erzähle gerne Geschichten.“
„Ach ja, der Historiker. Aber Geschichte lügt nicht, sie ist. Die Polizei hat Umgang mit Verbrechern und Lügnern, aber die Unholde, mit denen du zu tun hast, sind schon längst vermodert. Wenigstens reden sie nicht mehr.“
„Das ist ja nun Quatsch. Geschichte ist nicht, sie war, und Historiker sind nicht ihre Kriminalisten. Nie gewesen. Sie interpretieren sie nur. Und genau das ist das Problem, nich war? Aber das geht …“ Er nahm Zuflucht zum Bier.
„Mich nichts an? Und wenn ich möchte, dass es mich etwas angeht? Wenn ich mir wünsche, dass du mich … teilhaben lässt?“
Er fragte sich, wie sie es schaffte, ihm schon wieder unter die Haut zu kriechen. Er hatte, seit sie vor einer Woche bei ihm aufgetaucht war, genug Tretminen gelegt, hatte sich oft genug von einer unhöflichen Seite gezeigt und trotzdem hatte sie das nicht im Mindesten abgeschreckt. Nicht einmal seine Leidenschaft für Bier schien das zu erreichen. Er blickt auf die Flasche in seiner Hand, dann stellte er sie auf das Fensterbrett hinter sich. Sie taugte nicht als Schutzwall. „Lässt du Menschen an dich heran, gibst du ihnen die Möglichkeit, dich zu verletzen. Das ist mir diese Woche passiert. Wieder mal.“
„Und du willst es mit mir nicht noch einmal erleben.“
Es war die kürzest mögliche Begründung, warum er sich ihr gegenüber verhielt, wie er es getan hatte, seit sie bei ihm aufgetaucht war. Wieder schien sie besser über sein Innenleben Bescheid zu wissen als er selbst. „Sind wir schon so weit?“, fragte er.
Sie lehnte auch noch den Kopf an den Türrahmen und jetzt wirkte sie, als wollte sie da für alle Ewigkeiten verharren. „Erzähl es mir“, sagte sie sanft.
Das war dann wohl ein Ja, dachte er. Aber wo führt das hin? Laut sagte er: „Wir haben einen Prof, er kommt aus München. So ein richtiger Urbayer. Beeindruckende Persönlichkeit, sogar für mich. Hat ein unglaubliches Wissen. Er lehrt vergleichende Geschichte und er will einfach nicht zugeben … Ich meine, bei uns war nicht alles erste Sahne, natürlich nicht und man hat sich hier auch die Geschichte zurechtgebogen, wie man es brauchte. Aber im Westen tut man es doch auch! Wir müssten doch herausfinden, wie es wirklich war … dafür studiere ich doch … und dieser … dieser Stiesel will das nicht akzeptieren. Nur das, was im Westen geschrieben wurde, ist die Wahrheit. Ich könnte durch die Decke gehen!“
Jetzt griff er doch nach dem Bier. „Wie kann ein Mann, der so viel weiß, sich so vehement an eine offizielle Wahrheit klammern, auch wenn er wissen muss, dass sie nicht stimmt? Das sieht doch ein Blinder mit ´nem Krückstock! Leg mal ein Geschichtsbuch von 1980 oder um den Dreh aus der DDR neben ein Westdeutsches aus dem gleichen Jahr, und du kollidierst so heftig mit der Wirklichkeit, dass du denkst, du bist gegen eine Mauer gerannt. Eine aus Macht und Geld, nicht aus Stein. Steine kann man abtragen, haben wir Erfahrung drin. Aber Geld vermehrt sich bei manchen Leuten wie grüne Scheißhausfliegen in einem Plumpsklo, wenn die Sonne ballert. Und mit denen hatten wir keine Erfahrung. Solches Dreckszeug hatten wir hier nämlich ausgerottet. Jedenfalls – wenn dir irgendwelche Unterschiede auffallen, kann es natürlich nur das aus der DDR sein, in dem gelogen wird, nicht wahr? Wer es anders sieht und den Mund nicht halten kann, ist ein Idiot. Weil er die Spielregeln unserer neuen Freiheit nicht kapiert hat. Er kriegt dann nämlich kein Geld mehr für seine Forschungen. Hat sich erledigt. Mit der Freiheit, meine ich. Hast du Geld, bist du frei. Hast du keins, bist du im …“
Er verkniff sich das Fäkalwort. Die Kohlensäure in seinem Magen war in der falschen Richtung unterwegs. Er hielt sich eine Hand vor den Mund. „T‘schuldigung. Wo war ich? Ach ja. Also, weil die Scheißhausfliegen genau aufpassen. Die wollen nu mal eine Vergangenheit, die für ihre Gegenwart passt, damit auch ihre Brut eine Zukunft hat. Wenn du deinen Beruf liebst und die wirkliche Geschichte schreiben willst, lassen sie dir von ihren Stiefelleckern vor die Kniescheibe treten und dann sortierst du Akten im Keller. Für Liebe wird nicht bezahlt. Ist wie auf der Reeperbahn in Hamburg, Kohle, dann Beine breit. Nur, dass die Frauen da nicht ihre Seele verkaufen, aber ich soll es, damit ich Karriere machen kann. Wissenschaft geht anders, die wertet nicht, sondern sagt, was ist. Ich werde kein Historiker. Ich werde ein Hintertreppenreporter der Vergangenheit; einer, der verlogene Wahrheiten für die Boulevardpresse der Geschichte schreibt – quasi der Urvater des gegenwärtigen Journalismus. Geiles System. Und die Leute finden es toll.“
„Das war die Schneeflocke auf der Schiene? Das sieht mir eher nach einer Lawine aus.“ Sie wischte sich etwas aus dem Auge.
Er warf einen Blick in seine Bierflasche. Ein paar Tropfen grinsten ihn verloren vom braunen Boden an. Keine Flammenzeichen. Keine Lösung. Schade eigentlich, fand er. „Nein,“ antwortete er. „Das war nur allgemeines Auskotzen. Wortdurchfall. Rein philosophisch. Die Welt ist schlecht und mein Bier alle.“
„Enttäuschung tut weh, oder?“, meinte sie, kam ein paar Schritte näher und lehnte sich mit ihrem Po an seinen Schreibtisch, ein Bein leicht vor das andere gestellt. Das schwarze Leder ihres knielangen Rocks spannte sich um ihre kräftigen Oberschenkel wie eine zweite Haut. Sie wirkte nicht, als ob sie besonders viel Mitleid mit ihm hatte.
„Ach, du armes Menschenkind. Nur wenn du Gefühle bei dir selbst zulässt, wirst du sie auch bei anderen verstehen können. Sie machen uns zu Menschen und das Leben lebenswert. Jedem Schmerz aus dem Weg zu gehen, ist kein Leben, sondern nur ein Existieren. So leben nicht Menschen, so leben Psychopathen.“
„Danke, Frau Professor.“
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