Kapitel 8: Kaltes Herz


„[Ich bin] ein Teil von jener Kraft,
Die stets das Böse will und stets das Gute schafft. …
Ich bin der Geist, der stets verneint!
Und das mit Recht; denn alles, was entsteht,
Ist wert, daß es zugrunde geht;
Drum besser wär’s, daß nichts entstünde.
So ist denn alles, was ihr Sünde,
Zerstörung, kurz das Böse nennt,
Mein eigentliches Element.“
(„Faust. Der Tragödie erster Teil“, Johann Wolfgang von Goethe)

Ostberlin, Normannenstraße, Herbst 1989

Der helle Raum hätte das Zimmer des Direktors eines Kombinats oder volkseigenen Betriebes sein können. Zwei große Fenster mit Gardinen im gleichen Schneeweiß wie die hohe Decke gaben den Blick frei auf das Geschehen drei Stockwerke tiefer in der Normannenstraße. Die Wand zwischen ihnen war mit Buchenholz getäfelt, ebenso die an sie grenzende kurze mit der schalldichten Tür. Ein penibel gepflegter, mannshoher Gummibaum neben einem Sofa aus beigem Plüsch und einem kleinen Tischchen mit einem verchromten Mittelfuß davor grünte in dem Winkel zwischen beiden Wänden. Eine zentimetergenau nach links und rechts ausgerichtete Fotografie ließ das Konterfei von Erich Honecker mit einem seiner jovialen Halblächeln auf Besucher herabblicken, die hier Platz nahmen. Böse Zungen behaupteten, er hätte mehrere davon in der Schublade und seine Frau Margot würde ihm jeden Morgen nach einem Blick in seinen Terminkalender das Passende ankleben: Für das Volk das nur Angedeutete, fast Verschämte, damit niemand mitbekam, dass er mehr zu lachen hatte als die Leute auf der Straße; für Gorbatschow das mit den zusammengebissenen Zähnen hinter schmalen Lippen und für seinen alten Kumpel Mielke das Erleichterte, weil der die Leute im Griff hatte. Wenigsten glaubten die beiden das.
Von der den Fenstern gegenüberliegenden Wand lächelte niemand, nicht einmal verschämt. Sie war im gleichen warmen Beige gestrichen wie der Stoff der Couch und bis auf eine Kohlezeichnung in einem schmucklosen, von der Zeit nachgedunkelten Holzrahmen, vollkommen leer. Dass sie Felix Dzierżyński, den Gründer der Tscheka, darstellte, war ein Irrtum von jedem, der hier hereinkam, aber Oberst Müller dachte nicht im Traum daran, jemanden darüber aufzuklären. Zwar war auch Lawrenti Beria ein Tschekist gewesen, hatte den NKWD geführt und die Voraussetzungen für die Gründung des KGB geschaffen, aber als Kettenhund Stalins galt er als Personifizierung der innenpolitischen Gewaltexzesse in der Sowjetunion. Unter seiner Knute hatte niemand etwas zu lachen gehabt.
Müller war fasziniert davon, auf welche Art Berija es geschafft hatte, sich gnadenlos seinen Weg bis an die Seite Stalins zu erkämpfen. Er fand, dass die DDR mit einem Mann wie ihm an der Spitze niemals an dem Abgrund gelandet wäre, vor dem sie jetzt stand. Wenigsten wäre keiner mehr da gewesen, der hätte schubsen können. Für die hätte es Lager gegeben.
Das Zentrum des Zimmers beherrschte ein Konferenztisch, die Platte ebenfalls aus furnierter Buche, umgeben von fünf Stühlen mit dick gepolsterten rotweinfarbenen Sitzen und Rückenlehnen, auch sie zentimetergenau ausgerichtet. Es war ein Zimmer, in dem er sich wohlfühlen konnte, peinlich sauber und mit dem Maßband eingerichtet, aber doch auf eine ganz besondere Art gemütlich. Jeden Arbeitstag und jeden zweiten Samstag betrat er es exakt um sieben Uhr fünfzig, ignorierte Honecker, nickte Berija dafür um so freundlicher zu, legte seine rindlederne Aktentasche auf den Schreibtisch – ein Erbstück von seinem Großvater – öffnete ihre beiden Schnallen und klappte den Deckel auf. Um sieben Uhr fünfundfünfzig brachte Stabsfeldwebel Arndt die Akten, die Oberst Müller am Abend zuvor angefordert hatte, die neuesten Nachrichten und die aktuellen Tageszeitungen aus dem Westen. Exakt um acht Uhr nahm Müller die erste Akte zur Hand und begann mit seinem Tagesgeschäft in der Hauptabteilung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR.
