Meerjungfrauen küssen nicht

Eine phantastische Liebesgeschichte

 

August 1980, Ostsee

Unnachgiebig trieben ihre vier Wasserstrahltriebwerke die Time Bandit II durch die Ostsee. Die entfesselte Kraft von neunzigtausend Pferden in ihrem Maschinenraum ließ sie mit dreißig Knoten durch das Wasser jagen, als würde sie jeden Moment abheben und in einen Gleitflug übergehen wollen.
Obwohl auf den besten Schwingungsdämpfern gelagert, die es für Geld zu kaufen gab, waren die Vibrationen der mächtigen Motoren stark genug, dass Albina R. Devereaux sie selbst in ihrer Kapitänskajüte noch spürte, ebenso, wie sie das Pfeifen der beiden Gasturbinen hörte. Noch nie in den letzten zehn Jahren hatte sie die Kraft der Maschinen ihrer einhundertsechzig Meter langen Luxusyacht bis an ihre Leistungsgrenzen ausreizen müssen und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das auch nie geschehen dürfen. Als der Notruf aus Moskau eingegangen war, hatte sich die Time Bandit im Südatlantik aufgehalten. Doch wegen der Havarie eines Frachters im Nordostseekanal hatte sie den langen Umweg über das Skagerrak in die Ostsee nehmen müssen und dabei zwölf Stunden verloren.
Unruhig tigerte sie in ihrer Kajüte hin und her, warf immer wieder einen Blick aus dem mit kugelsicherem Glas versehenen Fenster auf die vorbeirasenden Wellen und unterdrückte mit aller Macht den Wunsch, vor Nervosität an ihren perlmuttfarbenen Nägeln zu kauen. Drei Stunden lang hatte sie es auf der Brücke in ihrem Sessel nach ihrem Befehl, mit voller Kraft zu fahren, ausgehalten, dann war der Bewegungsdrang in ihr so übermächtig geworden, dass sie in ihre Kabine gegangen war, damit die Besatzung nicht bemerkte, wie nervös sie war.
Sie war eine große schlanke und doch kräftig wirkende Frau mit einem schmalen Gesicht. Falten um Augen und Mundwinkel furchten es, braune Altersflecken an Hals und auf den Wangen verunzierten es und doch zeigte es noch immer die Spuren ihrer einstigen Schönheit. Ihre grünen Augen waren leicht schräggestellt und schmal, als hätte sie asiatische oder mongolische Vorfahren und mit der streitbaren Intelligenz, die aus ihnen leuchtete, und der Art, wie sie sich selbst bei hohem Seegang mit scheinbar schwereloser Eleganz bewegte, hatte sie etwas von einer Katze auf Beutejagd. Das Alter hatte ihr so manche Runzel verpasst, dass Leben so manchen Hieb, aber beugen hatten beide sie nicht können. Nur manchmal, wenn sie allein in ihrer Kapitänskajüte war, gestattete sie sich, die Schultern nach vorn fallen zu lassen, und blicklos auf die vorbeiziehenden Wellen zu starren, um den Zug einen Mund von Bitterkeit.
In ihrem Pass stand der Name Albina R. Devereaux, aber sie hatte schon so viele Namen benutzt, dass sie sich nicht einmal mehr an alle davon erinnerte. Die Besatzung nannte sie nur Skipper und manchmal, wenn sie glaubten, dass sie es nicht hörte, auch Käpt’n Nemo oder den Fliegenden Holländer.
Sie streckte die Hand nach dem Intercom aus, dann zog sie sie wieder zurück. Der erste Offizier würde sie benachrichtigen, wenn es Neuigkeiten gab, ein Anruf auf der Brücke hätte die Crew nur noch nervöser gemacht, als sie ohnehin schon war. Stattdessen rief sie den leitenden Ingenieur im Maschinenraum an. „Können wir mit den Turbinen auf volle Kraft gehen?“
„Hm …“
Sie wusste, dass sich jetzt ein schiefes Verlegenheitsgrinsen in seinem bulligen Gesicht breitmachte und er sich die kahle Schädeldecke kratzte, bevor er ihr die Antwort gab. „Immer noch das, was ich Ihnen damals schon gesagt habe. Klar können die auf voller Kraft laufen. Wozu hat man schließlich seine Pferdchen, wenn man sie sich nicht mal austoben lässt, nicht wahr? Nur zusammen angespannt, sind sie ziemlich zickig. Die Diesel sind mechanisch entkoppelt, stehen auf verschiedenen Grundplatten, aber die Turbinen nicht, Konstruktionsfehler, aber auf mich wollte ja keiner hören. Ich meine, wenn Sie unbedingt wollen, dass wir uns eine sich aufschaukelnde Resonanzschwingung einfangen, können wir das ruhig mal ausprobieren. Allerdings – dass es uns dann die Antriebswellen aus den Lagern gerissen hat, wird danach unser kleinstes Problem sein. Nur, falls sie verstehen, was ich damit meine, Skipper. Dann sieht der Maschinenraum nämlich aus, als wäre da eine Cruise Missile eingeschlagen. Und falls es doch gutgeht, donnern wir mit fünfunddreißig, vielleicht sogar sechsunddreißig Knoten durch die Ostsee, dem am dichtesten mit Radar und Messbojen gespickten Gebiet der Welt. So schnell ist kein ziviles Schiff dieser Größe. Wir werden auf jedem Radarschirm leuchten wie ein Weihnachtsbaum. Im Gehirn von jedem Marineoffizier, der das sieht, sowieso. Die werden uns jagen, als hätten wir die Bank von England ausgenommen und die Ostsee ist eine verdammte Mausefalle. Es ist Ihr Schiff, aber wollen Sie das wirklich riskieren? Bei allem Respekt: Wir fahren jetzt fünfundsiebzig Prozent, bis neunzig bin ich noch bei Ihnen, aber dann …“ Den Rest des Satzes ließ er offen.
Sie sagte: „Danke,“ und ließ sich in einen Sessel fallen, nahm ihren langen grauen Zopf in die Hand und spielte nachdenklich mit der Quaste an seinem Ende. Nicos Venizialos, der Schiffsarzt, neckte sie des Öfteren damit. Mit siebzig trug man seine grauen Haare nicht mehr hüftlang wie ein sechzehnjähriger Backfisch, meinte er.
„Dann wird ihn mir wohl jemand abschneiden müssen,“ hatte sie einmal in einer stillen Stunde geantwortet.
Er hatte gelacht, ihren Zopf berührt und spöttisch gemeint: „Wer würde es wagen, Hand an Euch zu legen, Euer Schaumgeborenheit?“
Er war in die Mythologie seiner griechischen Heimat vernarrt, selbst sein hochmodernes und bestens ausgestattetes Schiffslazarett nannte er manchmal die Höhle des Hephaistos. Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hatte er ihr eine kleine Alabasterstatue der sitzenden nackten Aphrodite auf ihren Schreibtisch gestellt, die er mit seinen geschickten Händen selbst angefertigt hatte. Schon beim ersten Blick darauf hatte sie gewusst, wessen Körper er im Kopf gehabt hatte, als er sie modelliert hatte.
Schön wie Aphrodite oder Venus, wie die Römer die griechische Göttin der Liebe genannt hatten – sie streckte die Hand aus, fuhr mit einem Finger die vollkommenen Kurven der Figur nach, schloss die Augen und gestattete sich für einen Moment einen Traum von einer Vergangenheit, die, wenn schon nicht die ihre, dann aber die der alten Griechen gewesen war.
Zeus sollte in jener Zeit von seinem Thron auf dem Stefani, dem dritthöchsten Berg des Olymps, die Geschicke der Menschen gelenkt haben und doch hatte man Uranos den Herrscher der Welt genannt. Dessen Ehe mit Gaia, der Mutter Erde, war nach der Sage nicht mit allzu viel Glück und Liebe gesegnet gewesen. Auf ihr Geheiß hatte ihr Sprössling Kronos seinem Vater Uranos das Gemächt weggeschnippelt und es über seine Schulter in den Ozean geworfen. Nicht nur Uranos war deswegen verständlicherweise fürchterlich aufgewühlt gewesen, sondern auch das Meer selbst. So sehr hatte es geschäumt, dass seine Wogen gen Himmel gestiegen waren. Als es sich nach vielen Tagen endlich wieder beruhigt hatte, war den Wellen am Strand der Insel Zypern eine wunderschöne Frau entstiegen, geschaffen aus der Potenz des Weltenherrschers Uranos und dem wütenden Schaum des Meeres: Aphrodite, die Schaumgeborene.
Ihre strahlenden Augen, ihr bis zur Hüfte wallendes Haar, ihr Liebreiz und ihr unvergleichlich geformter Leib hatten die Göttinnen Hera und Athena wie alte Waschweiber aussehen lassen und Zeus hatte nicht anders gekonnt, als sie an Kindes statt unter seine Obhut zu nehmen und sie zur Hohepriesterin der Liebe zu machen. Ob er sie tatsächlich dann auch nur wie eine Tochter behandelt hatte, darüber stritten sich die Geister bis heute, wie sich die göttliche Hera mit ihrem Mann Zeus gestritten hatte. Doch in einem waren sich alle einig: dass die Göttin der Liebe viel Unheil angerichtet hatte, auch wenn sie vielleicht immer nur gute Absichten gehabt hatte.
Albina wusste nicht, ob es einen Himmel gab und man ihn über gute Taten erreichen konnte. Aber eines wusste sie genau: Die Hölle existierte und der Weg zu ihr war mit guten Absichten gepflastert.
Als hätte sie sich verbrannt, zog sie die Hand von ihrer Skulptur zurück.

