Druckpunkt

Es ist härter, ins Leere zu fallen, als auf dem Boden aufzuschlagen.
Andrea Mira Meneghin

Man nimmt eine Waffe in die Hand, richtet sie auf ein Ziel und krümmt den Zeigefinger. Die ersten Millimeter sind kaum zu spüren, dann kommt ein Widerstand: der Druckpunkt. Er ist die letzte physische Grenze, wird sie überschritten, rast die Kugel aus dem Lauf. Trifft sie, wird sie etwas zerstören: eine Flasche, eine Zielscheibe, einen Kopf und manchmal auch ein Herz. Ein Profi weiß das, und auch, dass nicht nur Waffen einen Druckpunkt besitzen.
Sein Fenster reichte vom Fußboden bis zur Decke und zog sich über die ganze Front des Wohnzimmers hinweg. Der Ausblick durch die Wand aus Glas war atemberaubend. Nur Ragnar Borg hatte einen Besseren, dessen Haus ragte von einem Felsen ein paar Meter bis über den Fjord. Die Firma ließ sich die Unterbringung ihrer Spitzenkräfte etwas kosten. Die Schlachten, die NordicSF nicht nur an den Börsen schlug, entschieden über das Schicksal von Millionen Menschen. Hakonsen, der große Boss, saß irgendwo auf der Welt in einem seiner sieben Nordic-Tower und kümmerte sich nicht um die Belange der „Erdlinge“, wie er sie nannte. Er war Forscher mit Leib und Seele.
Mit eiserner Hand führten Wielander und Mikkelsen den Konzern in seinem Auftrag und Borg war der Mann, der aufflammenden Widerstand brach. Ihn hätte man in kleine Stücke hacken könne – worüber einige Leute mehr als nur glücklich gewesen wären – und trotzdem würde sich jedes einzelne davon noch seinen Weg bis ganz nach oben bahnen und jeden niedermachen, der ihm dabei im Weg stand. In der Wahl seiner Mittel war er weder zimperlich noch sonderlich subtil und wenn Captain Mike Simmons gelegentlich ein Veto einlegen wollte, lachte Borg nur rau.
Nicht so beim letzten Mal. Zwei Wochen war das her. Eisig hatte er aus stahlgrauen Augen den Captain angeblickt. „Sie lieben schnelle Autos, scharfes Essen und böse Frauen, sagt mir Ihre Akte. Mein Gefühl sagt mir, dass eines davon Sie umbringen wird. Passen Sie ein bisschen mehr auf sich auf, Captain. Gute Leute verliere ich nicht gern.“ Für Borgs gewöhnliche Wortwahl war das wie eine Quantenverschlüsselung für das, was er tatsächlich gemeint hatte. Mike Simmons hatte es trotzdem verstanden: Borg zweifelte an seiner Loyalität.
Gestern war jemand in seiner Wohnung gewesen und Mike Simmons fragte sich, ob Borg den Befehl dazu gegeben hatte. Niemand sonst, der nicht gerade Todessehnsucht verspürte, würde der Wohnung eines Captains der Spezialtruppen von NordicSF einen Besuch abstatten, wenn der Hausherr nicht anwesend war. Nichts war verändert worden, keine sichtbaren Spuren waren vorhanden und selbst die elektronische Türkontrolle zeigte den korrekten Zählerstand. Trotzdem hatte der Captain das Gefühl, dass jemand in seiner Abwesenheit in seiner Wohnung herumgeschnüffelt hatte, und sein Gefühl hatte ihn noch nie getäuscht, wenigstens nicht in dieser Hinsicht.
Einst war er Kampftaucher gewesen und genau dieser Instinkt war es gewesen, der ihm mehr als nur einmal den Hals gerettet hatte. Damals hatte er sich eingebildet, nicht schlechter zu sein als die amerikanischen Marines. Lange her war das, aber an den Schmerz erinnerte er sich noch und daran, dass er geprahlt hatte, er könnte jeden aushalten. Vielleicht hatte das auch gestimmt, damals wenigstens. Die Ausbildung machte so etwas mit den Männern.
Zehn Jahre später, kurz nach seiner Entlassung aus dem aktiven Dienst, hatte es eine Frau genau wissen wollen. Sie hatte nichts weiter als ein Paar Handschellen, sein ‚Ja‘ und dann die Daumen und Zeigefinger ihrer Hände gebraucht und keine Ausbildung der Welt hätte ihn auf das vorbereiten können, was in jener Nacht geschehen war. Erst hatte er geschrien, dann nicht einmal mehr das gekonnt und zum Schluss hatte er in ihren Armen geheult wie ein Schlosshund. Am Morgen danach war sie gegangen. Statt ihrer war die Leere gekommen und sie dauerte bis heute an. Verdammte zwei Jahre war er ihren Spuren gefolgt, dann hatte er sich die von ihr geweckten dunklen Träume da herausgerissen, wo andere ein Herz hatten.