Er war eine mächtige Erscheinung, fast zwei Meter groß, breit in den Schultern und mit Händen, in denen eine Makarow wie eine Spielzeugpistole gewirkt hätte. Sein flaches Gesicht war überraschend fein geschnitten, hatte trotz seiner über fünfzig Jahre kaum Falten und zeigte oft ein freundliches Lächeln, sofern man ihn nicht wirklich verärgerte. Seine bedächtigen Bewegungen erweckten Vertrauen, nie hatte ihn jemand brüllen hören, nie geriet er in Panik und das wollte im Sommer neunzehnhundertneunundachtzig, in der fast jeder Stasioffizier um mehr als nur seine berufliche Zukunft fürchten musste, etwas heißen. Als Stabsfeldwebel Arndt mit den Tagesnachrichten kam, war der Oberst vertieft in die Kopie eines Berichts der Militärstaatsanwaltschaft, den er sofort nach Betreten des Zimmers aus seinem Safe geholt hatte. Der Stabsfeldwebel legte die Dokumente auf die linke Seite des breiten Schreibtisches, der den Balken über dem T des Konferenztisches bildete.
„Die Genossin Wendt schon abgeflogen?“, fragte der Oberst.
„Nein, sie fliegt erst heute Nachmittag.“
„Sie soll sich bei mir melden.“
„Jawohl, Genosse Oberst.“
„Schicken Sie einen Kurier nach Kühlungsborn. Ich brauche so schnell wie möglich die Militärakte von Christian Oldenburg, dem Sohn von Major Oldenburg. Antwort aus Karlshorst?“
„Hier.“ Mit einem zielsicheren Griff in den Stapel der Akten, die er gebracht hatte, holte der Stabsfeldwebel den Umschlag hervor und legte ihn vor Müller auf die Schreibtischplatte. Der Oberst riss ihn auf, überflog den Text auf dem A4-Blatt mit dem Stempel des Kommandos der GSSD, dann legte er ihn auf die rechte Seite.
„Bla … bla … bla. Wann kam sie?“
„Heute Nacht. Durch Kurier.“
„Danke. Einen Kaffee, bitte.“
Lautlos verschwand der Stabsfeldwebel. Wenige Minuten später kehrte er mit einem Halbliterpott frischem, türkisch gebrühten Kaffee zurück. Er kannte die Gewohnheiten des Obersts. Das Wasser hatte schon gekocht, als er ihm die Dokumente vorgeleget hatte.
Der Oberst kochte ebenfalls, wenn auch nur innerlich und schob unwirsch die Antwort aus der Zentrale des KGB in Berlin-Karlshorst beiseite. Er sprang aus seinem Sessel, ging mit der Tasse in der Hand zum Fenster und blickte sinnend hinaus.
Auf dem Gipfeltreffen des Warschauer Paktes in Bukarest im Juli hatte die Sowjetunion offiziell die Breschnew-Doktrin der begrenzten Souveränität der Mitgliedsstaaten aufgehoben. Die Beziehungen untereinander sollten künftig auf der Grundlage der Gleichheit, Unabhängigkeit und des Rechtes eines jeden Einzelnen, selbstständig seine eigene politische Linie, Strategie und Taktik ohne Einmischung von außen auszuarbeiten entwickelt werden. Die sowjetische Bestandsgarantie für die Mitgliedsstaaten war damit in Frage gestellt. Für das politische Kauderwelsch gab es eine Kurzfassung und die lautete: Wir sind raus. Seht zu, wie ihr alleine klarkommt. Offenbar war das auch schon beim KGB angekommen. In den letzten Wochen hielt man sich dort nur noch bedeckt und aus der früheren vertrauensvollen Zusammenarbeit war ein Belauern geworden, als stünden der KGB und das MfS schon auf entgegengesetzten Seiten.
