Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz


Winfried erhielt eine ausführliche Einweisung von Dr. Braun in die Abläufe auf der Station und musste am Schluss dafür unterschreiben. Pedantisch bestand der kleine Stationsarzt darauf, dass Winfried jeder Schwester und jedem Pfleger die Hand reichte und ein paar Worte mit ihnen wechselte.
„Wir sind hier weder genug Ärzte … hm … und ein paar Schwestern mehr wären auch gut … hier muss alles funktionieren, sonst leiden meine Patienten. Sie werden sich keinen abbrechen, wenn Sie den Schwestern zur Hand gehen.“ Er sah Winfried scharf an. „Oder sind Sie etwas Besseres?“
Winfried beeilte sich, ihm zu versichern, dass er sich dafür nicht zu schade war und Dr. Braun nickte. „Wir werden sehen …“, murmelte er und zerrte Winfried zu dem Posten, der vor der Tür zum geschlossenen Bereich stand. „Winfried Gneidsen ist das,“ schnarrte er. „Gehört zur Station … ah … jedenfalls … also … er ist Arzt. Sie müssen ihn nicht jedes Mal kontrollieren.“
Der junge Mann machte ein unglückliches Gesicht in seiner Filzuniform. „Na ja, verstehe, auch wenn das eigentlich nich geht. Ich werd auch gleich abgelöst.“ Unbehaglich hob er die Schultern und ließ sie wieder fallen.
„Ja dann … dann sagen sie es weiter. Oder schreiben es in ihr tolles Buch da. Das kann doch kein Problem sein. Wozu haben sie das dann sonst?“
Der Posten bog den Rücken durch. Sehr dienstlich sagte er: „Im Wachbuch ist jeder Zutritt zu diesem Bereich zu notieren, die Uhrzeit des Betretens und Verlassens sowie der Name und die Nummer des Dienstausweises der betreffenden Person. Erst dann ist es der betreffenden Person gestattet, den gesicherten Bereich zu betreten.“
„Der betreffenden Person …“ Dr. Braun kicherte.
Verblüfft blickte Winfried ihn an. Der Stationsarzt gickelte wie ein kleines Mädchen.
„Wie lange …“ Dr. Braun schob seine Brille hoch und wischte sich etwas Feuchtes aus dem Auge. „Wie lange haben Sie an diesem Spruch üben müssen? Ach, was solls! Ich wollte Sie nicht verletzen. Machen Sie einfach die Tür auf!“
„Ohne die Eintragung ist mir das nicht gestattet.“ Mit beleidigtem Gesicht stellte der Posten sich vor die Tür.
„Lassen Sie nur.“ Winfried tippte Dr. Braun auf den Oberarm. Die Auseinandersetzung um seinetwillen war ihm peinlich. Er reichte dem Posten seinen Dienstausweis. „Bitte tragen Sie mich ein.“
„Ich habe das schon so oft angesprochen beim Chefarzt,“ schimpfte der Stationsarzt, während der Posten die Nummer des Dienstausweises von Winfried in sein Wachbuch eintrug. „Wie sollen wir Menschen heilen, wenn wir unter all dem bürokratischen Verdauungsprodukt ersticken? Es ist zum Aus-der-Haut-Fahren! Geben Sie schon her und lassen Sie den Mann endlich herein!“ Er riss dem Posten Winfrieds Dienstausweis aus der Hand. „Ich werde mich über Sie beschweren!“
Stoisch blickte der Posten über den Arzt hinweg, gab Winfried seinen Dienstausweis zurück und schloss die Tür auf. „Bitte sehr,“ sagte er.