***

Christian saß auf seinem Lieblingsstein am Strand von Markgrafenheide und ließ die nackten Füße ins Wasser baumeln. Ziellos schweiften seine Gedanken umher. Mit jedem Atemzug sog er Luft wie süßes Blei mit einer Beimischung von ein wenig Meeressalz in seine Lungen. So bitterherb schmeckte die Luft nur hier an der Ostsee an einigen wenigen, ganz besonderen Abenden im Jahr.
Er zog die Beine an, legte seine Arme um sie und stützte sein Kinn auf die Knie. Der Felsen unter seinem Po hatte die Wärme der Sonnenstrahlen gespeichert und sandte sie als Gefühl über die Nervenbahnen in seinem Rückgrat an sein Gehirn. Bis vor drei Jahren hätte sein Herz sie wieder problemlos in das Licht eines Lächelns auf seinem Gesicht zurückverwandeln können – wenn er diesem Organ noch mehr als nur eine biologische Funktionalität zugestanden hätte. Doch das tat er nicht, nicht mehr. Darum war ihm der leere Strand nur recht. Er liebte die Stille, in der ihn niemand in seinen Gedanken störte, so sehr, wie er den Konjunktiv und das Nachdenken über das, was hätte sein können, hasste. Entgehen konnte er dem trotzdem nicht.
Der Abend war warm und windstill und das Wasser glatt wie ein Spiegel. Kein Windhauch vertrieb den Geruch von Sonnencreme, verfaulendem Tang und totem Fisch. Nach der Hitze des Spätsommertages waren am Nachmittag dicke Wolken aufgezogen und hatten die Wärme konserviert wie in einer Thermoskanne. Nun, kurz vor Sonnenuntergang, trieben sie wieder davon. Doch im Osten waren schon die nächsten zu sehen.
Der Strand leerte sich. Bis eben hatten lärmende Kinder Sandburgen gebaut, sich mit feuchtem Dreck und glibberigen Quallen beworfen und ihre Eltern das Geschrei mit der Musik aus ihren Kofferradios noch zu übertönen versucht. Jetzt machten sie sich auf nach Hause zum Abendbrottisch. Auch in den Ferienhotels war Fütterungszeit und wer dabei zu spät kam, den bestrafte zwar nicht gleich das Leben, aber sein Magen.
Der Strand hätte sich auch geleert, wenn statt der Finsternis die Schönheiten des Fernsehballetts eine Stripteaseshow im Sand dargeboten hätten. Jeder Urlauber wurde über das Nachtbadeverbot an der Ostseeküste belehrt, sobald er im Ferienhotel seinen Personalausweis zur Anmeldung auf den Tisch des Empfangs legte. Die Freiheit war für DDR-Bürger nur drei Seemeilen entfernt, vorausgesetzt, sie erreichten ein Schiff außerhalb der Hoheitsgewässer, bevor sie in der Ostsee ertranken. Trotzdem versuchten es immer wieder Wagemutige. Sehr weit kamen sie nie. Entlang der ganzen Ostseeküste der DDR standen Wachtürme und die Soldaten der Grenzbrigade Küste sorgten mit regelmäßigen Strandpatrouillen dafür, dass jeder Versuch, schwimmend aus dem Land zu flüchten, schon in seinem Anfangsstadium zunichtegemacht wurde.
Es waren Ferien und seit er sich erinnern konnte, hatte er sie hier bei seiner Großmutter verbracht. Sein Großvater war jeden Tag mit dem Boot zum Fischen hinausgefahren und seitdem er nicht mehr war, sammelte sie nach jedem Sturm Bernsteine am Strand. Wenn die Abende lang wurden, schliff sie daraus Schmuckstücke, fädelte sie mit ihren zittrigen Händen mühsam auf Ketten und verkaufte sie an die Urlauber. Zusammen mit ihrer Rente reichte das für sie zum Leben und auch dazu, ihre Hütte so weit instand zu halten, dass sie nicht über ihr zusammenbrach. Sie war sehr belesen und trotzdem abergläubisch. An manchen Abenden im August und November verschloss sie mit besonderer Sorgfalt das Haus, klappte noch beim letzten Tageslicht die hölzernen Fensterläden zu und überprüfte penibel, dass alle Riegel in ihren Halterungen eingerastet waren, als hätte sie Angst, dass etwas Böses dem Meer entsteigen und in ihr Haus eindringen könnte. Wenn die Luft dir schwer wie Blei auf die Brust drückt und die Sonne blutrot das Wasser berührt, darfst du niemals an den Strand gehen, hatte sie Christian gesagt. Warum, das hatte sie nie erklärt.
Tatsächlich zeigte der Rand der Sonne, der eben begann in den Fluten der Ostsee zu verschwinden, ein so intensives Blutrot, wie er es noch nie gesehen hatte, und er fragte sich, vor welcher uralten Legende seine Großmutter wohl Angst haben mochte. Er war fünfzehn, hatte in den letzten zehn Jahren mehr Bücher gelesen, als die meisten Menschen es in ihrem ganzen Leben schafften, und so wusste er, dass in den Nächten im Jahr, in denen sie sich so seltsam verhielt, große Meteoritenströme die Umlaufbahn der Erde kreuzten, von denen einige glühende Spuren im nächtlichen Himmel der Erde hinterließen.
Eine erster, feuriger Vorbote des mächtigen Stroms der Perseiden zog über den Himmel. Mittlerweile war es merklich dunkler geworden, auch weil neue Wolkenbänke über den Himmel zogen. Außer einer Frau, die in seine Richtung ging, sah er keine Menschenseele mehr am Strand. Alle Fischerboote waren vom Fang heimgekehrt, selbst auf der Reede vor Warnemünde lag kein Schiff mehr vor Anker. Das Meer war glatt wie ein Teich, das Wasser glänzte wie blutrotes Silber und selbst das allgegenwärtige Rauschen der Wellen schien verschwunden. Eine einzelne Möwe flatterte direkt über seinem Kopf und ihr Geschrei war der einzige Laut, den er noch hörte. Etwas schien in der Luft zu liegen, undefinierbar, nicht greifbar und doch so präsent, dass ihm ein Schauder den Rücken hinunter rann.
Immer weiter versank die Sonne im Meer. Dämmerung zog herauf, mit ihr kam eine Brise kalter Luft, und die einsame Frau auf ihrem Strandspaziergang. Bis zur Hüfte wallten ihr lockige und Haare trotz des fußlangen Wickelrocks schien sie sich in dem tiefen und weichen Sand nicht einmal quälen zu müssen, fast so, als würde sie schweben. Etwas sagte ihm, dass sie nicht hierhergehörte, weder hier wohnte, noch eine Urlauberin war. Direkt hinter ihr ging die Sonne unter, ihre Strahlen schienen durch sie hindurch zu gehen und und sie in ein unwirkliches Licht zu hüllen. Ein unerklärliches Schaudern rann ihm den Rücken herab und die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich steil auf. Plötzlich war ihm, als hörte er seine Großmutter rufen: Flieh, lauf weg, bevor es zu spät ist!
Mit einem bitteren Auflachen verjagte er den Schauder. Es waren nicht die Geister und nicht die Legenden, die ihm angst machten. Eine Frau vielleicht, aber das lag an der blöden Pubertät, die seine Hormone und damit sein Fühlen und sein Denken aus dem Gleichgewicht brachte. Auch, wenn er alles darüber gelesen hatte, was er in die Finger bekommen hatte und seine Großmutter es ihm erklärt hatte, änderte es nichts an dem, was das Erwachsenwerden allen fünfzehnjährigen Jungen antat. Er hasste seinen Körper, der ihm auf einmal vorkam, als wäre es gar nicht seiner und seinen Kopf dafür, dass er damit nicht zurechtkam.
„Ist es nicht langweilig so alleine? Warum gehst du nicht dahin, wo alle sind?“
Sie blieb vor ihm stehen. Wahrscheinlich meinte sie ‚alle anderen‘, doch ihr Akzent verriet ihm, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war, sondern offensichtlich Russisch. Sie trug ein schulterfreies Wickelkleid in Dunkelblau, unter dem kleine Füße in Riemchensandalen hervorlugten und eine große rote Umhängetasche aus Stoff. Ihre straffe, aber für den langen Sommer zu weiße Haut hatte Sommersprossen und zeigte Spuren eines beginnenden Sonnenbrandes. Ihre Augen leuchteten in einem herrlichen Grün, ihre langen Locken hatten das satte Rot des Weines, den seine Großmutter so gerne trank und sie roch nicht nach Sonnencreme, die er nicht mochte, sondern duftete wie eine Frühlingswiese, wenn die Sonne aufgeht und die Blüten sich öffnen. Sie war … wunderbar.
Scheiß Pubertät, krieg dich wieder in den Griff! Wütend meldete sich der nicht in Hormonen ertrunkene Teil seines Gehirns. Er straffte sich, ließ die Beine wieder ins Wasser baumeln und versuchte, seinen Verstand zur Arbeit bewegen. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, ihr Blick war nicht klar, sondern wirkte gehetzt, ihr Gesicht zeigte Müdigkeit und ein verbissener Ausdruck lag darauf. Den gleichen Ausdruck hatte seine Großmutter immer im Gesicht, wenn sich eine Perle partout nicht auf die Kette fädeln lassen wollte. Sie wehrte dann jede Hilfe ab von ihm und kämpfte verbissenen solange mit ihren vor Altersschwäche zittrigen Fingern, bis sie es geschafft hatte. Aufgeben kam für sie nie Frage und er fürchtete den Tag, an dem es passierte.
Er erhob sich von seinem Sitz. Etwas in ihm verlangte, dass er auf Augenhöhe mit ihr war, wenn er antwortete und es musste etwas Kluges sein, etwas, das sie nicht erwartete. Wie jedes Schulkind der DDR lernte er seit der fünften Klasse auch Russisch. Er wusste, dass sich seine Aussprache zwar grausam anhörte, weil ihm die Übung fehlte, aber auch, dass er keine Fehler machen würde, weil sich bei jedem deutschen Wort, an das er dachte, die russische Entsprechung in seinem Kopf finden würde und die russische Grammatik im Gegensatz zur deutschen eine Autobahn war, die er nur entlang fahren musste.
Er räusperte sich, dann antwortete er auf Russisch: „Das ist unlogisch. Wenn alle da sind, muss ich ja auch schon da sein. Und Sie auch. Sonst wären es ja nicht alle. Dann wären wir uns hier aber nicht begegnet.“
Es waren zwei holprige Sätze geworden und er ärgerte sich darüber. Doch die erstaunt hochgezogene Augenbraue in ihrem schönen Gesicht tröstete ihn.
Mit einer unfassbar weiblichen Bewegung warf sie ihre Haare über eine Schulter, neigte den Kopf zur anderen Seite und betrachtete ihn. Für einen winzigen Moment blieb ihr Blick an seiner Badehose hängen, dann schaute sie schnell in den dunklen Himmel.
„Ein junger Philosoph unter den Tränen des Laurentius, der wahrscheinlich zum ersten Mal mit einer Russin spricht.“ Mit einem leisen Lachen fügte sie hinzu: „Danke für das wahrscheinlich ungewollte Kompliment.“
Nur zu deutlich spürte er, was sie meinte. Zusammen mit einem plötzlichen Engegefühl, das von seiner Hose ausging, stieg Hitze in ihm auf und er wusste, dass sein Gesicht jetzt rot wurde.
„Es muss dir nicht peinlich sein. Du wirst ein Mann.“ Sie wies mit dem Finger nach oben. „Eine Laurentiusträne. Schau!“ Kindliche Freude vibrierte in ihrer Stimme ebenso wie die Sinnlichkeit der erfahrenen Frau.
„Das da oben sind keine Tränen von irgendwem,“ entgegnete er barsch. „Nur Mikrometeoriten, die sich durch die Reibung an der Luft erhitzen, dann glühen und schließlich zerspringen. Im November und August gibt es besonders viele davon. Leoniden und Perseiden nennen die Astronomen diese Ströme. Einen Zusammenhang zwischen ihnen und einem römischen Märtyrer herzustellen, der am zehnten August 258 nach Christi von Kaiser Valerian auf einem Rost mit glühenden Kohlen gefoltert worden sein soll, fällt nur den dummen Menschen ein.“
„Es ist immerhin eine schöne Geschichte.“
„Von Folter und Mord.“
„Von Aufopferung für andere. Ist das nicht etwas Wunderbares?“
„Nur für die anderen. Was in der logischen Konsequenz dazu führt, dass sie immer darauf warten, dass sich jemand für sie aufopfert, statt selbst etwas zu tun. Ich würde mich nie für jemanden opfern. Tut ja für mich auch keiner.“
Sie faste ihre Tasche fester und es schien, als wollte sie gehen. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Man sagt, dass demjenigen, der das Glück hat, eine solche Sternschnuppe zu erblicken, sein geheimster Wunsch erfüllt wird. Aber nur, wenn er ganz fest daran glaubt.“
Er lachte bitter. Es brach einfach aus ihm heraus. „Würde Glück alleine nicht schon genügen? Ein winziges bisschen, an das man sich, wenn man es schon nicht festhalten kann, wenigstens erinnern kann?“
Wieder sah sie ihn mit diesem nachdenklichen Blick an, bewegte den Arm, er versteifte sich und sie stoppte die Bewegung, Millimeter, bevor sie ihn berührte. „Du bist einsam,“ stellte sie fest.
Blödsinn, sagte sein Verstand und der Held, der in jedem jungen Mann schläft, wollte, dass er sich aufrichtete, ihr in die Augen blickte, um ihr genau dieses Wort ins Gesicht zu schleudern. Doch die drei Worte hatten nicht nach Mitleid geklungen, sondern sich wie eine simple Feststellung angehört. Und sie war korrekt. Er las, wenn andere seines Alters versuchten, sich in die Disco zu schleichen. Wenn er etwas sagte, war es das, was er dachte und wenn er etwas tat, dann hatte er zuvor darüber nachgedacht. Nichts davon schaffte Kumpel, Freunde noch viel weniger. Die einzigen beiden Menschen, die ihn verstanden, waren seine Großmutter, deren Hände und Stimme immer zittriger wurden und sein Vater, der nie zu Hause war.
Er winkte ab: „Das ist nur was Schlimmes für Schafe, die ihren Leithammel verloren habe.“
„Und du brauchst keinen.“
„Ich will keinen. Ich denke, Gesellschaft wird überbewertet. Wahrscheinlich.“
„Jeder andere hätte gesagt: Ich glaube …“
Er lehnte sich mit seinem Po gegen den Stein und wühlte mit den Zehen kleine Löcher in den feuchten Sand. „Mein Gehirn hat nur ein bestimmtes Fassungsvermögen. Je mehr Glaube ich hineinlasse, um so weniger Platz bleibt mir für Wissen. Und ich will viel wissen. Außerdem: Hört sich das nicht viel besser an? Ich denke, statt: Ich glaube? Schließt das eine nicht das andere aus?“
„Aber Glaube, kleiner Philosoph, ist Hoffnung. Wissen ist Zweifel.“
Das mit dem kleinen Philosophen ärgerte ihn. Sie machte sich lustig über ihn. Mit einem Blick auf seine Zehen grummelte er: „Sie haben da zwei Axiome gesetzt, wie es die Kirche seit zweitausend Jahren tut. Das ist ziemlich unfair.“ Er kratzte sich an der Nase. „Aber schauen wir doch mal, ob ich nicht wenigstens eins davon ad absurdum führen kann, auch wenn ich nicht Galilei bin. Also, wenn ich weiß, wie viel Menschen es auf der Erde gibt, wie groß ihre Oberfläche ist und noch ein paar andere Fakten, die mir jetzt noch nicht klar sind, aber die man ganz sicher messen kann, dann kann ich irgendwann berechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich Sie zu einem Zeitpunkt wiedersehe, an dem ich groß genug bin, dass Sie nicht mehr über mich lachen. Sie mag zwar klein sein, vielleicht sogar nahe null, aber nicht ganz. Offensichtlich, da ich weiß, wie Sie aussehen, wo Sie herkommen etc., lassen sich einige dieser Fakten beeinflussen und damit die Wahrscheinlichkeit noch erhöhen. Es ist nur eine Frage des Wissens. Ergo: Wissen ist nicht Zweifel, sondern Hoffnung.“
„Warum willst du mich wiedersehen?“
Er wurde wieder rot, weil er erst jetzt begriff, was er eben von sich gegeben hatte.
Sie legte ihre Fingerspitzen an die Lippen, ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann stellte sie fest: „Du bist wirklich ungewöhnlich.“
Ein paar Atemzüge lang schwieg sie, als wüsste sie nicht, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Plötzlich wies sie zum Himmel. „Schau hin, da ist wieder eine!“
Er blickte hoch, und als die Träne des Laurentius verglühte, war sie schon ein paar Schritte weitergegangen.
Über die Schulter rief sie zurück: „Damit ein Wunsch in Erfüllung gehen kann, muss man zuerst den Mut finden, ihn auszusprechen, und zwar deutlich. Daran scheitern die meisten Wünsche und nicht, weil es nicht genug Sternschnuppen gibt.“
„Ich kenne nicht einmal Ihren Namen!“, rief er ihr hinterher.
Ihr Lachen klang wie das silberhelle Läuten eines Glöckchens im Nebel. „Finde ihn heraus! Ein Fakt mehr für deine Berechnung! Ich bin eine Nymphe, die die Geliebte von Göttervater Zeus werden sollte. Doch stattdessen stürzte ich mich von einer Klippe ins Meer. Poseidon hat mich gerettet und so werde ich die Unbesiegbare genannt. Wenn du nichts als Finsternis um dich spürst, dann rufe mich bei meinem wahren Namen und ich komme und erhelle sie dir.“
Er schrie: „Sie nehmen mich auf den Arm!“
„Habe ich nicht gerade ein Licht ange…“
Den Rest des Satzes verstand er nicht mehr, sie war schon zu weit weg. Er schaute ihr so lange nach, bis eine Biegung des Ufers und ein paar Strandkörbe sie seinem Blick entzogen, dann setzte er sich wieder auf seinen Stein und ließ die kleinen Wellen seine Füße umspülen. Er hätte gerne die Sterne gesehen, doch der Himmel war so schwarz, dass er nicht einmal die Wolken sehen konnte, die ihn erneut verdunkelten.

