Rudolf Minh und die Kirschkerngehirne

Es war das Jahr 2014, kurz nach dem Putsch auf dem Maidan in Kiew, als ich dieses Kapitel für meinen Roman schrieb. Ich denke, es ist Zeit, es wieder hervorzuholen.
Der Samstagabend neigte sich seinem Ende entgegen. Eine zierliche Frau in der dunkelblauen Dienstuniform der Sicherheitsinspektionsteams von NordicSF mit den Rangabzeichen eines Majors marschierte durch die menschenleere Abfertigungshalle des Flughafens in Richtung einer der Sicherheitsschleusen.
Alles an ihr wirkte beherrscht und nicht viele konnten von sich behaupten, sie je etwas hatte tun sehen, was sie nicht genau so gewollt hätte. Die drahtige Neunundvierzigjährige machte auf den ersten Blick einen unscheinbaren Eindruck. Sie war nicht besonders groß, trug ihre grauen Haare stets militärisch kurz und verzichtete auf jede Betonung weiblicher Attribute in ihrem fast androgynen Erscheinungsbild. Sie war eine von den Menschen, für die ein Blick schon fast verschwendet schien. Doch wer sich die Zeit für einen Zweiten nahm und ihr ernsthaft in die tiefliegenden grauen Augen schaute, machte meistens, dass er weiter kam. Sie hatte etwas mitgebracht aus dem Sand der nordafrikanischen Wüste, in dem sie sich ihre Sterne auf die harte Tour verdient hatte und das lauerte in einem Netz von Krähenfüßen rund um ihre Augenwinkel. Nicht, dass Majorin Jean Thatcher die Augen eines Killers gehabt hätte, aber sie strahlte etwas aus, dass nur Menschen an sich haben, die mit dem Tod auf du und du stehen und ihm dabei stets einen Schritt voraus sind.
Ein hohes Tier der Firmenleitung aus Oslo hatte es übersehen, als er fast volltrunken aus dem Flieger getorkelt und der Meinung gewesen war, dass für ihn die Einreiseformalitäten nicht gültig seien. Er hatte der zwei Köpfe kleineren Frau erklärt, wo sie ihn gerne kontrollieren könnte und dass sie dazu nicht einmal auf die Knie gehen müsste. Die Antwort der Majorin hatte eine Sekunde gedauert. Seine Sekretärin hatte ihn anschließend vom Fußboden des Kontrolldurchlasses kratzen können.
Das System in der Sicherheitsschleuse zum Tower checkte mithilfe des in ihrem linken Unterarm implantierten Chips ihre Identität sowie ihre Berechtigungsstufe und gab, als es nichts zu beanstanden fand, den Fahrstuhl zum Flugkontrollzentrum frei. Nur wenige Sekunden später trat sie durch die Tür des Towers, ihre Laune schwappte in den Raum wie schwerer Rauch und etwas in ihr zog Befriedigung daraus, dass alle sofort ihre Haltung strafften, selbst die Zivilisten, bis auf einen. Den nahm sie sich als Ersten vor: „Minh! Ich will einen kompletten Statusbericht“, bellte sie den Flugleiter an.
Rudolf Minh war ein schmaler Mann mit einem Wohlstandsbäuchlein und nur noch wenigen weißen Haaren auf dem Kopf. Er blickte aus dem Fenster in die rot und groß untergehende Sonne und dachte daran, dass nur noch vier Stunden Nichtstun vor ihm lagen. Seine Sporen hatte er sich auf dem Großflughafen Hamburg verdient, erst als Fluglotse, danach als einer von fünf Flugbetriebsleitern. Er war in seinem Job aufgegangen, und als man ihn hierher in die Provinz versetzt hatte, war es für ihn gewesen, als hätte man ihm ein Bein abgenommen.
Die Laune der Majorin ließ ihn kalt. Sie hatte hier nur bei einem Sicherheitsverstoß etwas zu sagen, und den gab es nicht. Sein Großvater war aus Vietnam in die DDR eingewandert und hatte erst an Buddha, dann an Demokratie und Sozialismus, danach an die soziale Marktwirtschaft und zum Schluss an ein buntes Europa geglaubt. Auf seinem Sterbebett hatte er an gar nichts mehr geglaubt, nicht einmal mehr an einen Gott, der eine solche Welt erschaffen haben sollte und zu dem er hätte heimkehren können.