Winfried blickte sich kurz um, dann nahm er sich einen Stuhl und setzte sich neben das Bett. „Sie sehen besser aus, als man mir gesagt hat,“ begann er. „Mein Name ist Winfried Gneidsen. Ich bin Psychologe.“
Lange musterte Christian Winfried nur aus dem Augenwinkel, dann erst drehte er seinen Kopf zu Winfried herum. Unter diesem Blick setzte Winfried hinzu: „Besser gesagt, ich werde es sein. Im Moment studiere ich noch.“
Nichts in Christians Miene deutete darauf hin, dass er Winfried erkannt hatte oder dass er sich an dessen Namen erinnerte. Er fuhr sich mit der Zunge über die blassen Lippen, bevor er mit brüchiger Stimme fragte: „Sind Sie nich `n bisschen jung für `n Krankenhauspriester?“
„Denken Sie denn, dass Sie einen brauchen?“
„Sagen Sie es mir. Die Quacksalber hier sind alle scheißfreundlich und erzählen nur immer was von Geduld. Ich trau ihnen nich über ‘n Weg.“
„Sollten Sie aber. Immerhin leben Sie noch.“
„Pfff …“ Christian hustete und rang nach Luft. „Noch oder trotzdem?“
„Sie mögen Spekulationen?“
„Manchmal. Aber ich … würde daraus … nie einen Beruf machen.“
„Mögen Sie meinen Beruf nicht?“
„Sie denn?“
Es war der Moment, in dem Winfried darüber nachdachte, sich eine Brille zuzulegen. Er hätte sie abnehmen und putzen können. Es hätte ihm Zeit verschafft. Zeit, die Christian ihm nicht gab. „Ich bin nicht hier, um mir mit Ihnen einen Kampf zu liefern, Christian.“
„Keine Revanche? Jetzt würdest du wahrscheinlich gewinnen.“ Christian lächelte und es war wie das Aufgehen einer dunklen Sonne hinter schwarzen Gewitterwolken, selbst in seinem ausgemergelten Gesicht. Dann wurde es wieder düster. „Nein. Du sollst herausfinden, was da unten geschehen ist. Du wirst dann ein Gutachten über mich schreiben und man lässt dich glauben, dass es einen Einfluss darauf hätte, ob ich als Doppelmörder eingebuchtet werde oder als freier Mann hier herauskomme. Den Zahn kann ich dir ziehen, Doc. Wird es nich. Diese Entscheidung ist längst gefallen. Schreibst du das falsche Gutachten, kriegst du höchstens die Zelle neben mir.“
„Was sollte ich denn schreiben, deiner Meinung nach?“
„Nu, das iss einfach. Die Wahrheit. Dass ich mich nich erinnern kann. Iss wirklich so, weißt? Alles, woran ich mich noch erinner iss, dass Werner Probleme mit seinem Sauerstoff kriegte auf dem Rückweg, hat immer wieder am Regler rumgefummelt. Vielleicht hat er ja Panik gekriegt, ist irgendwie ausgetickt und wir kriegten es zu spät mit. Jetzt stell dir das mal bei dreißig Meter Wasserdruck, in fast völliger Finsternis und bei drei Männern vor, die vor Ausbildungsstress nich mehr aus den Augen gucken können. Irgendwann musste das ja mal schief gehen. Und ich bin jetzt der Dumme, weil ich als Einziger wieder nach oben gekommen bin. An irgendeinem müssen sie es ja auslassen, dass das Ausbildungsprogramm einfach nur Scheiße iss, nix für Menschen. Aber Roboter haben sie noch nich.“
„Was glaubst du, warum du dann hier im Krankenhaus bist und nicht gleich im Gefängnis eingeliefert wurdest?“
„Ja, woher soll ich das denn wissen? Es redet ja keiner mit mir.“
Er sah für Winfried nicht danach aus, als würde ihn die Wahrheit umwerfen und wenn, hätte es auch nichts mehr geändert. Im Bett lag Christian ohnehin schon. Allerdings war Winfried sich nicht mehr so sicher, ob die Diagnose überhaupt stimmte. Das Gespräch mit Doktor Braun hatte ihm nur dessen Verwirrung gezeigt, auch wenn der versucht hatte, sie zu verstecken. Das Blutbild von Christian Oldenburg sah grauenvoll aus und niemand wusste, warum. Seine körpereigene Abwehr griff die eigenen roten Blutkörperchen und Blutplättchen an, doch es war keine Leukämie. Sogar in die Charité hatten sie es zur Analyse geschickt, doch auch dort hatte man nur mit den Schultern gezuckt. Es gab nichts im Blut von Christian Oldenburg oder in seinem Körper, dass man dafür verantwortlich machen konnte. Wenigstens nichts, was man gefunden hatte.