***

Sie ging noch eine Viertelstunde weiter, bis die letzten Strandkörbe weit hinter ihr lagen und sie wusste, dass sie in einer Uferzone war, die tagsüber nur von wenigen Spaziergängern besucht wurde. Mehrere Reihen von Sanddünen hatten sich hier über tausende von Jahren gebildet, hoch genug, dass jemand, der sich zwischen ihnen und dem auf ihnen wachsenden Strandhafer befand, vom Strand aus nicht mehr gesehen werden konnte. Sie schaute sich noch einmal gründlich um und huschte, als sie nichts sah und hörte, zwischen die Dünen und setzte sich mit einem leisen Stöhnen.
Sie legte ihre Tasche neben sich, zog die Sandalen von den Füßen, ließ sich auf den Rücken sinken und schloss vor Erschöpfung die Augen. Mit der letzten Fähre hatte sie in Warnemünde über die Warnow übergesetzt und war von da zu Fuß den Strand entlangmarschiert. In ihrem sowjetischen Pass stand der Name Larissa Gromkowa und noch vor ein paar Tagen war sie trotz ihrer scheinbaren erst dreißig Jahre wegen ihres Wissens eine hochangesehene Onkologin und wegen ihrer Schönheit eine begehrte Frau gewesen. Beides hatte sie eingesetzt, um sich den Zugang zu einem geheimen Biowaffenprogramm in einem Laborkomplex in der Nähe von Leningrad zu verschaffen. Drei Jahre lang hatte ihre Tarnung gehalten, doch sie war Wissenschaftlerin, keine Expertin in verdeckter Kriegsführung, die Leute des KGB, die den Laborkomplex und die Wissenschaftler überwacht hatten, schon.
Als sie begriffen hatte, dass ihre Tarnung kurz davor war, aufzufliegen, hatte sie einen Notruf abgesetzt, das Labor sabotiert, ebenso den Test mit dem Prototyp eines neuartigen Kampfstoffs und war mit dem Zug über Brest nach Berlin geflohen. Viel Hoffnung hatte sie nicht gehabt, dass sie den KGB lange genug an der Nase herumführen konnte, aber zwei Tage hätten ihr genügt, um die in Warnemünde wartende Time Bandit zu erreichen.
Doch das Schiff war nicht da gewesen. Sie nannte es ihr Zuhause. Vielleicht hatte sie einmal ein anderes gehabt, doch sie erinnerte sich nicht mehr daran, genau so wenig wie an ihr Leben vor ihrem Erwachen dort. Sie hatte einen schweren Unfall gehabt, hatten ihr Albina und Nicos gesagt, von dem ihr nur ihr Wissen und ihre Fähigkeiten geblieben waren, aber nicht die Erinnerung daran, wie sie sie erworben hatte. Sie hatte nie einen Grund gehabt, an den Worten der beiden Menschen, die ihr so viel bedeuteten, zu zweifeln.
In einem kleinen Kaffee auf der Warnemünder Hafenpromenade hatte sie ausgeharrt, Stunde um Stunde, doch statt die Time Bandit einlaufen zu sehen, hatte sie einen Mann erkannt, der zur Wachmannschaft des Laborkomplexes in der Nähe von Leningrad gehört hatte. Offenbar hatte sie trotz ihrer falschen Papiere eine Spur hinterlassen und das bedeutete auch, dass sie, selbst wenn die Time Bandit noch einlaufen würde, keine Chance mehr hatte, die Hafenkontrollen mit diesen falschen Papieren zu passieren. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Ausweichvariante zu wählen, von der sie schon während der Planung gewusst hatte, dass die Chance, dabei umzukommen, wesentlich höher war, als die, zu überleben.
Der Lichtschein einer starken Lampe geisterte über den Strand. Sie machte sich so klein im Strandhafer, wie sie nur konnte, und zwang sich, ruhig zu atmen trotz ihres wild pochenden Herzens. Nach einigen Minuten verschwand der Lichtkegel und sie schätzte, dass sie jetzt mindestens eine halbe Stunde hatte, bis die nächste Patrouille kam.
Sie fragte sich, ob sie den Jungen in Gefahr gebracht hatte, weil sie ihn angesprochen hatte. Sie wusste nicht einmal zu sagen, warum sie es überhaupt getan hatte, schließlich war er so in seine Gedanken versunken gewesen, dass sie wahrscheinlich sogar unbemerkt an ihm hätte vorbeigehen können. Doch etwas war von ihm ausgegangen, dass sie neugierig gemacht hatte. Etwas, dass sie selbst jetzt noch spürte und was sie auch veranlasst hatte, ihm den Ursprung ihres Namens zuzurufen.
Ohne dass sie es bemerkte, spielte sie mit ihren Haaren. Ob er sich die Mühe machen würde, ihn herauszufinden? Ein normaler junger Mann in seinem Alter würde sich vielleicht noch eine Weile an ihren Körper, ihr Gesicht und seine Reaktion darauf erinnern, doch dann hätte er sie schnell vergessen. Mit beidem war sie sich bei ihm jedoch nicht sicher: dass er in die Kategorie ‚normal‘ fiel und dass er sie vergessen würde. Welcher junge Mann suchte freiwillig die Einsamkeit, konnte aus seinem Kopf eine Passage aus dem Lexikon zitieren und sie dann auch noch mit der Realität verknüpfen? Und er konnte nicht mehr glauben, dachte, Wissen wäre ein Ersatz …
Das Weib in ihr fragte sich, wie er wohl sein würde, wenn er ein Mann in der vollen Blüte seiner Kraft war. Dass er sie besitzen würde, dessen war sie sich sicher. Nicht nur einen schönen, kraftvollen Körper, der sich bereits jetzt abzeichnete, sondern auch einen starken Geist. Das hatte sie gefühlt … Er könnte ein Löwe unter Hyänen sein, ein Alphatier …
Sie schnaubte leise und bitter durch die Nase. Wahrscheinlicher war, dass man ihn auf die eine oder die andere Art in das System integrieren würde. Entweder, man korrumpierte ihn, indem man sich um sein Fortkommen kümmerte, ihm verlockende Angebote machte, ihm sagte, dass er etwas Besonderes sei. Es wäre der leichteste Weg für ihn, er müsste nur zustimmen und seine Karriere wäre besiegelt. Blieb er stur, würde man ihn brechen und zu einem Rädchen des Systems machen. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Funktionierte keine, würde er ein Aussätziger sein, den alle mieden, als hätte er die Pest, würde nicht studieren können und von der Stasi beobachtet wurde.
Sie zuckte die Schultern. Das Gespräch mit ihm war eine willkommene Ablenkung von ihren Sorgen gewesen, eine Winzigkeit Normalität, aber jetzt gab es Wichtigeres, an das sie zu denken hatte. Mit immer noch klopfendem Herzen zog sie hastig ihren Rock aus, richtete sich auf die Knie auf und warf einen schnellen Blick über die Dünen. Alles schien ruhig und sie ließ sich wieder auf ihre Fersen und ihr Gesäß sinken.
So, wie sie da jetzt saß, mit vollendeten weiblichen Kurven, die Haare in der satten roten Farbe eines guten Burgunders dicht wie ein Mantel bis zur Hüfte herabfallend, mit straffen Brüsten und sinnlichen roten Lippen, hätte sie das Modell sein können, nach der Nicos die Statue Aphrodites auf Albinas Schreibtisch geformt hatte. Doch davon wusste Larissa nichts, auch nicht, dass sie nicht nur mit ihrer Schönheit jener sagenhaften Aphrodite hätte Konkurrenz machen können, sondern auch mit dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Sie hatte es so gewollt, auch wenn sie nicht stolz auf das war, was sie es getan hatte. Stolz war ein Gefühl, das sie nicht kannte, ebenso wenig wie Schuldbewusstsein, weil sie den Befehl zu töten, nicht ausgeführt hatte.
Kein Licht leuchtete auf dem Meer und das bedeutete, dass auch kein Schiff auf Reede vor Anker lag, das sie vielleicht hätte aufnehmen können, wenn sie es denn bis zu ihm schaffte. Es hätte ihr auch nicht geholfen, denn wenn es eines gewesen wäre, auf dem die sowjetische Flagge geweht hätte, wäre ihre Flucht genau in dem Moment beendet gewesen. Man würde sie ausliefern und dann hätte sie auch gleich am Strand sitzen bleiben und auf die Häscher des KGB warten konnte. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass die Time Bandit sich aus irgendwelchen Gründen verspätet hatte und sie aus dem Wasser fischen würde, wenn sie es nur weit genug hinaus schaffte.
Sie zitterte am ganzen Körper. Wie ein Klumpen verfaulender Seetang lag ihr die Angst im Magen. Mit hämmerndem Herzen hob sie den Kopf aus dem Strandhafer. Der Strand schien noch immer menschenleer. Sie hockte sich wieder hin und steckte ihre Haare hoch und so fest, wie sie nur konnte. Die wasserdichte Hülle mit Dokumenten schob sie unter ihren Badeanzug, dann befestigte sie noch den Notsender an ihrem Oberarm. Es hatte keinen Sinn, ihn jetzt bereits einzuschalten. Sein Signal konnte von jeder Amateurfunkstation aufgefangen werden und es würde nicht nur der Time Bandit ihre Position verraten, sondern auch ihren Verfolgern. Erst wenn sie weit genug draußen war, würde sie das tun in der Hoffnung, dass die Time Bandit sie schneller aus dem Wasser fischte, als jemand an Land ein Boot zu ihrer Position schicken konnte.
Flockiger Schaum schwamm auf dem Wasser am Ufer. Ohne zu zögern, trat sie hinein und warf noch einen letzten Blick auf die Lichter des Neptunhotels in Warnemünde und den Leuchtturm. Sein rotierender Lichtstrahl reichte weit auf das Meer hinaus, aber nicht herab bis auf die Wasserfläche. Von ihm drohte ihr die geringste Gefahr.
Sie wendete sich um und ging tiefer ins Wasser. Als es ihr bis zum Bauchnabel reichte, ließ sie sich ganz hineingleiten und schwamm mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen los.