Seit damals ließ er sich nur noch auf Frauen ein, die aufregend angezogen waren, schnell zur Sache kamen, nicht viel redeten und unten liegen wollten. Ansonsten machte er einen Bogen um sie. Er traute seiner dunklen Seite nicht mehr und wollte nicht enden wie David Carradine: in einem Schrank, mit einem Seil um Hoden und Hals und blau heraushängender Zunge. Hätte ihn Borg vor die Wahl gestellt, in den Lauf seines Sturmgewehrs oder aus nächster Nähe in die Augen einer Frau zu blicken, die mehr wollte als 08/15-Sex – Captain Simmons hätte die Waffe gewählt. Bei einem Sturmgewehr wusste er, was geschah, wenn der Abzug gedrückt wurde.
Er hatte seine Wohnung gründlich überprüft, aber es waren nicht einmal Wanzen installiert worden. Er fühlte sich, als schnüre ihm jemand, den er nicht sehen konnte, lautlos die Luft ab. Es war genau die Taktik, die er bei den Plänen anwendete, die er für NordicSF ersann: Informationen sammeln, dann den Gegner verunsichern, ihm das Gefühl geben, dass man ihm auf der Spur war und schließlich darauf warten, dass er sich selbst verriet. Er war ein Meister darin geworden, Feinde der Firma mit dem Rücken an die Wand zu stellen, ohne dass sie es bemerkten, bis sie in Panik gerieten und sich selbst den Strick um den Hals legte, so dass Borg und seine Leute sie nur noch abräumen mussten. Jetzt sah es so aus, als wendete man diese Taktik gegen ihn an und nur, weil er Borg offenbar einmal zu viel widersprochen hatte. Mike Simmons war noch immer stark und schnell, aber wie sollte er gegen einen Schatten kämpfen? Ohne es wirklich zu bemerken, lockerte er seinen Gürtel.
Lautlos bog ein schwarzer SUV um die Ecke und parkte vor seinem Haus ein. Von seinem erhöhten Standpunkt aus gesehen, konnte es gut und gerne einer aus dem Fuhrpark von NordicSF sein. Die Fahrertür wurde geöffnet, ein schwarzer Schirm aufgespannt, dann bewegte er sich um die Motorhaube herum zur rechten hinteren Tür. Sie wurde geöffnet und Mike Simmons sah nichts weiter als die helle Schirmmütze auf dem Kopf des Fahrers, als der den Schirm über den Ausstieg hielt. Ein roter Hut blitzte kurz auf im Licht der LED-Laternen, dann gingen der Fahrer und die Frau unter dem Schirm zu seinem Hauseingang. Sie wirkten nicht, als müssten sie sich erst orientieren. Offenbar wussten sie, wohin sie wollten. Er zählte eins und eins zusammen. Eine Frau? Borg hatte andere Möglichkeiten. Allerdings … seit gestern waren im ganzen Haus die Kameras der Türüberwachung ausgefallen und im SUV war noch Platz für mindestens zwei Leute mehr. Eine Frau und ein Mann vor seiner Tür, möglicherweise noch zwei im Wagen, kalkulierte Mike Simmons. Es würde interessant werden.
Sanft schwang der Klingelton durch den Raum und es war der von seiner Wohnungstür, nicht der der Haustür drei Etagen tiefer. Er blickte auf seine Uhr. Acht Parteien wohnten im Haus. Sein Besuch hatte sich offenbar weder lange mit dem elektronischen Schloss an der Eingangstür aufhalten müssen noch Zeit damit vertan, die richtige Tür zu finden. Sein Name stand nicht daran, nur eine Nummer. Sie hatten gewusst, wo sie hin wollten, und sie besaßen die Codes für die Türschlösser. Die hatte nicht einmal Borg. An die konnte nur Wielander herankommen, weil jeder bewaffnete Mitarbeiter der Firma sie dem Sicherheitsdienst zu melden hatte.
Der Captain blickte wieder aus dem Fenster auf den Wagen. Nichts rührte sich da unten. Der Fahrer war noch nicht wieder zurück.
Jetzt wurde an seine Tür geklopft, herrisch und drängend. Einen Moment überlegte er, nicht zu öffnen, dann verwarf er den Gedanken wieder. Sie würden wissen, dass er zu Hause war. Wer so einen Aufwand betrieb, der hatte ihn auch mindestens seit dem Moment der Wohnungsdurchsuchung unter ständiger Beobachtung, wahrscheinlich sogar schon früher. Öffnete er nicht die Tür, würde man sie aufbrechen und dann würde nicht mehr er es sein, der die Situation kontrollierte.
Er stieß ein leises Brummen aus, straffte sich und öffnete die obersten zwei Knöpfe seines weißen Baumwollhemdes. Er wollte beweglich sein. Im Flur überprüfte er mit einem schnellen Blick die Ladung der Taesertron-Schockwaffe auf dem Bord und legte eine Zeitung darüber. Erst dann öffnete er die Tür und er tat es so, dass sie ihn nicht erwischen konnten, sollte sie mit Gewalt aufgestoßen werden. Möglich, dass ich Gespenster sehe, dachte er, aber wenn nicht, dann soll auf meinem Grabstein wenigstens nicht stehen: wegen Dummheit draufgegangen.
Der Türspion war dunkel. Natürlich war er das, wahrscheinlich hielt jemand die Hand davor. Er seufzte lautlos und öffnete die Tür, gefasst darauf, auf den Lauf einer Waffe zu blicken, doch es war schlimmer.