Winfried sagte: „Es handelt sich um das Evans-Syndrom. Es sieht aber so aus, als ob die Medikamente, die dir gegeben werden, den Prozess verlangsamen oder sogar aufhalten können. Also gute Aussichten für dich.“
Schweiß trat auf Christians Stirn und er schloss die Augen. Winfried fürchtete, dass er ihn überfordert hatte. Dabei hatte er sorgfältig formuliert. Über das Evans Syndrom konnte Christian unmöglich etwas wissen, selbst Winfried hatte erst nachlesen und es sich dann noch von Dr. Braun erklären lassen müssen.
Christian schlug die Augen wieder auf. „Sie wissen‘s nich. Sie haben nix gefunden und tappen im Dustern.“
Winfried senkte seine Stimme. Alles, was er an Überzeugungskraft zu haben glaubte, legte er in seine nächsten Worte. „Aber, aber … Du solltest schon ein bisschen Vertrauen in deine Ärzte haben. Das kann deiner Gesundung nur förderlich sein. Immerhin geht es dir doch schon viel besser als noch bei deiner Einlieferung.“
„Und das ganz ohne Milzoperation und Knochenmarkspende.“ Christian hustete trocken. „Ich bin ein bisschen in meiner Bibliothek spazieren gegangen eben. Da steht, dass es keine Medikamente dagegen gibt, nich war, aber eine Operation der Milz oder eine Knochenmarkspende helfen könnte. Irgendwie habe ich aber nix davon mitgekriegt. Und jetzt kommst du, Doc. Noch ne Lüge, und ich klatsch dich auf die Matte wie damals. Dann bist du nur noch ein feuchter Fleck auf der Diele und dabei hast du nich so eine beschissene Diagnose wie ich. Also überleg dir, was du mir sagst, wenn ich dich gleich frage, wer dich geschickt hat, um mich auszuquetschen. Aber jetzt muss ich erstmal aufs Klo.“
Er stemmte sich hoch und stellte sich auf die Beine, wankte einen Moment hin- und her, dann brach er zusammen. Noch im Fallen versuchte er, sich irgendwo festzuhalten, griff aber neben den Bügel über dem Bett und erwischte stattdessen die Leitung des Telefons auf dem Board über ihm.
Winfried sprang auf, aber seine Reaktion kam viel zu spät. Mitsamt der Dose riss Christian beim Versuch, sich festzuhalten, das Kabel aus der Wand und krachte zu Boden. Winfried streckte die Hand nach der Klingel aus, da packte Christian ihn am Bein. „Finger weg!“
Stöhnend versuchte er aufzustehen, Winfried half ihm ins Bett und Christian griff erneut nach ihm. Geschwächt von der Krankheit, dass er sich nicht auf den Beinen halten konnte, hatte er trotzdem einen Griff wie eine Stahlzwinge und Winfried fragte sich, wieso ein Bücherwurm, als den Müller ihn geschildert hatte, dazu fähig war.