Müller war sich sicher, dass das nicht auf Dauer funktionieren würde. Die DDR war immer von der Sowjetunion als Speerspitze gegen den Westen benutzt worden. Ja, sie war aus diesem Grund überhaupt nur gegründet worden. Selbst die Nationale Volksarmee, ausgerüstet mit sowjetischen Waffen, hatte nur eine Aufgabe: Im Kriegsfall die NATO-Streitkräfte vierundzwanzig Stunden lang aufzuhalten, bis die Divisionen der Gruppe der sowjetischen Streitkräfte in Deutschland ihre Verteidigungsstellungen bezogen hatten. Auf gut Deutsch: Die NVA war nichts weiter als Kanonenfutter, so lange, bis die großen Jungs kamen, um sich zu prügeln.
Jetzt verließ der große Bruder nicht nur seinen Platz hinter dem Steuerrad, nein, er sprang gleich ganz über Bord. Dass das nur ein Ende haben konnte, musste jedem klar sein, der noch alle Tassen im Schrank hatte. Allerdings war da noch die Frage, wie sich die sowjetischen Divisionen auf dem Boden der DDR verhalten würden, wenn es wirklich zum Äußersten kam. Müller war überzeugt davon, dass es irgendeinen Handel zwischen der NATO und der Sowjetunion geben würde, vielleicht sogar schon gegeben hatte, damit die sowjetischen Truppen sich ruhig verhielten, wenn die DDR vom Westen gefressen wurde.
Er warf einen zornigen Blick auf das Bild von Erich Honecker. Die Beziehung zwischen Honecker und dem Generalsekretär der KPdSU, Gorbatschow, war schon seit Jahren gespannt: Honecker hielt dessen Politik der Kooperation mit dem Westen für falsch und fühlte sich von ihm speziell in der Deutschlandpolitik hintergangen. Er hatte dafür gesorgt, dass offizielle Texte der UdSSR, vor allem solche zum Thema Perestroika, in der DDR nicht mehr veröffentlicht oder in den Handel gebracht werden durften. Das war eine seiner seltenen brauchbaren Ideen gewesen, im Gegensatz zum Bruch mit Michail Gorbatschow. Nur war diese Idee viel zu spät gekommen. In den Städten der DDR wuchsen Zahl und Größe der Demonstrationen, und auch die Zahl der DDR-Flüchtlinge über die westdeutschen Botschaften in Prag und Budapest und über die Grenzen der ‚sozialistischen Bruderstaaten‘ nahm stetig zu, monatlich waren es mehrere zehntausend. Die ungarische Regierung hatte im August an einer Stelle und gestern überall die Grenze zu Österreich geöffnet.
Es war klar, was kommen würde: Die Leute, die seit fast dreißig Jahren hinter der Mauer zum Westen eingesperrt gewesen waren, würden in Scharen über Ungarn auswandern und es gab nur eine Art, wie man das verhindern konnte: Man musste alle Grenzen schließen. Dann wäre es aber an der Zeit, über Panzer auf dem Alexanderplatz nachzudenken. Müller wusste, dass das im Politbüro bereits diskutiert wurde. Aber Honecker war ein Taktierer, ein Krämer, ein Mann der genuschelten großen Worte und dämlichen Sprüche und kein Mann der Tat. Er konnte nur Leute gegeneinander ausspielen. Halsstarrig war er gewiss, aber Führungsstärke war etwas anderes. Es ging drunter und drüber im Staat und wer wirklich wissen wollte, was geschah, musste auf Westnachrichten zugreifen.
Oder man fragte Männer wie Major Sven Oldenburg. Er war in Oslo in einer exponierten Position gewesen. Sein Wissen um die Aktivitäten des Ministeriums für Staatssicherheit in Nordeuropa waren so umfassend wie über die der NATO. Jetzt aber lag auf Müllers Schreibtisch der Bericht des Militärstaatsanwalts über zwei tote Taucher, die Oldenburgs Sohn Christian auf dem Gewissen hatte.