***

Er fühlte, wie ihn jemand derb am Oberarm packte und riss die Augen auf. Grelles Licht blendete seine Augen. Instinktiv spannte er die Oberschenkelmuskeln und drückte sich mit einem heftigen Ruck hoch. Der über ihn gebeugte Mann verlor sein Gleichgewicht, Christian drehte sich blitzschnell mit der Schulter in ihn hinein und setzte einen Armhebel an. Erst jetzt wurde er vollends wach, begriff, dass vor ihm zwei Soldaten der Grenzbrigade Küste standen … und ließ los.
Der Größere, der Christian gerade noch gepackt hatte, taumelte verblüfft zurück, der Kleinere riss seine Kalaschnikow von der Schulter.
Schnell hob Christian die Hände und machte einen Schritt am Stein vorbei rückwärts. „Entschuldigung, ich … war eingeschlafen und dachte … es wären meine Kumpel, die mich ins Wasser schmeißen wollen.“
„Um diese Zeit? Nach Sonnenuntergang habt ihr nichts mehr zu suchen!“ Der kleine Soldat hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. „Du bist aber ganz schön aggressiv, Junge.“
„I wo, ich hab mich nur erschreckt. Könnten Sie vielleicht …“ Christian deutete auf die auf ihn gerichtete Maschinenpistole.
Der Kleine grinste. „Hast Schiss was? Dann treib dich nicht bei Nacht am Strand herum.“ Er hängte sich die Waffe wieder über die Schulter und Christian atmete auf.
Der Größere streckte seine Hand aus. „Ausweis!“, bellte er.
Christian grinste, wies auf seine Badehose und lachte. Sie war sein einziges Kleidungsstück. „Fass mal `n nackten Mann in die Tasche, Kumpel. Ich wohne gleich hier um die Ecke.“
„Pass auf, was du redest! Ich bin nicht dein Kumpel! Nach Sonnenuntergang am Strand und ohne Papiere. Mach ruhig weiter so.“ Der Soldat nestelte eine Tasche seiner Uniform auf und zog ein kleines Notizbuch hervor. „Name, Wohnadresse?“
Christian sagte es ihm und setzte hinzu: „Sind Ferien. Da wohne ich hier bei meiner Oma.“
Der Soldat schrieb die Angaben auf und klappte das Notizbuch zu. Kalt sagte er: „Du bist hiermit belehrt, dass du dich nach Sonnenuntergang nicht am Strand aufzuhalten hast. Morgen früh überprüfen wir deine Adresse und wenn sie nicht stimmt …“ Er grinste hämisch und klatschte das Notizbuch in seine Handfläche. Es war ein hässliches Geräusch. „Bekommt deine Oma Besuch und dann wirst du gesucht. Wir schreiben nachher den Wachbericht und jeder Name, der darin auftaucht, wird zu einer Akte. Du hast jetzt auch eine. Fängst früh mit Auffallen an, du kleiner Köter. Vielleicht hast du ja sogar schon eine. Und jetzt mach dich vom Acker, hast hier nichts mehr verloren.“
Christian wusste, von welcher Art Akte der Soldat sprach. Er wünschte sich, er hätte den Seoi Nage vorhin durchgezogen. Von seinem eigenen Schmerz getrieben, wäre der Soldat wie eine Rakete über ihn hinweg geflogen und auf den Rücken gekracht. Zwar hätte er sich im weichen Sand nicht das Rückgrat gebrochen, aber die Waffe auf seinem Rücken hätte für anständige blaue Flecke gesorgt.
„Stimmt,“ knurrte er wütend. „Habs schon gefunden, bevor ihr Zinnsoldaten hier aufgetaucht seid.“
Er wollte gehen, da sagte der Kleine mit der tiefen Stimme:
„Werd nicht pampig, sonst kassieren wir dich ein! Ist hier eine Frau vorbeigekommen?“
Deshalb der gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht, begriff Christian. Sie suchen sie! Einen Moment überlegte er, dann fasste er einen Entschluss und antwortete: „Klar doch, jede Menge. Große, kleine, dicke, dünne, alte, junge, hübsche, hässliche …“
„In der letzten halben Stunde, du Idiot! Groß, schlank, aber trotzdem kräftig, lange rote Locken, vielleicht auch hochgesteckt, so um die dreißig?“
Er nickte heftig. „Sie hat sogar mit mir gesprochen.“
Die beiden Soldaten sahen sich an. „Ich werd verrückt,“ sagte der Größere von beiden. Er fuhr Christian an: „In welche Richtung ist sie gegangen?“
„Nicht gegangen.“ Christian wies zum Wasser. „Wieder weggeschwommen. Leider.“
„Wieder? Was soll das heißen?“
„Na, da ist sie doch auch hergekommen. Aus dem Meer. Sie hat gesagt, dass Poseidon ihr das Leben gerettet hat. Bestimmt ist sie wieder zu ihm geschwommen.“
„Poseidon, ja? Hat der ein Boot oder was?“
„Braucht er nicht. Aber echt jetzt? Du kennst Poseidon nicht?“
„Ich kenn nicht jeden Fischer in dem Nest hier.“ Der große Soldat schüttelte den Kopf und nestelte an seiner Brusttasche, in der das Notizbuch steckte. „Die genaue Adresse und der volle Name?“
Wenn sie ihn mitnahmen, konnten sie den Strand nicht weiter entlang gehen … Christian pochte das Herz bis zum Hals, aber in seiner Stimme war nichts davon zu hören: „Na dann zum Mitmeißeln für dich Steinzeitmenschen: Poseidon ist der griechische Gott des Meeres, bei den Römern hieß er Neptun. Der Typ mit dem Dreizack. Er ist eine Legende, nichts weiter. Genau wie die Frau. Sie ist eine Nymphe: zur oberen Hälfte Mensch mit wunderschönen Haaren und einem Gesicht wie Milch und Honig, die untere Hälfte ein Fisch mit silbern glänzenden Schuppen und einer Perlenkette um den Schwanz. Ihre Adresse? Hier drinnen.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Es dauerte einen Moment, dann machte der Größere einen drohenden Schritten auf Christian zu. „Du hast uns verarscht!“
Christian lachte böse. „Und musste mich dazu nicht mal anstrengen, obwohl ihr die dicken Knarren habt und ich nur ein in Testosteron ersoffenes Gehirn, in dem Meerjungfrauen umherschwimmen. Scheint da eine Proportionalität bei dir zu geben. Vermutlich indirekt. Muss ich mal die Wahrscheinlichkeit berechnen.“
„Hältst du mich für einen Idioten?“
„Das würde ich niemals sagen, nicht mal, wenn es wahr wäre. Vielleicht hat deine Mutti dich ein bisschen zu heiß gebadet, aber sonst … Jedenfalls denke ich, je größer die Knarre, umso kleiner das Gehirn und du hast eine echt große Knarre, man.“
„Ich auch.“ Der Kleine nahm seine Kalaschnikow von der Schulter und entsicherte sie. Hart klang das metallische Klicken durch die Nacht. Hämisch sagte er: „Du willst es ja nicht anders. In der Zelle kannst du jede Wahrscheinlichkeit der Welt berechnen, du Freak. Los! Abmarsch!“
Christian seufzte und setzte sich in Richtung Markgrafenheide in Bewegung, die Gegenrichtung zu der, in der Larissa gegangen war.
Freak nennt er mich, dachte er, dann hätte sie wohl gut zu mir gepasst. Aber Meerjungfrauen küssen nicht. Schade eigentlich, ich wäre ihr gefolgt bis ans Ende der Welt. Aber ich habe ihr wenigstens ein paar Minuten verschafft. Vielleicht hilft es ihr ja.