Christians warme rehbraune Augen färbten sich so dunkel, dass sie fast schwarz wurden, und auf einmal schien er zehn Jahre älter. Er räusperte sich. „Du hast keine Ahnung, worum es hier geht. Lass es dabei, oder man beerdigt dich neben mir.“
„Wie so…“ Winfried stöhnte auf vor Schmerz, als Christian seinen Griff noch verstärkte. „Bist du vor kurzem hierher versetzt worden?“
„Nein, nur auf diese Station.“
„Wann?“
„Heute.“
„Hat jemand mit dir über mich gesprochen, eine Art Einweisung?“
„Ein Bernard Müller.“ So knapp, wie er konnte, erzählte Winfried den Inhalt des Gesprächs. „Ich lass mich doch nicht als Spion benutzen!“, schloss er wütend.
Christian hustete, aber er ließ Winfried nicht los. „Du bist es schon. Sie haben dich auf mich angesetzt, weil es eine Verbindung zwischen uns gibt. Ich soll dir vertrauen und dann erzählen. Oder sie machen deine Karriere von mir abhängig: Entweder ich rede, oder du wirst nie dein Diplom kriegen. Handbuch für psychologische Kriegsführung, erstes Kapitel: Wie man Druck aufbaut. Wenn sie mir einen Verhörspezialisten aufs Auge drücken wollten, hätten sie nicht einen Studenten geschickt. Nimms nicht persönlich, aber dich rauche ich auch unter Tavor und sonstigen Drogen, die sie mir hier verabreichen, noch in der Pfeife. Seit wann haben Knastis ein Telefon in der Zelle? Sie hören jedes Wort darüber mit und zeichnen es auf. Dann setzen sie ihre Leute darauf an und analysieren es. So läuft das!“
Winfried war gekränkt. „Woher willst du das denn wissen?“
„Weil ich darin ausgebildet wurde, du Idiot! Stand das nicht in meiner Akte?“
„Der Teil war geschwärzt und ich hätte nie …“
Die Tür wurde geöffnet und Schwester Verona steckte ihren Kopf herein. Sie war eine hübsche kleine Blondine um die Vierzig mit großen Kulleraugen. Winfried war ihr vor einer Stunde vorgestellt worden und die Herzlichkeit in ihren Augen war ihm sofort aufgefallen.
„Ist alles in Ordnung? Ich hatte gerade hier zu tun und der Posten sagte, er hätte etwas poltern hören.“ Sie wirkte besorgt.
Winfried erhob sich. „Ich bin so weit fertig. Der Patient ist beim Versuch gestürzt, aufzustehen, aber es ist nichts geschehen.“
„Wirklich?“ Ihr Blick fiel auf den umgestürzten Nachtschrank, blieb auf dem herausgerissenen Telefonkabel hängen und ihre Miene wurde finster. Nur ganz kurz, dann strahlte sie wieder. „Ich hole lieber Doktor Braun.“
„Mo … Moment.“ Christian hob die Hand, dann ließ er sie wieder fallen. „War … mein … Fehler.“ Er klang fürchterlich schwach, aber irgendwo in seinem schmerzverzerrten Gesicht versteckte sich ein Grinsen. „Bin wohl nich das geeignete Versuchsobjekt für Seelenklempner.“
Ein professionelles Lächeln kräuselte ihre schmalen Lippen. „Erst einmal hole ich Ihnen den Stationsarzt. Dann schlafen Sie und morgen sehen wir weiter. Sie wissen doch – jeder Tag ein kleiner Schritt. Kommen Sie, Herr Gneidsen?“
„Natürlich.“ Winfried strich Christian die Bettdecke glatt. Der warf einen Blick auf Schwester Verona, dann blickte er Winfried an. Die Warnung in Christians Augen konnte nicht einmal Winfried übersehen.

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Es war kurz nach 7 Uhr am Abend. Das Klappern von Geschirr und von Türen, die auf- und wieder zugeschlagen wurden, hallte über den Flur und über allem lag der Geruch von Essen. Die Fütterungszeit war vorbei, Schwestern und Pfleger schoben Wagen mit leerem Geschirr über den Gang und mit Interesse sah der Soldat Günter Henninger dem Treiben zu. Auch wenn es ihn nichts anging, so bedeutete es wenigstens Abwechslung in seinem vierstündigen Postendasein.