Die Frau vor ihm war fast so groß wie er. Sie war schlank, wirkte aber keineswegs zerbrechlich. Wie sie hatten sich Frauen vor fast einhundert Jahren, in den Neunzehnhundertfünzigern, gekleidet. Heute hätte man diesen Abglanz einer Zeit, in der Frauen noch etwas darauf gegeben hatten, auch äußerlich aufregend zu sein, ‚burleske‘ genannt.
Sie trug rote Schnürstiefeletten mit hohen Absätzen, dazu ein seidig glänzendes, ärmelloses schwarzes Kleid mit großen weißen Punkten darauf. Züchtig endete es knapp unterhalb ihrer Knie – damals bedeutete ‚aufregend‘ noch, zu versprechen und nicht zu zeigen – und so hauteng saß, dass es einem Bleistift die Luft abgeschnürt hätte. Das Leder ihrer schwarzen Handschuhe reichte bis zu den Ellenbogen. Es war so dünn und straff, dass es auch angemalte Haut hätte sein können. Über ihren linken Arm hing ein heller Regenmantelmantel, am Handgelenk schimmerte eine Perlenkette und er zweifelte keine Sekunde daran, dass sie echt war. Vor ihrem roten Hut mit der breiten Krempe hing ein Schleier, dicht genug, die Konturen ihres Gesichts zu verbergen, aber nicht dicht genug, das ihn das Rot auf ihren Lippen nicht angeschrien hätte.
Ihr Anblick schlug unter Umgehung seines Logikzentrums direkt in seinem Kleinhirn ein, da, wo die niederen Instinkte sitzen, und das konnte kein Zufall sein. Doch etwas stimmte nicht an ihr, er wusste nur nicht, was es war. Das, was sie trug, war perfekt der damaligen Zeit entsprechend, es sah neu aus und es mochte allein ein Vermögen gekostet haben, diese Sachen zu beschaffen. Offenbar hatte sich jemand nicht nur sehr tief in seine Akte eingegraben, sondern auch das, was er da gefunden hatte, richtig interpretiert. Nicht nur Waffen haben einen Druckpunkt, dachte er zornig. So viel bin ich Borg also wert. Eine Edelnutte. Fehlt nur noch die Waffe im Strumpfband.
„Da bekommt ‚mit den Augen ausziehen‘ doch eine ganz neue Bedeutung“ sagte sie. „Und ja, natürlich trage ich auch Korsett und Strumpfhalter. Ich mache keine halben Sachen.“ Es klang kalt, nahezu abschätzig, als hätte jemand ein Windspiel aus Eiszapfen angestoßen.
Ihre Stimme holte ihn wieder in die Gegenwart und plötzlich wusste er, was nicht stimmte: Ihre ganze Haltung drückte Verachtung aus und sie galt nicht ihm, sondern dem, was sie trug. Als hätte sie eine Uniform übergezogen, die sie hasste. Er versuchte sich einen Reim darauf zu machen. „Gewöhnlich sagt man erst einmal ‚guten Abend‘, wenn man vor einer fremden Tür steht.“
„Gewöhnlich ist ein Attribut, das im Zusammenhang mit mir eher selten benutzt wird. Und wer sagt Ihnen, das mir Ihre Tür fremd ist?“
Er feuerte eine Schuss ins Blaue ab. „Warum sind Sie dann nicht gleich hereingekommen? Wie gestern?“
Sie knickte ein wenig im linken Knie ein, der Rand ihres Hutes zuckte kurz hoch, dann richtete sie den Blick zur Decke, als sei sie der Geschichte schon jetzt überdrüssig. „Wollen wir uns die Trivialitäten nicht besser drinnen an den Kopf werfen?“
„Ich habe gleich einen Termin.“
„Am Samstagabend? Dann stünde er in Ihrem Terminkalender. Sie sind berechenbar, Mike.“
Er stellte sich vor, wie sie hinter dem Gesichtsschleier abfällig lächelte. Das gab zwar nicht den Ausschlag, aber er wusste, dass es ihn auch nicht weitergebracht hätte, ihr die Tür vor der Nase zuzuschlagen. Dann hätte man jemand anderen geschickt. Im SUV wartete die Kavallerie. Er machte einen Schritt zur Seite und redete sich ein, dass es überhaupt nichts damit zu tun, wie sie als Frau auf ihn wirkte. Es ging nur ums Geschäft.
Sie schwebte an ihm vorbei, mit ihr der trockene, aber süße Duft von Sandelholz und sein Körper reagierte mit der Ausschüttung von Testosteron. So wirkte sie auf jeden Mann und sie alle heilten noch ihre Erfrierungen aus.