Er ging zurück zum Tisch und drückte einen Knopf an der Wechselsprechanlage. Sofort erklang die Stimme von Stabsfeldwebel Arndt aus dem Lautsprecher: „Genosse Oberst?“
„Informieren Sie Major Retzlaff, dass ich ihn heute noch anrufe. Ich brauche einen Kontakt im Lazarett, in dem Christian Oldenburg liegt. Einen, von dem die Spatzen noch nicht von den Dächern pfeifen, dass er mit uns zusammenarbeitet. Falls nicht vorhanden, ein paar Akten von Kandidaten, die dafür in Frage kommen. Ich kümmer mich selbst darum.“
„Jawohl. Die Genossin Wendt ist eingetroffen.“
„Soll reinkommen!“
Bevor Arndt bestätigen konnte, ließ Müller die Sprechtaste los.
Ein fast nicht zu hörendes Klopfen drang durch die schallgedämpfte Tür, dann wurde sie geöffnet und Kerstin Wendt trat ein. „Guten Morgen, Genosse Müller.“
Ihre Weiblichkeit brandete wie eine Woge in den großen Raum hinein. Sie trug ihr lindgrünes Kostüm, als wäre es eine Uniform. Nicht einmal die Stiefel fehlten, allerdings besaßen sie zehn Zentimeter hohe Absätze. Jeder Feldwebel auf einem Kasernenhof hätte ihre Haltung nicht anders als vorbildliche Grundstellung bezeichnen können. Faltenlos glatt endete der Rock wenige Zentimeter unterhalb der runden Knie und an der Kostümjacke war jeder der drei silberglänzenden Knöpfe geschlossen. Sie spannte ein wenig über ihren Brüsten, aber nicht so, dass es über die Gebühr herausfordernd gewirkt hätte. Adrett und sehr fraulich sah sie aus.
Müller wäre kein Mann gewesen, wäre ihm das entgangen. Aber auch das kaum sichtbare mokante Lächeln um ihre Lippen sah er, mit dem sie ihr eigenes militärisches Auftreten persiflierte und auch das gefiel ihm. Er arbeitete gerne mit Leuten, die Charakter hatten, nicht bei jedem Wetterleuchten am Horizont in Deckung gingen und es war ihm dabei gleichgültig, ob sie Eier oder Eierstöcke besaßen. Für ihn zählten nur Ergebnisse und die brachte Kerstin Wendt immer.
Sie war ihm aufgefallen, weil sie es immer wieder geschafft hatte, außergewöhnliche Informationen bei ihren Treffen mit westlichen Industriekapitänen in feinen Berliner Hotels abzuschöpfen. Das waren keine Dummköpfe gewesen, die meisten von ihnen hatten Erfahrung mit den besten Prostituierten, die man im Westen für Geld kaufen konnte. Er hatte sie in seine Abteilung geholt, ausbilden lassen und es nicht bereut. Nie hatte sie ihm Grund gegeben, an ihrer Loyalität zu zweifeln. Was nicht hieß, dass er sich ihrer nicht von Zeit zu Zeit aufs Neue versicherte. Wer im Sommer Kraut klaut, hat im Winter Sauerkraut, hatte sein Großvater zu sagen gepflegt und der war ein vorausschauender Mann gewesen.
Einen Blick gönnte er sich noch auf ihre schlanke Gestalt, dann drückte er den Knopf seiner Sprechanlage und befahl dem Stabsfeldwebel draußen: „Keine Störung in der nächsten halben Stunde! Durch niemand!“
Ihr Lächeln vertiefte sich und er sagte: „Nehmen Sie Platz, Genossin Wendt. Wie ist der Status von Major Oldenburg?“
„Unbekannt, Genosse Müller.“ Sie stöckelte zu dem Stuhl, der dort stand, wo die beiden Tische aufeinandertrafen und der ihm am nächsten war, nahm Platz, zog den beim Hinsetzen ein wenig höher gerutschten Rock wieder glatt und legte ihre Hände in den Schoss. „Die letzte Nachricht von ihm erhielten wir vor achtundfünfzig Tagen, kurz nachdem er in Reykjavik gelandet war. Er wird sich noch zwei Mal melden: wenn er von Reykjavik nach Oslo fährt und wenn er in zwei Wochen in Oslo das Schiff in die Antarktis nimmt. Dann erst wieder, wenn er aus der Antarktis zurückgekehrt ist.“
„Kontakt?“
„Zurzeit noch über einen Kurier möglich.“
„Gut!“ Er sagte es mit solcher Entschiedenheit, dass Kerstin Wendt ihn erstaunt ansah.