Er stand nicht das erste Mal hier Wache und kannte die Gesichter des medizinischen Personals, das hier aus- und einging. Sie hatten sich daran gewöhnt, dass er nur auf ihren Zuruf ihren Namen und die Ein- und Ausgangszeit in sein Wachbuch eintrug. Es gab die Vorschriften und es gab das Leben – zwischen beidem lagen auch hier Welten und wenn er auch in seinen ersten sechzehn von achtzehn Monaten Grundwehrdienst nicht so viel gelernt hatte, wie es seine Vorgesetzten gerne gehabt hätten, hatte er wenigstens das begriffen.
Johanna, die jetzt auf ihn zukam und in der linken Hand auf einem kleinen Tablett Utensilien für eine Blutentnahme balancierte, wirkte auf ihn nicht, als würde sie jemals einen Wagen mit Essen für die Patienten geschoben haben. Offen und damit unvorschriftsmäßig wehten die Schöße des Arztkittels um ihre schlanken Beine; der graue Wollrock darunter endete eine Handbreit über ihren nackten Knien und die weiße Seidenbluse spannte sich deutlich über ihren Brüsten. Die Köpfe von zwei angeklippten Kugelschreibern wippten in ihre Kitteltasche bei jedem schnellen Schritt. Ihre Augenpartie verbarg eine modische Brille mit Goldrand und großen Gläsern, deren obere Hälfte dunkel getönt war.
Mit einem schnellen Hüftschwung wich sie einem Wagen voller schmutzigen Geschirrs aus, nickte den beiden Schwestern zu und erst einen Schritt vor dem Posten stoppte das Stakkato ihrer Absätze auf dem abgenutzten Parkettboden. Mit einem starken Akzent sagte sie: „Doktorr Errmakowa. Patient Oldenburrg, Komplikation, schnell.“ Ungeduldig wippte sie hin und her.
Unschlüssig blickte er auf den Besucherausweis, den sie ihm hinhielt, dann schüttelte er den Kopf. „Nach achtzehn Uhr darf ich nur noch Ärzte dieser Station passieren lassen. Ich habe Sie hier noch nie gesehen.“
„Sie werrden krrank nur von acht bis sechzehn Uhr?“
„Äh …“
„Dann Sie sollten anrufen vielleicht Oberstleutnant Witwer. Er kann sagen mehr.“
Er trampelte von einem Fuß auf den anderen. Hier war es ruhig und trocken, Schwestern teilten Lächeln aus und manchmal stellten sie ihm sogar einen Kaffee hin. Sein Wachvorgesetzter hätte ihn in den Hintern getreten, wenn er ihn mit der Frage belästigt hätte, ob außerhalb der Dienstzeit eine offensichtliche Ärztin alleine Zutritt zu gestatten war, Dienstanweisung hin oder her. Er entschied sich für einen Kompromiss. Er schrieb ihren Namen in das Besucherbuch, dann schloss er die Tür auf. „Sie dürfen passieren, Doktor Ermakowa. Lassen Sie die Tür nur angelehnt und rufen Sie, wenn Sie mich brauchen bitte.“
Sie trat ein, zog die Tür hinter sich so weit zu, dass der Schließmechanismus gerade nicht einrastete, und sah sich um.
Christian schlief auf dem Rücken, hatte das Gesicht zur Seite gedreht und atmete tief und gleichmäßig, aber sehr langsam. Am Fußende seines Bettes hing ein Klemmbrett mit der Patientenakte. Sie blätterte mit einer Hand darin und überflog die Einträge, dann stellte sie ihr Tablett auf den Nachtschrank und zog sich den Stuhl neben sein Bett. Aus ihrer Kitteltasche holte sie ein Paar Operationshandschuhe hervor, streifte sie über, entnahm ihm über den Port in seiner rechten Armbeuge eine Ampulle Blut und jeder ihrer Handgriffe saß.