Als wäre sie hier zu Hause, steuerte sie sein Arbeitszimmer an. In seinem Lieblingssessel hinter dem Schreibtisch nahm sie Platz und natürlich machte sie eine Show daraus. Er lehnte sich an den Türrahmen seines Arbeitszimmers, bot ihr nur seine Schmalseite dar und konnte hinter der Wand Deckung nehmen, falls es notwendig sein sollte. Dann verschränkte die Arme vor der Brust und verbarg die Taesertron darunter. Sie hatte ihre Handtasche in Griffweite behalten und sie zu durchsuchen, wäre ihm lächerlich vorgekommen. Sie war eine Frau, wog dreißig Kilogramm weniger als er und selbst, wenn sie gut war – in einem Korsett unterlag man gewissen Bewegungseinschränkungen. Angst hatte er keine vor ihr, solange sie ihm nicht so nahekam, dass er das Weiße in ihren Augen erkennen konnte. Irgendwann musste sie mit dem herausrücken, was sie hierhergeführt hatte. Ihm war klar, dass sie sich weder in der Tür geirrt hatte, noch, dass sie gekommen war, um die Bequemlichkeit seines Sessels zu testen. Das Bett vielleicht, immerhin hatte sie gesagt, dass sie keine halben Sachen machte, aber sie würde etwas fordern dafür. Etwas, dass diesen ganzen Aufwand rechtfertigte, was darauf schließen ließ, das er keinesfalls freiwillig herausrücken wollte. Er hatte nicht die geringste Ahnung, was es sein konnte.
Als er keine Anstalten machte, seinerseits ein Gespräch zu eröffnen, hauchte sie: „Könnten wir ein bisschen weniger Licht haben?“
Er war sich sicher, ihren Satz schon einmal gelesen zu haben, vielleicht bei Raymond Chandler oder Dashiel Hammet. Sie stand offenbar nicht nur mit ihrer Kleidung auf die alten Zeiten. „Licht aus!“, brummte er. Die indirekte Deckenleuchte erlosch und im gleichen Moment glimmte das Licht seiner Schreibtischlampe auf. Er sagte: „Ihr Boss – wer ist das doch gleich – liest zu viele alte Kriminalromane. Wenn es langweilig wird, taucht da immer eine schöne schlechte Frau auf. Ist billiger Schund.“
„Und? Gibt es ein Happyend?“ Seine Frage ignorierte sie.
Er auch. „Nie. Irgendjemand muss immer sterben. Die Schöne oder die Hoffnung. Manchmal auch beide.“
„Vielleicht bin ich ja hier, damit es nicht so böse endet? Für Sie …“
Sie lehnte sich zurück und ihre mit schimmerndem Schwarz bestrumpften Beine erschienen auf der Tischplatte, gut ausgeleuchtet von seiner Leselampe. Sie waren phantastisch, mit lang geschwungenen straffen Waden, die Knie rund und glänzend wie Billardkugeln. Er hätte ein Eunuch sein müssen, um nicht darauf zu starren, und ein Idiot, um zu glauben, dass zwischen ihnen das Paradies auf ihn wartete.
„Wenn in Ihrem Rock jetzt noch ein Schlitz auftaucht, fange ich an zu schreien.“ Wenn in seiner Stimme ein Anflug von Besorgnis war, so war er so gering, dass er es selbst nicht bemerkte. Es waren nur schöne Beine, keine feucht schimmernden, verführerischen Frauenaugen. Noch nicht …
Wieder bewegte sich ihre Hutkrempe nach oben. „Aber das ist doch der Plan. Männer schreien bei mir immer.“
„Davon bin ich überzeugt. Kälte kann so weh tun. Wie war das mit den Plattheiten?“
Er hörte ein spöttisches Lächeln in ihrer Stimme. „Sie spielen nicht gerne, hm? Ach ja, ich erinnere mich. Sie lassen lieber spielen.“ Sie nahm ihre Beine vom Tisch und er staunte, wie lange sie für eine so simple Bewegung brauchte. Nicht, dass es ihn gestört hätte. Ihren letzten Satz vermerkte er bei sich. Sie wusste entschieden zu viel über ihn.
„Dann setzen Sie sich bitte zu mir. Sie haben doch keine Angst vor einer Frau, oder?“
Gefrierbrand war heilbar. Er zog sich einen Stuhl heran und ließ sich ihr gegenüber darauf fallen mit dem Tisch als letzte Bastion dazwischen.
„So ist es doch viel … intimer.“ Für die Eiszapfen in ihrer Stimme hatte Tauwetter eingesetzt. Eine ihrer immer noch behandschuhten Hände ging neben dem Sessel auf Angeltour in ihrer Handtasche – ein süßes kleines Ding aus schwarzem Leder, in dem ein Mittelklassewagen gerade so Platz gefunden hätte – und er spannte sich. Doch sie kam nur mit einem Paar Handschellen wieder zum Vorschein. „Sie haben lange keinen Krimi mehr geschrieben.“
„Schon mal was von einer Schreibblockade gehört? Außerdem mag mein Boss keine Nebentätigkeiten.“ Die Handschellen ignorierte er. Vorerst.
Sie ließ sie auf seinen Schreibtisch klappern, steckte einen Finger durch eine der Schellen und ließ sie langsam auf der Tischplatte kreisen. „Ihnen fehlt womöglich nur etwas Inspiration. Ein Mann sollte nicht nur essen und arbeiten. Ab und zu muss er auch ein wenig Spaß haben.“
„Ich komm schon klar.“
„Tatsächlich?“ Etwas bewegte sich hinter dem Gesichtsschleier und er ahnte, dass sie abfällig den Mund verzog. „Wohl nicht besonders gut,“ setzte sie hinzu. „Wenigstens, was den Spaß anbetrifft. Wo möchten Sie liegen, oben oder unten?“
„Meinten Sie: Wie tief?“ Was sie tat, wie sie es tat, ihre Stimme, ihr Duft – es wirkte auf ihn. Wenn es ein Spiel war, so verstand er die Regeln nicht. Es war voller Klischees, so wie ihre Art, sich zu kleiden und doch wirkte nichts davon, als käme es aus der Mottenkiste. Es wirkte … erfrischend und verführerisch, auf eine morbide, gefährliche Art.