„Welche Schwachstellen hat er?“
„Dort? Außer seiner fehlenden Berufserfahrung als Geologe kaum eine, wegen der er auffliegen könnte.“
„Ich habe nicht nach seinem Auftrag gefragt.“
Sie schloss einen Moment die Augen, dachte nach, dann antwortete sie: „Sein Sohn.“
„Ist bekannt,“ kollerte er.
„Er erfüllt Aufgaben auch, wenn er nicht hinter ihnen steht.“
„Das nennt man Loyalität.“ Müller schmunzelte.
Sie nicht: „Ich nenne es Charakterschwäche.“
„Wer hat keine? Sie?“
Müller lachte leise und ein launiger Unterton schwang darin mit. Eitelkeit war nicht nur des Teufels liebste Sünde. Sie und Sven Oldenburg waren gar nicht so verschieden, fand er. Der Major war über seinen Stolz führbar, sie bei ihrer Wirkung auf Männer, also auch bei ihrem Stolz. Ein Mann, der ihr widerstand, ließ sie zu einer rachsüchtigen Furie werden.
Kühl erwiderte sie: „Ich möchte nicht respektlos sein, Genosse Oberst. Konsequenz aus der falschen Überzeugung kann in den richtigen Händen durchaus eine Schwachstelle sein. Ob er eine Aufgabe mag oder nicht – es ist sein Stolz, der ihn zwingt, sie in jedem Fall so perfekt wie möglich auszuführen und bis zu Ende, wenn er sie einmal übernommen hat. Dieser Stolz lässt auch nicht zu, dass er auf halbem Weg umkehrt, sonst hätten wir ihn wahrscheinlich schon längst verloren. Ich weiß, dass er zweifelt, aber er kann sich selbst gegenüber keine Fehler zugeben.“
Jetzt wurde ihr Ton sarkastisch, nur ein wenig, aber genug, dass Müller es nicht überhören konnte. „Stolz, außer dem auf unser Land, ist immer eine persönliche Schwachstelle und bietet dem Gegner Angriffspunkte.“
„Dann wird Sie das hier nicht überraschen. Offensichtlich ist Konsequenz vererbbar.“ Er schob den Bericht des Militärstaatsanwalts zu ihr hinüber und gab ihr gleichzeitig eine Kurzfassung: „Die Staatsanwaltschaft wird Anklage gegen seinen Sohn erheben wegen zweifachen vorsätzlichen Mordes. Er behauptet, sich an nichts erinnern zu können, aber nach der Faktenlage ist das auch nicht notwendig.“
Er griff nach seiner Kaffeetasse und ließ ihr Zeit, die drei Seiten des Berichts zu überfliegen. Es dauerte nicht lange, bis sie, ohne den Blick vom Papier zu heben, feststellte: „Sie wissen nicht, was da genau passiert ist.“
Er setzte die Kaffeetasse ab. Dass sie nicht danach fragte, wie es dem Mann ging, dessen Stiefmutter sie fast geworden wäre, registrierte er. „Sie haben die Leichen von zwei Kampfschwimmern mit tödlichen Messerstichen und sie haben Oldenburg mit Wunden, ebenfalls durch Messerstiche. Die beiden Männer waren erfahrener als er und zu zweit. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass er sie nicht hätte töten können, wenn er sie nicht überrascht hätte. Schon gar nicht unter Wasser.“
„Warum hätte er das tun sollen?“
„Das Ganze hat eine Vorgeschichte. Es gab eine Prügelei zwischen den dreien, kurz nach seiner Einberufung. Sie ist aktenkundig, ebenso die Versuche der beiden Maate, ihm danach das Leben in der Kompanie zur Hölle zu machen. Er hat sich gerächt, was menschlich nachvollziehbar ist. Die Aussagen der Soldaten und Unteroffiziere in seiner Einheit erhärten den Verdacht. Sie beschreiben ihn als eigenbrötlerisch, kontaktscheu und undurchschaubar. Wahrscheinlich hat er sich ausgerechnet, wenn es keine Zeugen gibt, kann er darauf plädieren, dass sie ihn angegriffen haben. Eben, weil sie ihn hassten. Sie waren ein Problem für ihn und er hat es beseitigt. Konsequent bis zum Letzten.“
Sie schob ihm den Bericht wieder über den Tisch. „Das ist konstruiert.“
„Aber schlüssig.“
„Nur, wenn man ihn nicht kennt.“
„Was bei Ihnen nicht der Fall ist.“
Das hätte der Punkt sein können, weswegen er sie einbestellt hatte. Immerhin hatte es eine Zeit lang so ausgesehen, als würde sie das Loch füllen, das der Tod seiner Mutter Melanie in Christian Oldenburg hinterlassen hatte.