Schweiß floss von seiner Stirn, mehr als noch vor wenigen Minuten. Etwas davon rann ihm in die Augenwinkel, er murmelte etwas im Schlaf und drehte den Kopf, so dass sie ihm ins Gesicht sehen konnte.
Bis hierhin hatte sie schnell und professionell gearbeitet und sich nicht einmal die Zeit genommen, ihn gründlich zu betrachten. Das holte sie jetzt nach. Sie ging zum Waschbecken, feuchtete ein Handtuch an und wischte ihm den Schweiß von der Stirn. Mehrmals tat sie das, jede Bewegung war ein wenig langsamer als die vorhergehende, bis sie sich gar nicht mehr rührte. Sie stand nur da, sah ihn an und mit jedem seiner Atemzüge wurde die steile Falte zwischen ihren Augenbrauen tiefer.
Da rutschte sein linker Arm von der Bettkante und fiel gegen ihr nacktes Knie. Es war nur eine winzige Berührung, unbewusst und ungewollt. Ein Quadratzentimeter Haut verfügt über fünftausend Sinneszellen und sie alle meldeten plötzlich Alarm an Johannas Gehirn. Sie fuhr zurück, als hätte sie ein Schlag getroffen und hielt den Atem an, jeden Muskel ihres Körpers angespannt.
Er rührte sich nicht mehr. Es war nichts weiter gewesen als eine unterbewusste Bewegung im Tiefschlaf. Sie zog die Gummihandschuhe aus, fuhr ihm mit einer Hand unter das Nachthemd und ließ sie auf seiner linken Brust verharren. Mit der vertrauenerweckenden Regelmäßigkeit eines Uhrwerks pochte das Herz in seiner Brust, jeder Schlag pumpte Energie in seinen Körper und es schien, als würde sie niemals versiegen können.
Minutenlang verharrte sie über ihm, den Kopf gebeugt, die Augen geschlossen und den mächtigen Energiestrom in ihm fühlend. Doch wie kräftig auch sein Herz war, wie stark auch sein Wille sein mochte – es gab nichts, was die Ärzte hier im Lazarett tun konnten, um sein Leben zu retten. Mortensen hatte recht gehabt, als er gesagt hatte, dass alles, was hier noch zu tun war, auch der Kampfstoff erledigen würde, nur länger und qualvoller.
Ein leises Geräusch auf dem Flur riss sie aus ihrer Erstarrung. Sie sprang zur Tür, öffnete sie einen Spalt und lauschte. Als sich das Geräusch nicht wiederholte, ging sie zurück, griff nach seiner Akte und blätterte sie durch, Blatt für Blatt – mehrmals wieder zurück, wieder vor und immer wieder blieb ihr Blick auf seinen Blutwerten kleben. Sie ließ sich auf den Stuhl fallen, stützte die Ellenbogen auf ihre Oberschenkel, und verbarg das Gesicht in ihren Handflächen.
Schließlich lauschte sie noch einmal an der Tür, kam wieder zurück und holte eine Ampulle aus ihrer Kitteltasche, die mit einer klaren Flüssigkeit gefüllt war. Sie stoppte den Zulauf des Schlafmittels in seiner linken Armbeuge, entfernte den Schlauch von seinem Port und injizierte ihm stattdessen den Inhalt der Ampulle. Zweimal musste sie ansetzen, so sehr zitterten ihre Hände. Immer wieder flog ihr Blick zur Tür. Dann war die Ampulle leer. Sie verband den Infusionsschlauch wieder mit dem Port und war gerade damit fertig, als Christian stoßweise zu atmen begann. Schmerz verzerrte sein Gesicht, er krampfte die Hände in das Bettlaken, bog den Rücken in einem unmöglich scheinenden Winkel durch und riss den Mund zu einem Schrei auf.