Glockenhell lachte sie auf und zum ersten Mal klang es echt. „Aber Mike … Frauen schenken Leben, sie nehmen es nicht und Männer wie Sie sollten es beschützen.“
„Nicht in meiner Welt. In der gibt es zu viele von diesen Dingern da,“ hielt er dagegen und warf einen deutlichen Blick auf die Handschellen zwischen ihnen.
„Wie?“ Sie blickte hoch, als hätte sie ihm nicht zugehört. „Ach die … die brauche ich nicht. Sie werden Sie sich freiwillig anlegen, aber das kommt später. Das ist nur für die Dramaturgie. Die Schwierigkeit beim Katz- und Mausspiel ist nämlich, zu wissen, wer die Katze ist und wer die Maus. Die Maus sind Sie, so viel dürfte Ihnen klar sein. Aber ich bin nicht die Katze, da sind Sie im Irrtum. Ich bin nur der Köder.“
„Nicht für mich.“
„Sie sind sich da ganz sicher, Mike?“ Sie ließ ein paar Sekunden vergehen, dann klappte sie mit beiden Händen den Schleier hoch. Ein herzförmiges Gesicht mit einer ein wenig nach oben gebogenen aristokratisch kleinen Nase kam zum Vorschein, dazu schwellende roten Lippen, die wie für das Küssen geschaffen schienen und wie eine Festung aus weißem Marmor thronte eine hohe Stirn darüber.
Sie nahm den Hut ab, schüttelte den Kopf und ordnete ihre schulterlangen brünetten Haare mit einer einzigen Handbewegung, wie es nur Frauen können, dann blickte sie ihn aus blassblauen Augen an. Die knackende Kälte von arktischem Eis schimmerte in ihnen.
Scharf zog er Luft durch die Nase ein. Er saß Sylvie Skagen gegenüber, der Privatsekretärin von Olaf Wielander, was immer auch das ‚privat‘ dabei bedeuten sollte. Er hatte noch nie Kontakt mit ihr gehabt, aber er wusste wenigstens, wie sie aussah. Wielander kontrollierte alle Sicherheitskräfte der Firma und war der Chef von Borg. Captain Simmons fragte sich endgültig, was für ein Spiel hier lief. Dass Wielander und Borg sich nicht besonders grün waren, pfiffen die Spatzen von den Dächern, Borg machte wohl zu viel Druck von unten und schielte mit beiden Augen auf Wielanders Stuhl. Captain Simmons fragte sich, ob Wielander ihn etwa gegen Borg benutzen wollte, indem er ihm Sylvie ins Bett legte? Damit hätte er dann wenigstens schon einmal eine Erklärung, woher sie die Kombinationen der Türschlösser hatten.
„Sie wirken auf einmal etwas blass, Mike,“ sagte sie und drehte die Handschellen wieder um einen Finger. Das Geräusch, mit dem sie seine Tischplatte zerkratzten, stellte ihm die Nackenhaare auf. „Sie haben Recht, ich bin nicht zum Spielen hier. Sie verbergen etwas vor der Firma, Mike, und das ist nicht die Nummer ihres Zahlenschlosses an der Tür. Die war kein Problem für uns.“
Er brummte: „Ich habe keine Ahnung, was Sie meinen. Wer ist ‚uns‘?“
„Das macht das Spiel ja so interessant.“ Sie zupfte an den Fingern ihrer Handschuhe, dann zog sie sie langsam aus. Sie zelebrierte es genau so, wie sie vor ein paar Minuten ihre bestrumpften Beine vom Tisch genommen hatte. Es gab ein saugendes Geräusch, dann schabte sanft Leder auf Haut, gefolgt von einem deutlich hörbaren Klatschen, als sie sie auf die Milchglasplatte seines Schreibtisches fallen ließ, direkt neben die Handschellen. Das Foto von Handschellen und Handschuhen auf dem milchigen Glas hätte auf jeder schwarzen Erotikmesse einen ersten Preis abgeräumt. Sein Blick dabei konnte ihr nicht entgehen. An irgendeiner Stelle war er immer noch ein Mann und das Dunkle in sich hatte er nur weggesperrt, aber tot war es noch lange nicht.
Als wüsste sie genau, was in ihm vorging, flog ein winziges Lächeln über ihre Lippen und war vorhin das Eis in ihrer Stimme getaut, so geschah das Gleiche jetzt mit ihren Augen. Sie bekamen einen warmen Schimmer und es war der Moment, an dem er sich wünschte, sie würde lieber ein Sturmgewehr auf ihn richten.