***

Das Intercom summte. Immer noch mit geschlossenen Augen drückte Albina die Sprechtaste und fragte: „Ja?“
„Wir haben sie, Skipper.“ Nur weil sie ihren Ersten Offizier schon seit vielen Jahren kannte, hörte sie die unterdrückte Aufregung in seiner Stimme. „Sie hat ihren Notsender eingeschaltet.“
Mit einem Schlag war Albina hellwach. „Gott sei Dank! Position?“
„Eine viertel Seemeile von der Grenze der Dreimeilenzone entfernt.“
„Was? Sie sollte doch auf uns warten.“
„Vielleicht war das nur noch ihre einzige Option? Wir lagen nicht wie verabredet am Kai. Vielleicht wurde sie bereits verfolgt? Aber für ein Boot ist sie zu langsam, es sei denn, es ist ein Ruderboot. Oder …“ Der erste Offizier machte eine bedeutungsvolle Pause.
Albina stöhnte: „Oder sie schwimmt.“ Scharf fragte sie: „Wie lange noch, bis sie die Seegrenze erreicht?“
„Etwa eine halbe Stunde, wenn sie so weiter schwimmt. Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit brauchen wir noch mindestens fünfzig Minuten.“ Er machte eine Pause, dann setzte er hinzu: „Wir wissen, wozu ihr Körper in der Lage ist, aber weiß sie es auch? Fliegen können wir noch nicht.“
Sie griff nach ihrem Zopf. „Doch, das können wir.“
„Ich weiß nicht, ob mir gefällt, was sie da gerade denken, Skipper.“
„Mir auch nicht. Aber trotzdem: Gehen Sie mit den Turbinen auf volle Kraft!“
„Aber Skipper …“
Sie sprang auf. „Einhundert Prozent für die Turbinen! Volle Beleuchtung und die Suchscheinwerfer voraus! Ich will, dass sie uns kommen sieht! Vielleicht hilft ihr das, durchzuhalten.“
Sie ließ die Sprechtaste los, warf einen schnellen Blick in den Spiegel, dann eilte sie zur Tür. Während sie die wenigen Schritte von ihrer Kabine bis zur Kommandobrücke hastete, wurde das leise Pfeifen der Turbinen höher und sie spürte, wie das Schiff beschleunigte. Der Erste Offizier hatte ihren Befehl ausführen lassen und damit war die Tarnung, die sie in den letzten zehn Jahren mühevoll aufgebaut hatte, geplatzt wie eine Seifenblase. Ab jetzt ging es nicht mehr nur um das Leben Larissa Gromkowas, sondern auch um das der Besatzung der Time Bandit.
„Ach Larissa, was hast du nur getan?“, seufzte Albina und riss die Tür zur Brücke auf.

***

Sie wusste nicht, dass eine freundliche Strömung sie unmerklich, aber beständig hinausgetragen hatte. Genau so wenig wusste sie, warum sie überhaupt noch lebte. Erst war die Kälte gekommen, war ihr unter die Haut gekrochen und ihr schien, als rann flüssiges Eis statt Blut durch ihre Adern. Dann waren Krämpfe gekommen, in einer Intensität, wie sie es nie zuvor im Leben erlebt hatte. Jetzt fühlte sie weder ihre Arme noch ihre Beine und doch bewegten sie sich und verhinderten, dass sie ertrank. Etwas in ihr zwang sie dazu und sie wusste nicht einmal, was es war, denn ihr Kopf hatte schon längst aufgegeben.
Sie trieb auf dem Rücken und dass ihr Körper sie mit unbewussten, kleinen Bewegungen über Wasser hielt, nahm sie nicht einmal mehr wahr. Die Hoffnung, dass die Time Bandit sie noch retten würde, hatte sie verloren. Irgendwie hatte sie es vor einigen Minuten trotzdem geschafft, ihren Notsender einzuschalten. Die Bewegung der linken Hand zu ihrem rechten Oberarm hätte sie fast umgebracht. Es hatte den Schwimmrhythmus ihres Körpers gebrochen und sie war sofort untergegangen. Doch das gleiche Etwas in ihr, das ihr die Qual des Schwimmens befahl, hatte dafür gesorgt, dass sie sich wieder an die Oberfläche gekämpft und sich auf den Rücken gedreht hatte. Doch zu mehr war sie nicht mehr in der Lage.
Sie blickte in den Himmel, doch kein Stern tröstete sie mit seinem Funkeln. Alles, was sie sah, war Schwärze. Vielleicht, wenn sie noch die Energie gehabt hätte, ihren Kopf zu heben, hätte sie in der klaren Luft die Lichter von Warnemünde und den wandernden Schein des Leuchtturms sehen können. Doch ihr fehlte selbst dazu die Kraft und so ihr blieb nichts anderes, als darauf zu warten, dass ihr Körper auch diese kleinen Bewegungen einstellte, mit denen er sie bis jetzt über Wasser gehalten hatte und ihre unmenschliche Qual endlich ein Ende nahm.
So sah sie auch nicht, wie hinter ihr am Horizont ein Lichtpunkt erschien und sein Leuchten von Minute zu Minute stärker wurde.

***

Entgegen dem Pessimismus des Ingenieurs hatten die Turbinen ihre Aufgabe erledigt, ohne sich in ihre Bestandteile zu zerlegen. Jetzt lief die Time Bandit nur noch mit einem Viertel ihrer Kraft voraus und der Erste und der Zweite Offizier suchten von der Brücke aus mit Feldstechern das Meer nach Larissa ab. Jedes verfügbare Mitglied der Crew hatte Albina an Deck gescheucht, um ebenfalls Ausschau zu halten. Sie konnte nur hoffen, dass sie Larissa schnell genug fanden und verschwunden waren, bevor ein Grenzschutzboot der DDR aufkreuzte.
Den Funker hatte sie angewiesen, alle Anfragen damit zu beantworten, dass sie einen Ruderschaden erlitten hatten, aber hofften, ihn in Kürze beheben zu können und die Fahrt aus eigener Kraft fortzusetzen. Für jemanden, der nicht so genau hinsah, würde das immerhin erklären, warum die Time Bandit Kreise fuhr.
„Fünfzehn Grad Backbord, 400 Meter,“ sagte der Erste Offizier leise, setzte sein Glas ab und hielt es Albina hin. Mit einem Schritt war sie bei ihm, blickte selbst hindurch und tatsächlich sah sie im Licht des Suchscheinwerfers einen Körper im Wasser treiben. Sie zögerte keine Sekunde.
„Fünfzehn Grad Backbord!“
Der Mann am Steuerrad wiederholte den Befehl. Eine Minute später sagte er: „Kurs liegt an!“
„Maschinen stopp!“
Einen Atemzug später kam die Antwort: „Sind gestoppt!“
Die Masse der Time Bandit von über dreizehntausend Tonnen erledigte den Rest. Immer langsamer werdend, trieb sie auf Larissa zu und die Suchscheinwerfer entließen ihren Körper keine Sekunde mehr aus ihrem Licht.
Auf Deck wurden Kommandos gebrüllt, dann wurde ein Netz auf der Backbordseite herabgelassen. Zwei Männer sprangen ins Wasser und hielten sich an dem Netz fest, bereit, Larissa einen Rettungsring überzuwerfen und an Bord zu holen, sobald sie in ihre Reichweite kam.
„Was ist das?“
Albina zeigte auf den Radarschirm. Zwei grüne Punkte bewegten sich auf die Time Bandit zu. Im gleichen Moment flammte am Ufer helles Licht auf, erst einer und kurz darauf ein zweiter dicker Strahl wanderte zum Himmel, bewegte sich hin und her, senkte sich und dann war die Time Bandit plötzlich in gleißende Helle getaucht.
„Die Flakscheinwerfer der Küstenwache. Verd…“ Der erste Offizier sprang zum Radar, studierte das Bild ein paar Sekunden, dann knurrte er: „Der kleine Punkt könnte ein Schnellboot sein. Das braucht höchstens noch fünf Minuten, bis es hier ist, der Zweite ist ein dicker Brummer, ein MSR-Schiff der Grenzbrigade Küste vielleicht. Oder Schlimmeres.“ Er blickte Albina an und der Vorwurf in seinem Blick war unübersehbar. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, kommen da mindestens zwei 25-Millimeter Maschinenkanonen auf uns zu. Und bei der klaren Luft halten uns die Flakscheinwerfer von Land wenigstens fünfzehn Kilometer im Fokus. Wenn die es ernst meinen, wird das wie ein Tontaubenschießen.“
Der Funker stürmte herein: „Wir werden aufgefordert, die Maschinen zu stoppen und beizudrehen.“
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“ Albina blickte nach vorn. Der Kurs des Schiffes stimmte, es fehlten nur noch knapp einhundert Meter, dann würde Larissa knapp an der Steuerbordseite vorbeitreiben. Aber die Time Bandit kroch nur noch durchs Wasser und würde Minuten für diesen Katzensprung benötigen. Minuten, die sie nicht mehr hatten.
Sie schaute ihren Ersten Offizier an. „Gehen Sie nach unten, Wassili. Wir nehmen sie in Fahrt auf. Wir haben nur diesen einen Versuch. Und lassen Sie die amerikanische Flagge setzen! Wollen doch mal sehen, ob sie sich trauen, darauf zu schießen.“
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da sprang er schon zur Tür, während sie am Steuerpult die Diesel auf zehn Prozent brachte. Dann öffnete sie das Fenster auf der Backbordseite. Zusammen mit der Stimme ihres Ersten Offiziers, der Befehle brüllte, schwappte ein Schwall feuchter Luft herein.
„Fünf Grad Steuerbord!“, befahl sie und warf einen Blick aus dem Fenster auf das Deck.
„Fünf Grad Steuerbord, aye Skipper.“ Dem Steuermann stand Schweiß auf der Stirn, aber seine Stimme klang ruhig.
Sie drückte einen Knopf des Intercomms.
„Maschinenraum hier,“ klang es aus dem Lautsprecher.
„Wir werden gleich auf volle Kraft gehen. Diesel und Turbinen!“
„Aber …“
„Brücke Ende!“
Das hochfrequente Kreischen eines Motors drang durch das Fenster herein. Albina schaute in Richtung des Geräusches, doch es kam genau aus dem Licht der Flakscheinwerfer an Land und geblendet kniff sie die Augen zu.
Die Männer im Wasser hatten bereits den Rettungsring um den leblos vorbeitreibenden Körper Larissas gelegt und hielten sich mit der anderen Hand an dem von der Bordwand herunterhängenden Netz fest, da schoss aus dem Licht ein großes schwarzes Schlauchboot auf sie zu. Im letzten Moment reduzierte es seine Geschwindigkeit, einer der beiden Männer in dem Boot beugte sich zur Seite, griff nach dem Rettungsring um Larissas Körper und versuchte, sie an Bord zu zerren. Doch das Boot war zu schnell, Larissas Körper zu schwer und so musste er sein Opfer wieder loslassen, wollte er nicht über Bord gehen.
Ohne das Wassili es hätte befehlen müssen, kletterten hastig weitere Männer vom Deck der Time Bandit in das Rettungsnetz, während das Schlauchboot wendete und erneut heran schoss. Gerade noch rechtzeitig rissen sie Larissas Körper aus dem Wasser, weitere Hände packten von oben zu und zerrten sie auf das Deck der Time Bandit. Im gleichen Augenblick drehte der erste Offizier seinen Kopf zu der aus dem Fenster der Kommandobrücke blickenden Albina und brüllte: „Jetzt!“
Schon als er den Mund geöffnet hatte, war sie zum Steuerpult gesprungen. Mit einem Knopfdruck entfesselte sie die neunzigtausend PS der Motoren, Wasser wirbelte am Heck auf und die Time Bandit schien einen Sprung zu machen.
„Kurs Nord-Nord-West!“, sagte sie ruhig.
„Nord-Nord-West, aye Skipper.“ Der Steuermann wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Albina stellte sich wieder ans Fenster. Larissa war auf eine Trage gebettet worden und Nicos kniete mit seinem Assistenten neben ihr. Als hätte er Albinas Blick gespürt, schaute er nach oben. Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke, dann nickte er mit vor Sorgen gefurchter Stirn, aber einem Lächeln im Gesicht.
Sie griff sich ans Hertz und hielt sich mit der anderen Hand am Steuerpult fest.
„Skipper?“ Der zweite Offizier, der die ganze Zeit das Radar beobachtet hatte, sprang zu ihr.
„Schon gut.“ Abwehrend hob sie die Hand, bevor er sie berühren konnte. „Ich muss mich nur einen Moment hinsetzen.“
Da flammte in schneller Folge ein Blitzlicht auf. Es kam von dem schwarzen Schlauchboot, das neben der Time Bandit herfuhr. Der Mann, der nach Larissa gegriffen hatte, schoss Foto um Foto mit durchgedrücktem Auslöser, bis der Film leer war. Dann drehte das Boot ab und verschwand aus dem Lichtkegel der Flakscheinwerfer vom Ufer.
„Jetzt haben die doch tatsächlich ein Foto von mir.“ Fassungslos schüttelte Albina ihr graues Haupt, griff nach der Hand des zweiten Offiziers und ließ sich von ihm zum Kapitänssessel bringen.
Sie ließ sich hineinsinken, stützte ihren Kopf in die Hände und murmelte wieder: „Larissa, was hast du nur angerichtet?“