Kerstin Wendt biss sich mit der Unterlippe auf die Zähne und Müller sah, wie angestrengt sie nachdachte. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Auch wenn er auf andere so wirkt, wie es hier steht – und da er niemanden an sich heranlässt, wirkt er auf jeden so – ist er kein eiskalter Mörder. Nein, da unten ist etwas geschehen.“
„Was? Ein Problem mit der Ausrüstung? Eine Panikattacke?“
„Panik? Nur, wenn eine Frau ihn anlächelt. Ansonsten weiß er nicht einmal, wie sich Panik schreibt. Nicht er. Er wurde mit allem fertig, was von außen auf ihn eindrang. Nur was von innen nach außen wollte, das hatte er nicht im Griff.“
„Also doch Rache.“
Abwehrend bewegte sie die Hände über dem Tisch. „Nein. Definitiv nicht.“
„Sie verteidigen ihn?“
„Genosse Müller …“ In den zwei Worten schwang eine genau bemessenes Mass von Erstaunen mit. „Soweit ich weiß, muss man bei bestimmten Kampfeinheiten neben körperlichen Fähigkeiten eine außergewöhnliche psychische Stabilität nachweisen, bevor man bei ihnen aufgenommen wird. Wenn er nicht hätte glaubhaft darstellen können, dass er sich absolut im Griff hat, hätte man ihn Kartoffeln schälen lassen in der Kasernenküche bei den Sandlatschern in Eggesin.“
„Gutes Argument, auch wenn mir Ihre Ausdrucksweise missfällt. Die Angehörigen der 9. Panzerdivision der Nationalen Volksarmee in Eggesin haben eine wichtige Aufgabe zu erfüllen und die Verballhornung als ‚Sandlatscher‘ ist weit unter dem Niveau, das ich von Ihnen gewohnt bin, Genossin Wendt,“ wies Müller sie zurecht. „Ich werde Ihre Überlegungen trotzdem berücksichtigen. Die Militärstaatsanwaltschaft steht unter enormem Druck, ebenso wie die ganze Volksmarine. Das ist eines der schwersten besonderen Vorkommnisse in Friedenszeiten in der DDR. Es wird Versetzungen geben und mindestens ein Kopf muss rollen.“ Dass es nur der von Christian Oldenburg sein konnte, betonte er nicht. Er ging davon aus, dass ihr das klar war.
Er stand auf und reichte ihr die Hand über den Tisch. „All das geht uns eigentlich nichts an. Ich wollte nur, dass Sie informiert sind. Immerhin führen Sie Major Oldenburg. Danke, das war alles.“
Was nicht ganz der Wahrheit entsprach. Dass achtundvierzig Stunden später ein sowjetisches Minenräumboot vor Warnemünde aufgetaucht und drei Tage in diesem Seegebiet Manöver durchgeführt hatte, verschwieg er ihr.
Sie erhob sich. Wenn sie verwirrt war, ließ sie sich das nicht anmerken. Er fragte: „Eins noch. Wird Major Oldenburg die Mission abbrechen, wenn er davon erfährt?“
„Unverzüglich.“
In einem Ton, als spräche er mehr zu sich selbst, fragte er: „Sollten wir ihn informieren? Was meinen Sie?“
Für einen Moment wurde sie steif, dann antwortete sie: „Nein, ich meine, das sollten wir nicht.“
Müller nickte. „Dann guten Flug, Genossin Wendt!“