„Ich will es kurz machen“, sagte sie. „Natürlich bin ich nicht hier, um sie zu verführen. Wir hätten beide keinen Spaß daran und das ist es, was Sie in Wirklichkeit verbergen, Mike. Ragnar Borg lässt sich von niemandem außer Ihnen widersprechen. Das tut er deshalb nicht, weil niemand so gut darin ist wie Sie, vorauszusehen, was andere Leute tun werden. Zusammen mit Ihrer Ausbildung und Erfahrung macht Sie das zum besten Ersteller von taktischen Einsatzplänen, den er je hatte. Er füttert Sie mit Daten, und Sie machen daraus die Pläne, die Borg so erfolgreich machen. Sie haben eine Gabe, sich in die Gedanken anderer hineinzuversetzen, herauszufinden, was sie tun werden, was sie fürchten und wo ihre neuralgischen Punkte sind, die man bei einem Typen wie Sie nicht erwarten sollte und die ziemlich beängstigend sein kann. Es ist Ihnen gelungen, Borg zu täuschen, sogar Wielander, aber Sie können mich nicht täuschen. Sie haben damals versucht, ihre Gefühle in Ketten zu legen, aber sie sind immer noch da und Sie nutzen sie.“
„Mit dem Eis in den Augen haben Sie mir besser gefallen“, höhnte er. Doch seiner Stimme war etwas, dass da nicht hingehörte und es war ihr ‚damals‘, dass das machte.
Sie lachte. „Ich mir auch, das können sie mir glauben. Es war nur nicht meine Entscheidung.“ Mit Daumen und Zeigefinger ihrer Hände fasste sie nach den Handschellen. „Genau so wenig, wie es Ihre war.“ Fast liebevoll strich sie über das glänzende Metall, dann verstärkte sie plötzlich den Druck darauf, er sah es am Spiel der Sehnen auf ihren Handrücken. Es hatte etwas Magisches und es verhinderte, dass er den Blick abwendete, obwohl das, was sie da machte, ihm körperlich weh tat. Er hatte es schon einmal gesehen.
„Hören Sie auf damit, sofort!“, fauchte er.
„Womit denn?“ Unschuldig sah sie ihn an, aber dachte nicht im Geringsten daran, seinem Befehl nachzukommen. Er griff nach der Tischkante und hielt sich daran fest, seine Finger gruben sich in das Aluminium der Umrahmung und er versuchte, das in sich niederzukämpfen, was die Bewegungen ihre Hände auf dem kühlen Metall in ihm auslöste.
„Ja …“ In ihren Augen war Feuchte und in ihrer Stimme das Schnurren einer Katze, die Verständnis für die Angst einer Maus hat: „Jede Maus hat ihren ganz besonderen Köder, Mike.“
„Ich … ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.“ Er verfluchte sich für den Stotterer. Er hatte nicht die geringste Ahnung, wie sie es herausgefunden hatten, aber ihn einfach abzuholen, hatten sie diese Frau auf ihn angesetzt. Jede Minute länger, die er mit ihr verbrachte, lieferte ihn ihr mehr aus, bis … Ja, bis was? Hatte er die Kraft, so lange durchzuhalten, bis sie mit dem herausrückte, weswegen sie wirklich gekommen war? Oder hatte sie ihr Ziel schon erreicht, weil er vor ihr saß wie ein Waschlappen, statt sie aus seiner Wohnung zu werfen? Aber wenn er das tat, erfuhr er nie, ob sie vielleicht etwas wusste, etwas, das diese Leere in ihm füllen konnte, die ihn von innen verbrannte und gerade genug von ihm übrigließ, dass er wie ein Mann erschien, obwohl er längst nur noch eine Puppe war, die sich freiwillig in die Fänge von Borg gegeben hatte, nur, damit das Leben überhaupt noch einen Sinn hatte. Tat er jetzt so, als wüsste er nicht, wovon sie sprach, verspielte er die winzige Chance, die zu finden, die diese Leere in ihm füllen konnte.
Er konnte sie niederschlagen, bevor ihre Leute durch die Tür waren. Aber mehr auch nicht. Zeit, sie zum Reden zu bringen, würde man ihm nicht lassen. Tat er das, gab er zu, dass sie recht hatte. Dann wusste es Borg, Wielander so wieso und damit hätten sie ihn endgültig in der Hand. Wie er sich auch entschied, es würde falsch sein.