***

Als das Telefon klingelte, war der Mann sofort wach. Elastisch sprang er von seinem Feldbett auf. Er hatte es vor zwei Tagen in sein schmuckloses Dienstzimmer in der Lubjanka in Moskau stellen lassen und den Raum seit dieser Zeit nicht mehr verlassen.
„Ja,“ sagte er nur in den Hörer.
„Sie ist an Bord eines amerikanischen Schiffes entkommen, Genosse Oberst.“
Die Kälte sibirischer Winternächte knarzte in der Stimme von Oberst Maximow: „Das MSR-Schiff?“
„War nicht schnell genug.“
Die Antwort war ein Wort, das in jeder Sprache die gleiche Bedeutung hatte: „Ебать!“ Der Oberst knallte den Hörer auf die Gabel.

***

Mit einem sanften roten Glühen kündigte die Sonne ihr Erscheinen über der Ostsee an. Albina richtete ihren Blick dorthin, wo in wenigen Minuten der Rand der Sonne scheinbar aus dem Wasser auftauchen und der Erde Licht und Wärme spenden würde, wie sie das seit mehr als drei Milliarden Jahren getan hatte. Leben wäre ohne sie undenkbar, auch wenn es in geologischen Zeiträumen betrachtet, jung und das der Menschen nur einen Wimpernschlag alt war. Würde man das Leben auf der Erde in einem Buch mit eintausend Seiten dokumentieren, wären die ersten siebenhundert Seiten eine Geschichte über Einzeller. Erst auf Seite neunhundertsechzig wäre der Landgang des ersten Fisches verzeichnet. Die gesamte Geschichte des Menschen selbst würde auf diesen eintausend Seiten gerade mal ausreichen, um auf der allerletzten Seite einige wenige Zeilen zu füllen.
Die Angst, dass das letzte Wort der letzten Zeile im Buch des Lebens am sechzehnten Juli 1945 begonnen worden war und es Auslöschung hieß, Selbstmord einer ganzen, vorgeblich intelligenten Spezies, ließ sie keine Nacht mehr durchschlafen.
Als junge Kernphysikerin und unter falschem Namen war sie dabei gewesen damals, als auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico unter dem Namen Trinity-Test der erste Atombombenversuch der Menschheit stattgefunden hatte. Die Detonation war so gewaltig gewesen, dass alle Seismographen rund um die Erde die Schockwellen aufgefangen hatten. Selbst kilometertief unter dem Eis der Antarktis hatten Messgeräte und auch Augen und Ohren das künstliche Beben registriert.
Es hätte das Tor zum Fortschritt sein können, zu Energie ohne Ende und zu einer blühenden Welt. Doch nur knapp einen Monat später, am sechsten August, als die Bombe über Hiroshima detoniert war und achtzigtausend Menschen im Bruchteil einer Sekunde verglüht waren durch den simplen Befehl von Harry S. Truman, dem damaligen amerikanischen Präsidenten, hatte Albina begriffen, dass sie stattdessen am Tor zur Hölle mitgebaut hatte. Die Menschen lernten nicht nur nicht aus ihren Fehlern, sondern sie wiederholten sie auf einer höheren, noch bedrohlicheren Stufe.
Es klopfte an ihre Tür. Sie schüttelte die Erinnerung ab, rückte die weiße Kapitänsmütze auf ihren grauen Haaren zurecht und reckte sich, dass ihre alten Gelenke knackten. „Herein!“, fauchte sie und fragte sich im gleichen Moment, woher sie wusste, wer vor ihrer Tür stand. Andererseits war die Auswahl derer, die morgens um fünf an ihre Tür klopfen würden, nicht allzu groß. Hätte es etwas auf der Brücke gegeben, hätte man sie über das Intercomm gerufen.
„Sie schläft.“ Geräuschlos schloss der Schiffsarzt die Tür. „Sie hat nach dir gefragt. Willst du nicht wenigstens einmal nach ihr sehen?“
„Wenn ich wissen will, wie sie aussieht, muss ich nur in den Spiegel gucken!“
Auch wenn er es als Privileg betrachtete, dass sie ihm gegenüber ihre Gefühle offenbarte, machte er doch das gleiche Gesicht, das auch ein Eiswürfel in seinem Hemdkragen hervorgerufen hätte. Er zwang sich zur Ruhe. „Welchem mir nicht bekannten Umstand verdankt meine Patientin deinen Zorn?“
Harsch widersprach sie: „Sie ist keine Patientin, sie ist nicht einmal …“ Sie winkte ab. „Sie ist eine Investition, mehr nicht.“
„Für die du alles riskiert hast, um sie zu retten.“ Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte die Lippen des Schiffsarztes.
Ihr Ton wurde noch schärfer. „Sie hat gepfuscht. Der von ihr gelegte Brand im Laborkomplex mag vielleicht alle Unterlagen und Forschungsergebnisse vernichtet haben, aber Boris Orstchov hat überlebt und offenbar die Verwirrung genutzt, um sich nach Oslo abzusetzen. Vor einer Stunde kam die Nachricht herein. Er wird dort neue Herren finden und wieder von vorne anfangen. Nicht genug damit, liegt irgendwo in der Ostsee ein nicht detonierter Torpedo herum, dessen Ladung ein hochaggressiver Kampfstoff ist, und ich wage nicht einmal, mir auszumalen, was geschieht, wenn ihn die falschen Leute finden. Unser Schiff ist durch die Rettungsaktion kompromittiert worden, ich ebenfalls und damit auch alles, was ich in den letzten fünfunddreißig Jahren aufgebaut hatte. Viel mehr Schaden hätte sie nicht einmal mit voller Absicht anrichten können.“
„Sie ist Wissenschaftlerin, keine Terroristin,“ erwiderte er vorsichtig. „Und dass es offenbar keine Toten gab, zeugt für mich von ihrer Umsicht. Du solltest stolz auf sie sein.“
„Ach, tatsächlich?“ Sie drehte den Kopf und der Blick, den sie ihm zuwarf, hätte Stahl Blasen werfen lassen. „Wir sind erledigt und können nach Hause gehen. Wo auch immer wir jetzt noch eins haben.“ Verbittert wies sie auf den Stapel von Papieren, den sie bei Larissa gefunden hatten. „Und das Einzige, was wir dafür bekommen haben, sind Formeln. Ostchovs Büchse der Pandora!“
Mit jedem Wort war sie lauter geworden, jetzt schrie sie: „Sie sollte den Kampfstoff vernichten und den Kopf, der ihn ausgebrütet hat, abschlagen! Sie hat sich geweigert! Mir ins Gesicht gesagt, dass sie keine Mörderin sei! Als ob das Ding so etwas beurteilen könnte! Er ist ein Ungeheuer und so etwas zertritt man! Da, da draußen … schau hin!“
Ihn mit einer Hand an der Schulter packend, wies sie mit der anderen auf die gerade aufgehende Sonne. „Sind zwei Feuerbälle und Millionen Tote nicht genug?!“
Sie stieß ihn weg, riss die Papiere vom Tisch und warf sie in die Luft. „Was ist das hier? Das Ergebnis von drei Jahren Arbeit an einem Monster unter freundlicher Mithilfe der Besatzung der Time Bandit? Sollen wir uns die Wände damit tapezieren oder was? Wofür …“ Sie wankte und griff nach der Lehne ihres Sessels vor dem Schreibtisch.
„Ruhig, ganz ruhig. Du bist keine sechzig mehr.“ Er streckte den Arm aus, um sie zu stützen, doch sie zischte: „Lass mich!“, und ließ sich in ihren Sessel sinken. Die Arme auf die Tischplatte gelegt, starrte sie mit gesenktem Kopf auf das Wurzelholz.
Er hockte sich hin, sammelte die verstreuten Papiere ein und dachte dabei an das Gespräch, das sie vor langer Zeit hier in diesem Raum mit ihm geführt hatte. „Onkologie, Genetik, viele Jahre Ärzte ohne Grenzen – Sie haben eine beeindruckende Reputation,“ hatte sie gesagt. „Ich habe ein Schiff voller Forschungslabors, die leider immer mehr unterbesetzt sind, ebenso wie meine bestens ausgestattete medizinische Abteilung. Ich kann Sie im nächsten Hafen absetzen. Oder Sie entschließen sich, bei uns zu bleiben.“
„Zu meiner beeindruckenden Reputation, wie Sie es nennen, gehört der immer wieder auftretende Drang, mich umzubringen. Wie Sie ja wohl mitbekommen haben, als sie mich herausgefischt haben. Oder dachten Sie, ich wollte die erste Atlantiküberquerung als Schwimmer schaffen? Das passiert, wenn man jeden Tag die Ergebnisse dessen behandeln muss, was Menschen anderen Menschen antun,“ hatte er geantwortet. „Meine Mitgliedschaft in ihrer Besatzung wird dementsprechend höchstwahrscheinlich nur kurz sein. Aber sei es drum: Was wäre meine Aufgabe hier?“
Sie hatte ihn lange angesehen und er hatte gewusst, dass sie nach einer Formulierung gesucht hatte, die es ihm ermöglichte, tatsächlich von Bord zu gehen, ohne ihr Geheimnis zu verraten. Schließlich hatte sie gesagt: „Unsere Auftraggeber erwarten von uns, dass wir Einfluss auf die Entwicklung von Waffen nehmen. Ihre Erprobung verzögern, sabotieren, wenn nötig auch Forschungsunterlagen vernichten.“
„Waffen sind nicht gefährlich. Die Köpfe, die sie ausbrüten, sind es. Die müssten abgeschlagen werden. Aber dann wären Ihre Auftraggeber auch nicht besser.“
„Deswegen töten wir nicht, wir lassen nicht töten und wir schmieden auch keine Mordpläne. Niemals und unter keinen Umständen, nicht einmal, wenn Hitler oder Truman wiederauferstehen würden.“
„Interessant. Ost oder West?“
„Macht es für Sie einen Unterschied, ob die Kugel, die sie tötet, die Krankheit, der sie erliegen, oder der Kampfstoff, der ihre Augen zerfrisst, in der Sowjetunion oder in England hergestellt wurde?“
„Ihr nicht genannt werden wollender Philanthrop heißt nicht zufälligerweise Gott?“, hatte er launig gefragt und dann hinzugefügt: „War ein schlechter Witz. Streichen Sie den. Der macht immer noch Urlaub nach der Erschaffung des Menschen oder hat sich ein neues Universum gesucht, weil er das Elend nicht mehr sehen konnte. Trotzdem: Als Spion tauge ich nicht, selbst, wenn es um eine gute Sache geht. Ich bin Arzt, ich zerstöre keine Leben, ich rette sie.“
„Warum tun Sie es dann nicht auf meinem Schiff? Wir versuchen, ein winziges bisschen dafür zu tun, dass die Menschen ein wenig länger auf diesem wunderschönen Planeten überleben. Und nicht nur die Menschen.“
„Ein Schiff gegen die ganze Welt?“ Er hatte gelacht und sich bedeutungsvoll in ihrer Kabine umgesehen. „Ein Schmetterling in einem Tornado.“
Sie war wegen seiner Skepsis nicht einmal verstimmt gewesen. „Mit dem Schmetterling liegen Sie gar nicht so falsch, Nicos. Falls Sie schon einmal etwas von nichtlinearen, dynamischen deterministischen Systemen gehört haben. Was würde besser zu dem Chaos, das wir Leben nennen, passen als die Chaostheorie, nach der der Flügelschlag eines Schmetterlings die ganze Welt zu erschüttern vermag? Edward N. Lorenz ist ein kluger Mann.“
„Wenn Sie es sagen. Ich nehme an, eine Probezeit gibt es nicht?“
Sie hatte nur gelacht, als sie ihm die Hand gereicht hatte, und er hatte festgestellt, dass er es mochte. Und er mochte es immer noch, obwohl sie mit dem Mordauftrag gegen ihren eigenen Kodex verstoßen hatte. Sie war gar nicht wütend auf Larissa und wenn doch, dann nur, weil sie die Projektionsfläche von Albinas Zorn auf sich selbst war.
Er richtete sich auf, legte den Stapel Papiere in die Mitte des Tisches und reichte ihr sein Taschentuch. „Die Luft ist ziemlich trocken hier, das reizt die Augen. Deine sind schon ganz rot. Ich würde sogar sagen, ein wenig nass.“
„Das ist nicht wahr!“, fauchte sie, nahm es aber trotzdem, tupfte sich ihre Augenwinkel, dann knüllte sie es in der Hand zusammen und erlaubte sich eine Bemerkung, die weder zu Albina R. Deveraux, noch zum Kapitän eines Schiffes mit mehr als einhundert Männern und Frauen passte, von den auch nach vielen gemeinsamen Jahren nicht einmal eine Handvoll es wagten, sie unter vier Augen zu duzen: „Sie ist ein blödes Ding!“
„Was denn nun? Ding oder Investition?“
„Beides!“
Er schmunzelte. „Und warum hast du es – ich bevorzuge ja ‚sie‘ – dann gerettet?“
Niemand hatte von dem Befehl gewusst, auch Nicos nicht und wenn Albina Larissa hätte ertrinken lassen, hätte auch niemand davon erfahren. Er konnte sich die Antwort denken, doch er wollte es von ihr hören.