Rudolf Minh hatte sich die Ansichten seines Großvaters zu eigen gemacht und verabscheute alle Uniformträger aus tiefster Seele. Für ihn sahen die Militaristen nicht nur gleich aus, sie dachten auch gleich und jeder von ihnen stank nach verfaulten Leichen. Sie waren nur glücklich, wenn sie morden, foltern und vergewaltigen konnten. Und wenn gerade kein Krieg zur Hand war, in dem sie es straflos tun konnten, dann brachen sie einen vom Zaun. Probleme kannten sie nur, wenn sie gerade nicht die richtige Waffe zur Hand hatten, um sie zu lösen. Dann entwickelten sie schnell eine und nannten es „Fortschritt“. Wie die Atombombe.
Es gab nur einen Menschenschlag, den er noch mehr hasste – die, die mit einem Federstrich oder Tastendruck morden, foltern und vergewaltigen ließen, millionenfach. Sie trugen feine Anzüge und Kleider, benutzten die besten Parfüms, damit ihren Leichengestank nicht roch und ließen es ihre Schreibervasallen „Raum für das Volk“, „Vorneverteidigung“ oder „NATO-Ostfront“ nennen. Wenn es dann endlich so weit war, befahlen sie die Schießwütigen und Dummen zur Waffenkammer, die tauschten ihr Erbsengehirn gegen eine möglichst große Kanone und zogen fröhlich singend in jeden Krieg, den die Schreibtisch-Massenmörder ihnen befahlen. Der Grund war nie Religion oder Glaube, nie Demokratie. Der Grund war immer „Freiheit“: Die Freiheit der Anzugträger, Geld zu scheffeln und ihre Macht zu erweitern.
Die Majorin riss ihn aus seinen Gedanken. „Ich will den Flughafenstatus, Minh. Pennen sie hier nicht rum!“
Freundlich antwortete er: „Ihnen auch einen guten Abend, Major Thatcher. Zwei zivile Starts stehen noch auf dem Plan. In zwanzig Minuten hebt Flug N14 ab und landet in ca. drei Stunden wieder. Um einundzwanzig Uhr zehn startet N15. Ab zweiundzwanzig starten und landen jeweils die üblichen Frachtmaschinen. Das ist alles für heute. Und das Flugwetter ist wirklich hervorragend.“ Mehr brauchen Sie nicht zu wissen, Sie würden es eh‘ nicht verstehen, hätte er am liebsten hinzugesetzt, aber wozu sollte er die eiserne Lady noch weiter reizen?
Aus der schlechten Laune der Majorin wurde echte Wut. Diese Scheißschreibtischstrategen hatten nichts aus ihren Fehlern gelernt oder dachten sie, dass sie unverwundbar waren?
Sie schnauzte: „Ich will einen Sicherheitscheck Stufe 2. Sofort!“
Minh rührte sich nicht. „Warum sollte ich? Außer Ihrem Erscheinen ist hier nichts passiert, was mir wirklich Anlass zur Sorge gibt.“ Sein unverbindliches Lächeln geriet keine Sekunde ins Wanken.
„Reden Sie mich gefälligst mit ‚Major‘ oder „Madam‘ an! Und dann überprüfen Sie Ihre verdammten Systeme! Sofort!“, fauchte die Majorin und jeder im Raum registrierte die sich spannenden Wangenmuskeln in ihrem Gesicht.
Minh kreuzte seine Arme vor der Brust. Militarist, dachte er. Gehirn auf Kirschkerngröße aufgeblasen. Er hatte eine Rosenzucht daheim und eine Frau, die auch einmal im Monat für zwei Tage von ihren Menstruationsschmerzen gequält wurde, gegen die kein Medikament half. Sie wenigstens besaß genug Verstand, ihm in dieser Zeit aus dem Weg zu gehen. Die Majorin offenbar nicht.
„Meine Systeme zeigen immer den Status grün, Thatcher. Falls Sie die des Flughafens gemeint haben – die ebenfalls. Außer Ihnen haben wir hier kein Sicherheitsproblem und Sie damit Sendepause. Und jetzt gehen Sie mir aus der Sonne, ich will ihre letzten Strahlen noch ungestört genießen. Nach Lage der Dinge im Osten könnte es durchaus das letzte Mal sein, dass ich die Gelegenheit dazu habe.“


Verfasst 25. Februar 2023 von Rainer Sonnberg in category "Im Übrigen bin ich der Meinung ...

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