Obwohl alles in ihm schrie und etwas in seine Augen stieg, das da nicht hingehörte, sagte er, und das raue Etwas, das durch sein Arbeitszimmer klang, war seine Stimme: „Möglich, dass ich einmal so war. Bevor ich hier angefangen habe. Ich weiß es nicht einmal mehr. Jetzt bin ich Captain Mike Simmons, Sicherheitsinspektionsteam von NordicSF, der Mann, dem Ihre Bosse ihre Erfolge verdanken und dass dabei nicht allzu viele Leute draufgegangen sind. Das mag Ihnen nicht wichtig sein, mir schon. Dabei wollen wir es belassen. Grüßen Sie Olaf Wielander von mir und nehmen Sie es nicht persönlich, aber ich bin gegen Ihre Künste immun. Sie kennen den Weg zur Tür.“
„Oh Mike, Sie liegen so völlig daneben …“ Glucksend vor Lachen, sprang sie aus seinem Sessel, kam um den Tisch herum, zog ihr Kleid bis zu den Oberschenkeln hoch – was kein einfaches Unterfangen war, so eng wie es saß, und tatsächlich trug sie Strumpfhalter und Strümpfe – und setzte sich mit gespreizten Beinen auf ihn, alles in einer Bewegung. An seinem Ohr flüsterte sie: „Und ich weiß, warum du immun bist. Du suchst sie noch immer, oder?“
Es war nur ein winziges Zucken, mit dem er sich verriet, aus seinem Gesicht hätte sie nichts ablesen können. Aber genau deswegen hatte sie sich auf ihn gesetzt, denn seinen Körper hatte er nicht so im Griff. Er schluckte, schluckte noch einmal, dann presste er hervor: „Ich verstehe nicht, wovon Sie reden.“
„Das solltest du auf ein T-Shirt drucken lassen und an alle Männer verschenken,“ schmunzelte sie. „Dein Körper sagt etwas anderes. Männerkörper sagen immer etwas anderes als ihr Mund.“
„Das verwechseln Sie mit Frauen. Runter von mir!“
Sie stieg von ihm herunter, zog ihr Kleid züchtig über die Knie, richtete sich wieder auf und … schlug ihm ins Gesicht. Hart, einmal links, einmal rechts und so überraschend, dass seine Reaktion zu spät kam. „Du bist so ein Idiot, Mike Simmons!“, fauchte sie. Mit allem Möglichen hatte er gerechnet, aber nicht damit dass sie ihn ohrfeigen würde.
Bevor er sie packen konnte, machte sie einen Schritt zur Seite, dann ging sie um den Tisch herum und setzte sich wieder in seinen Sessel. Er stand auf und stemmte die Fäuste auf die Tischplatte. „Raus!“, knurrte er. „Wenn Sie nicht gleich verschwinden, tun Sie es ohne Bodenberührung und mit ein paar blauen Flecken auf ihrem Po. Das hätte schon längst mal jemand erledigen sollen.“
„Soll ich mich hier auf den Tisch legen dazu? Dann ist es einfacher für dich.“ Zuckersüß lächelte sie ihn an. Seine Drohung belustigte sie sichtlich.
Ein paar Mal atmete er tief, richtete sich auf, dann blickte er auf sie herab. „Sie kennen sich ja aus in meiner Wohnung. Bier steht im Kühlschrank. Ich brauche frische Luft“, sagte er und drehte ihr den Rücken zu. Er kam genau drei Schritte weit.
„Sie war eine Magierin, oder Mike? Und sie hat dich für den Rest deines Lebens verzaubert.“
Es war, als hätte sie ihm einen glühenden Dolch in den Rücken gestoßen. Er fuhr herum, wollte etwas sagen, aber sie stieß die Klinge noch tiefer und drehte sie herum: „Die ganze Nacht hat sie auf deinem Körper gespielt wie auf einem Instrument und sie hat es perfekt beherrscht. Sie hat dich perfekt beherrscht. Nicht einmal einen blauen Fleck hattest du am nächsten Morgen, wenigstens nicht auf deiner Haut. Sie hat deine Nervenbahnen bearbeitet, bis du die Kontrolle über deinen Körper verloren hast und das war nur der Anfang von etwas, das viel tiefer ging. Das weißt du doch noch aus deiner Ausbildung: Wenn der Schmerz zu schlimm wird, produziert der Körper ein Anästhetikum, man fühlt gar nichts mehr und man kann weiterkämpfen. Aber du hast nicht gegen sie gekämpft in jener Nacht, sondern gegen dich selbst, nicht wahr? Weil sie nie so weit gegangen ist, nicht? Sie ist immer nur genau bis an diese Grenze gegangen, ohne sie je zu überschreiten. Sie hat dir die Erlösung verwehrt und es hat dich rasend gemacht. Du musst dich gefühlt haben, als würde sie dir die Haut abziehen und darunter etwas zum Vorschein bringen, was dir vollkommen fremd war. Ihr aber nicht und deshalb hat sie weiter gemacht, ist noch tiefer eingedrungen, immer tiefer und irgendwann ist der Moment gekommen, in dem der Schmerz dich mit ihr verbunden hat, auf einer so tiefen Ebene, wie du dir das nie hast vorstellen können. Hast du gebettelt wie ein Hund, nur damit sie nicht aufhört, dir weh zu tun? Hast du dich in ihren Armen ausgeweint und dich so befreit gefühlt wie ein Kind, wenn es zum ersten Mal das Licht der Welt erblickt – nackt, die Seele unschuldig und unbefleckt? Weil sie das in dir akzeptiert hat, was du selbst nicht akzeptieren konntest? Das war der Moment, Mike, in dem die Zeit aufgehört hat, zu existieren. Weil die Berührung einer Seele zeitlos ist …“
Ihre Stimme war immer leiser geworden, schließlich ganz verstummt. Mit ihren Worten hatte sie das Letzte befleckt, was ihm geblieben war: Seine Erinnerung und die Gefühle, die er damit verband. Es hatte keinen Zweck mehr, zu lügen und er brauchte alles an Kraft, was er noch besaß, um sich aus der Erinnerung herauszureißen. Er lehnte sich an die Wand, etwas Feuchtes lief seine Wange herunter und er wischte es mit dem Handrücken weg. Sie war Sylvie Skagen, der Teufel Wielanders, und sie wussten alles. Aber woher?