„Nicht, dass ich das nicht in Erwägung gezogen hätte.“ Sie tupfte sich noch einmal die Augenlider mit seinem Taschentuch, diesmal auffallend gründlich. „Es war mein Spiegel, weißt du? Die Frau, die ich darin sah, war genau so geworden, wie die, die sie bekämpfte. Ich hasste sie und da wusste ich, dass Larissa jedes Risiko wert wer. Ich habe nicht sie gerettet, sondern mich. Dieses blöde Ding!“ Sie atmete tief ein und straffte sich. „Wehe, wenn du es ihr sagst!“
„Ich glaube, du unterschätzt sie immer noch.“
„Ich kenne Deine Meinung, aber ich bin mir da immer noch nicht sicher, selbst jetzt noch nicht.“
„Sie ist schön, hat eine unglaubliche Intelligenz, ist sich ihrer selbst bewusst und besteht auf ihrem freien Willen. Damit ist sie mehr Mensch als neunzig Prozent von denen, die sich selbst so nennen, aber nichts weiter als Schafe oder Wölfe sind. Ich bin damals bei Ärzte ohne Grenzen den Ergebnissen von soviel Grausamkeiten begegnet, die von Menschen begangen wurden, dass ich eines weiß: Mensch wird man nicht durch seine Geburt, sondern erst durch sein Handeln und eine bessere Bestätigung für diese These als Larissa kann ich mir nicht vorstellen. Doch mit deinem Mordauftrag hast du ihr verboten, das alles zu benutzen. Das ist wie … wie … als hätte sie ihre Geschlechtsorgane, ihre Intelligenz und ihre Moral nur zur Zierde bekommen, aber nicht, um Freude dabei zu empfinden, wenn sie ein Mann berührt und sie mit ihm schläft.“
Ein kleines Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und er sah sie mit viel Zärtlichkeit an. Bevor sie es bemerken konnte, wurde er wieder sachlich. „Intelligenz und freier Wille gehören zusammen, man darf sie weder trennen noch unterdrücken. Das ist Sklaverei. Davor habe ich dich schon damals gewarnt. Jeder Sklave rebelliert irgendwann gegen seinen Herren. Gerade du solltest das doch wohl wissen.“
Albina zog die Stirn kraus. „Was soll das heißen?“
Er wies mit der Hand auf den hellen Streifen über dem Meer. „Korrigiere mich, aber hast du Stalin damals nicht den Gehorsam verweigert, weil du wusstest, dass er deine Arbeit in Los Alamos benutzt hätte, um selbst die Bombe bauen zu können?“
„Irgendwann lasse ich dir doch noch den Mund zunähen,“ drohte sie.
Lässig winkte er ab. „Und was, bitteschön, willst du dazu benutzen, wenn die einzigen fähigen Hände für so etwas auf diesem Schiff meine sind?“
„Einen Presslufttacker?“, schlug sie vor. „Rostige Krampen? Das kann dann auch einer von den Schiffsingenieuren erledigen. Aber lass uns hier nicht herumalbern. Wie du schon sagtest: Wir sind keine sechzig mehr.“ Sie wies mit der Hand auf die Dokumente. „Das da ist dann zwar nicht die Büchse der Pandora, aber was machen wir jetzt damit? Auf diesem Schiff gibt es keine Waffen und ich will auch keine auf Papier hier haben.“
„Ist es denn eine Waffe?“ Er zog die Schultern hoch. „Wärest du einmal auf dem Olymp gewesen, wüsstest du, dass die Geschichte von Pandora eine ganz andere Bedeutung hat, als die meisten Menschen glauben.“
Eine Zornfalte erschien auf ihrer Stirn. „Sei nicht so überheblich, nur weil ich in einem Dorf am Kap Deschnjow am nördlichen Polarkreis geboren worden bin und nicht in Athen wie du! Die Eisberge da sind nicht viel kleiner als dein Olymp.“
„Dann erzähl mir die Geschichte.“
„Du bist nicht in der Position, mich zu schulmeistern!“
„Habe ich deinen Stolz getroffen?“ Sie muss eine stolze Furie gewesen sein, schoss es Nicos durch den Kopf. Er stand auf, damit sie sein Lächeln nicht sah und stellte sich wie vorher ans Fenster. Aus dem roten Glühen am Horizont verirrte sich ein erster Sonnenstrahl in die Kabine. Reinweißer Calacatta Vagli-Marmor an den Wänden, von zarten Bernstein- und Goldadern durchzogen, leuchtete auf und der ganze Raum schien plötzlich in Flammen zu stehen. Das Wasser spiegelte die Sonnenstrahlen und selbst die Luft schien in den Lichtkaskaden ein ganz besonderes Leuchten zu besitzen. Mit jeder Sekunde gewann die aufsteigende Sonne an Kraft und verwandelte die Kapitänskajüte in das strahlenfunkelnde Innere eines Brillanten.
„Wie wunderbar!“, flüsterte der alte Grieche und betrachtete mit offenem Mund voller Staunen das Spiel des Lichts auf der Kommandobrücke.
In seinem Rücken sagte Albina trocken: „Jede Medaille hat immer zwei Seiten und nur, wenn man beide sieht, kann man die richtigen Entscheidungen treffen. Sie spendet Wärme und damit Leben, ja, aber in ihr lodern Kräfte, für deren Beherrschung wir nicht reif sind.“
„Und es niemals sein werden, denkst du. Vielleicht hast du sogar recht.“ Eine Wolke schob sich vor die Sonne und er begann mit dem ihm eigenen ironischen Unterton zu erzählen: „Prometheus klaute den Göttern das Feuer und brachte es den Menschen. Zur Strafe ließ der Göttervater Zeus ihn an die Felsen des Kaukasus ketten und jeden Tag von einem Adler seine Leber verputzen. Für die Menschen hatte sich Zeus eine andere Strafe einfallen lassen. Der Schmied Hephaistos erschuf dazu aus Lehm eine wunderschöne Frauengestalt und Zeus hauchte ihr Leben ein. Aphrodite schenkte ihr holdseligen Liebreiz, Athene schmückte sie mit Blumen, und Hermes verlieh ihr eine bezaubernde Sprache und den Namen Pandora. Dann drückte Zeus ihr eine Büchse in die hübsche Patschhand, die mit allen Übeln der Welt und der Hoffnung gefüllt war, und hieß die Schöne Epimetheus, den Bruder des Prometheus, zu verführen. Prometheus warnte zwar seinen Bruder, Geschenke des Zeus anzunehmen, doch Epimetheus ignorierte die Warnung und heiratete Pandora. Natürlich öffnete sie in der Hochzeitsnacht die Büchse, schließlich war sie eine Frau und deren zweiter Name ist Neugier. Es geschah, wie Zeus es geplant hatte: Alle Laster und Untugenden schrien Halleluja, gaben Fersengeld und machten sich unter den Menschen breit. Zu Tode erschrocken, schlug Pandora den Deckel wieder zu und so blieb die trantütige Hoffnung drin, weil sie immer so lange braucht, bis sie zu Potte kommt. Die Welt wurde ein trostloser Ort, weil alle Laster und Übel jeden Tag Party feiern, aber die Hoffnung für immer in Pandoras Büchse weggesperrt ist.“
Er tippte ihr auf die Schulter. „Und jetzt liegt sie da vor dir auf dem Tisch. Ist das nicht witzig?“
Sie gab mit ihren Fingern ein zorniges Trommelkonzert auf der Tischplatte. „Nur weil du meine Tränen gesehen hast, berechtigt dich das noch lange nicht, dich über mich lustig zu machen. Hast du das verstanden, Nicos Venizialos? Nichts an dem, worüber wir uns gerade unterhalten, ist in irgendeiner Form lustig. Gar nichts!“
Nicht im Geringsten eingeschüchtert, erwiderte er: „Und trotzdem wirst du gleich lächeln.“
Das Trommelkonzert ging in ein Stakkato über und er sagte schnell: „Wahrscheinlich ist es so einfach, dass niemand drauf kommt. Wir suchen immer das Komplizierte. Du hast es selbst gesagt: Die Hoffnung ist in Pandoras Box eingesperrt. Alles, was die Menschen tun müssen, ist sie zu finden. Das ist die Erkenntnis aus der Geschichte.“
Kalt sagte sie: „Siehst du mich lächeln?“
Er seufzte, dann zeigte er auf die Papiere auf dem Tisch. „Ich habe sie mir angesehen, während ich an ihrem Bett gesessen habe. Das sind nicht die Unterlagen von Orstschov, sondern die von Larissa. Ich weiß nicht, warum du den Kampfstoff von Orstchov für so gefährlich hältst, dass du deswegen alle deine Prinzipien über den Haufen wirfst, aber eines weiß ich: Mit dem, was in diesen Unterlagen steht, kann er ihn sich in die Haare schmieren.“
„Das heißt?“
„Larissa hat an einem Medikament gegen Leukämie geforscht und dabei offenbar ein Gegenmittel für die Wirkung von Orstchovs Kampfstoff gefunden. Das hier ist es.“
Er schob den Stapel zu ihr hinüber. „Die Büchse der Pandora. Öffne sie, und du findest die Hoffnung darin.“
Er erhob sich. „Als dein Schiffsarzt darf ich dir empfehlen, noch ein wenig zu schlafen. Ich denke, du wirst dich danach etwas besser fühlen. Ich schau noch einmal nach unserem Wunderkind, dann lege ich mich auch hin.“
„Warte!“ Es war ein Befehl, schnell und scharf ausgesprochen, wie sie es schon unzählige Male getan hatte, und trotzdem klang noch etwas darin, was Nicos – nein, noch niemand auf diesem Schiff – je von Albina gehört hatte: eine Spur von Unsicherheit.
Sie knetete ihre Hände. „Ich komme mit. Aber nicht so.“
Eher er etwas sagen konnte, verschwand sie im Bad. Als sie zurückkehrte, trug sie ihre Haare offen, hatte sich leicht geschminkt und sah so frisch aus, wie sie jeder hier auf dem Schiff kannte. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Tür und gab einen Code an dem Kombinationsschloss dahinter ein. Aus dem Geheimfach nahm sie eine Schatulle, verschloss Safe und Tür wieder und reichte sie Nicos. „Ich werde es ihr sagen. Sie muss wissen, was  sie …“ Sie unterbrach sich, seufzte, schüttelte den Kopf und setzte fort: „Nein, wer sie ist. Ich denke, du hast wohl recht. Nicht die Art unserer Erschaffung definiert, ob wir Menschen oder Tiere werden, sondern das, was wir tun.“
Langsam klappte er das kleine Kästchen auf. Eine silbern glänzende Kette lag darin. Sie sah alt aus und doch gleichzeitig, als wäre sie gestern erst angefertigt worden. Jedes ihrer Glieder war ein filigran gearbeiteter, winziger Drache, der sich in seinen Schwanz verbissen hatte. Ein kleiner, vielleicht daumennagelgroßer, elfenbeinfarbener Stein bildete den Anhänger und Nicos wusste, dass ein sanftes rotes Licht in ihm zu pulsieren beginnen würde, sobald die Kette sich um den Hals von Larissa geschlossen hatte.
Albina nahm ihm das Kästchen wieder aus der Hand und klappte es zu. „Und jeder Mensch braucht ein Zuhause.“