„Setzt dich wieder hin!“, fauchte sie nach ein paar Sekunden. „Wir sind noch nicht fertig!“
Ich schon, stöhnte er innerlich. Gefühl hatte Verstand geschlagen, aber das sah sie ohnehin, das musste er ihr nicht noch sagen. Es fehlten nur ein paar Millimeter, bis die Klinge sein Herz traf und etwas in ihm wusste, dass sie sich das nicht entgehen lassen würde. Dann konnte er sich auch genau so gut wieder hinsetzen, dann bemerkte sie wenigstens nicht, wie ihm die Knie zitterten.
Kaum hatte er wieder Platz genommen, stieß sie zu, gnadenlos und präzise. Ihre Stimme war wie das Sirren eines Samuraischwertes: „Doch das war nicht alles, Mike Simmons. Denn sie ist gegangen, du hast dich von ihr verraten gefühlt und tust es immer noch. Seit damals gibst du ihr die Schuld an der Leere in dir. Wie ich schon sagte: Du bist ein Idiot und damit eine Gefahr für die Firma.“
Wenn er schon zur Schlachtbank ging, sollten sie seinen Kopf herunterdrücken müssen. „Bleibt nur noch zu klären, woher ihr das wisst. Arbeitet sie für euch? Oder habt ihr es aus ihr herausgequetscht?“ Er staunte, wie fest seine Stimme klang.
„Also erinnerst du dich“, sagte sie und setzte versonnen hinzu: „Ich mich auch.“
Er konnte nicht glauben, was er hörte.
Sie lachte leise, aber es war kein Spott darin. „Sei nicht so überrascht. Männer und Frauen unterscheidet nur ihr Körper, aber in unseren Seelen sind wir … Menschen. Die meisten jedenfalls. Solche Leute wie Borg mal ausgenommen. Womit wir wieder beim Thema wären.“ Sie straffte sich. „Mike, was ist das Schlimmste, was du jemandem antun kannst, der die Macht gekostet hat?“
„Ihn töten“, knurrte er. „Schwebt euch das vor?“
„Oh nein.“ Sie schüttelte ihren Kopf, dass ihre Haare umherwirbelten. Mit einer kurzen Geste ordnete sie sie wieder. „Du hast mir nicht zugehört. Ich sagte bereits, dass wir weder töten noch foltern. Das ist Männerart.“ Sie lachte böse. „Mal abgesehen von denen, die mit Unterschriften und durch Befehle töten. Das sind auch keine Männer, das sind … Punzenfiffis. Nein, nimm jemandem, der einmal die Macht gekostet hat wie Borg oder auch du, sie wieder aus den Händen und mach ihn zum Sklaven von denen, die er vorher beherrscht hat. Das ist schlimmer als der Tod für sie. Ganz tief in dir weißt du das, auch, dass irgendwann abgerechnet wird. Du hast es von Anfang an gewusst. Trotzdem hast du mitgemacht.“
Wie eiskalt musste sie sein, um so etwas mit ihm durchzuziehen, erst recht, wenn sie selbst erlebt hatte, was ihm widerfahren war? Sie war wirklich ein Teufel. Er begriff jetzt, was Wielander unter ‚Privatsekretärin‘ verstand. Nur, dass es ihm nichts mehr nutzte. Bis vor einer Stunde war er noch stark und schnell gewesen. So lange hatte sie gebraucht, ihn fertig zu machen. Sein Körper hätte noch kämpfen können, und wenn sie mit fünf Mann vor der Tür gestanden hätten, aber jetzt wollte sein Kopf nicht mehr. Es gab nichts, wofür sich noch zu kämpfen lohnte für ihn und wenn er ehrlich zu sich war, dann nicht erst seit jetzt. Er hatte existiert. Leben ist etwas anderes. „Also was wollt ihr?“, stieß er hervor. „Wozu dieses ganze Theater?“
Statt einer Antwort griff nach sie nach seinen Händen. Sie war die Frau, die ihn fertig gemacht hatte und trotzdem wehrte er sich nicht, erwartend, dass sie ihm die Handschellen anlegte. Hinter sich hörte er, wie seine Wohnungstür geöffnet wurde und ein böses, leises Lachen war in ihm: So konnte man auch Verluste minimieren.
Doch statt der Kälte von Metall spürte er die Wärme ihrer Hände. Schritte näherten sich. „Schließ die Augen“, sagte Sylvie und hielt seine Hände fest. „Wir wollen Borg und wir wollen, dass du uns dabei hilfst.“
Die Schritte kamen näher. Eine Hand berührte ihn in seinem Nacken, genau am Nervus occipitalis major zwischen dem ersten und zweiten Nackenwirbel und eine Stimme, die er niemals vergessen hatte, sagte: „Ich konnte dir die Leere nur zeigen. Sie mit Sinn erfüllen kannst nur du.“ Der Druck in seinem Nacken wurde stärker. „Wann willst du endlich damit anfangen?“

 

RHCSo, Mai 2022


Verfasst 17. Mai 2022 von Rainer Sonnberg in category "Erzählungen

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