***

Fast lautlos glitt die Time Bandit II durch den Oslofjord. Ein frischer Wind wehte über das Panomaradeck und Albina schlang sich den groben Wollschal enger um Kopf und Hals.
Larissa stellte sich neben sie. „Du bist ein Unmensch!“
Albina lachte leise. „Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie recht du hast.“
„Habt ihr mir etwas verschwiegen?“ Sie seufzte ein wenig theatralisch. „Natürlich habt ihr das. Alles zu seiner Zeit, sagt Nicos immer wieder. Nur nicht, wann diese Zeit ist.“
Albina nickte zu einer kleinen Insel hinüber, an der sie gerade vorbeifuhren. „Das ist die Insel Håøya da drüben und auf ihr die Festung Oscarsborg. Sie ist über einhundertfünfzig Jahre alt, genau wie ihre drei Kanonen. Sie tragen die biblischen Namen Moses, Aron und Josva, sind museumsreifer Schrott und das waren sie auch schon vor vierzig Jahren, als das deutsche Kriegsschiff Blücher hier auftauchte, gefolgt von einer Flotte, um Oslo einzunehmen. Der Festungskommandant, der 65-jährigen Oberst Birger Kristian Eriksen, traf eine Entscheidung, von der er annehmen musste, dass sie ihn entweder vor ein norwegisches Kriegsgericht oder vor ein deutsches Erschießungskommando bringen würde: Er eröffnete ohne Befehl seiner Regierung das Feuer. Mit nur drei Schüssen, abgefeuert von zwei Rekruten und dem Festungskommandanten selbst, haben sie die Blücher versenkt. Niemand, am allerwenigsten die übermächtigen Deutschen, hatten damit gerechnet, dass drei museumsreife Kanonen in einer über einhundert Jahre alten Seefestung genügen würden, den gerade erst in Dienst gestellten, schwer gepanzerten Stolz der deutschen Kriegsmarine auf den Grund des Oslofjords zu schicken und dass es so dem Festungskommandanten, gelingen könnte, seinem König die entscheidenden Stunden zu verschaffen, die Regierung und den Staatsschatz in Sicherheit zu bringen. Aber genau so ist es geschehen.“
Über das Gesicht Larissas huschte ein zärtliches Lächeln. „Wirst du alt?“
„Ich bin es. Aber was hat das damit zu tun?“
„Du versuchst, das Leben in Geschichten zu pressen. Aber das Leben ist anders, jeder Tag ist neu und gestern kommt nicht wieder.“
„Natürlich nicht. Aber wir können trotzdem aus ihnen lernen.“ Auch Albina lächelte und wenn darin ein wenig Trauer war, so taten beide, als sähen sie es nicht. „Der Oberst hatte nichts weiter, als den Glauben, das Richtige zu tun. Er wusste, dass Zeit in jedem Krieg der entscheidende Faktor ist. Etwas anderes haben wir auch nicht, Larissa. Nichts weiter, als die Hoffnung, das Richtige zu tun und Zeit zu gewinnen. Mehr hatten wir nie. Nicos hat recht, wenn er sagt, dass wir nur ein Schmetterling in einem Tornado waren.“
Waren … Larissa lehnte den Kopf an Albinas Schultern. Ihr Äußeres hatte sich verändert, sie hatte eine neue Identität und eine Aufgabe: Ihr Serum zu entwickeln und Orstchov auf die Finger zu schauen. Die Time Bandit und ihre Besatzung waren aufgeflogen und würden verschwinden, nachdem sie Larissa in Oslo abgesetzt hatten. Sie wussten, wie lang der Arm des KGB war und das Oberst Maximow ihre Spur aufgenommen hatte. Für die Biskaya war ein heftiger Sturm vorausgesagt worden und wenn er abflaute, würde alles, was von der Time Bandit übrig blieb, die Aufzeichnung ihres SOS sein. Larissa wusste, dass sie vollkommen alleine auf sich gestellt war.
Nun, vielleicht nicht ganz, dachte sie. Das gleiche etwas in ihr, dass sie hatte weiterschwimmen lassen, als ihr Verstand schon aufgegeben hatte, sagte ihr, dass es jemanden gab, der verstehen konnte, wer sie war und vielleicht … Aber das war nichts, was sie Albina erzählen konnte, die nur für ihre Aufgabe lebte.
„Es ist Zeit.“ Albina schob die Jüngere sanft von sich. „Du musst dich fertig machen.“
„Natürlich.“ Larissa ging zur Treppe.
„Du brauchst übrigens kein schlechtes Gewisses zu haben. Dein Leben besteht nicht nur aus der Erfüllung der Aufgabe.“
Larissa blieb stehen. „Was meinst du?“
„Von Oslo bis nach Warnemünde ist es nicht so weit.“
Albina lachte herzlich über den verblüfften Ausdruck im Gesicht Larissas. „Ich war einmal du, schon vergessen? Und ich glaube, er ist es wert.“

 

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