Mit ihrem ganzen Körpergewicht warf sie sich auf ihn und presste ihm beide Hände auf den Mund. Seine Augenlider flatterten, ohne sich ganz zu heben, sein Kopf flog hin und her, aber mehr als nur ein ersticktes Stöhnen drang nicht unter ihren Händen hervor. Dann wurde er still.
Verkrampft blieb sie auf ihm liegen, rang nach Atem und beobachtete ihn. Als er sich nicht mehr rührte, rutschte sie von ihm herunter und zog die Decke über seinem Körper glatt. Einmal noch strich sie ihm über die Stirn, nahm das Utensilientablett und ging zur Tür.

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Doktor Braun hatte, bevor er gegangen war, Winfried noch einen ganzen Stapel Patientenakten auf den Tisch gelegt. „Zum Eingewöhnen,“ hatte der Stationsarzt gemeint. „Ähm … und morgen früh um sieben. Bitte pünktlich,“ hatte er noch mit einem Grinsen im müden Gesicht hinzugesetzt.
Winfried hätte nicht zu sagen gewusst, was ihn veranlasste, als Letztes, bevor er Feierabend machte, noch einmal nach Christian zu sehen. Er reichte dem Posten gerade seinen Dienstausweis, da wurde in seinem Rücken die Tür zur geschlossenen Abteilung geöffnet und Johanna trat hindurch.
„Hallo. Das ist ja ein Zufall!“ Etwas Besseres fiel ihm vor Überraschung nicht ein. „Ich wusste gar nicht, dass Sie auf dieser Station arbeiten.“
Sie zögerte einen Moment, dann sagte sie: „иногда“. Sie hielt ihm das Tablet mit den Utensilien hin. „Blutprobe. Für Charité.“
„So spät noch?“ Er lächelte sie an.
Ihr Gesicht zeigte keine Regung. „Извините!“ Sie drängte sich an ihm vorbei.
„Dr. Ermakowa! Ihr Ausweis!“ Der Posten gab ihr ihren Ausweis zurück.
„Спасибо!“ Achtlos warf sie ihn auf das Tablet, dann eilte sie davon.

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Winfried fand Christian mit geschlossenen Augen vor, den Kopf zur Seite gedreht und mit einer Hand unter der Wange. Alles schien, wie es sein sollte, nur der Geruch hier hatte sich geändert. Winfried sog Luft durch die Nase und richtig – neben dem typischen Krankenzimmergeruch war noch ein Duft im Raum von frischer Süße, Erde und der Rinde, uralter, aber immer noch kraftvoller Bäume. Nicht sehr kräftig, nur ein Hauch. Nicht stark genug, sich gegen die Krankenzimmergerüche durchzusetzen, doch wahrnehmbar war er noch. Der Duft von Johanna.
Die Nachtschwester kam ebenfalls, um nach Christian zu sehen. Sie sah aus, wie immer eine Krankenschwester aussehen sollte: eine kleine dralle Matrone mit einem gestärkten Häubchen auf den grauen Haaren, runden Apfelbäckchen, sanften Augen und einem gütigen Lächeln. Sie hängte einen neuen Infusionsbeutel an den Ständer, stoppte mitten in der Bewegung und runzelte die Stirn. Mit zwei kaum hörbaren Schritten war sie bei Christians Akte, blätterte sie durch, warf einen Blick auf ihn, dann einen zum Infusionsständer und schüttelte schließlich den Kopf.
Winfried wurde aufmerksam. „Was ist?“
„Jemand hat den Zulauf für das Sedativum verschlossen. Aber es steht kein Eintrag dazu in seiner Akte.“
„Jemand?“
Sie zuckte die Schultern. „Es kann nur Schwester Kathi gewesen sein. Sie hatte Dienst vor mir. Wahrscheinlich war sie in Gedanken mal wieder woanders. Entweder hat Dr. Braun etwas geändert und die neue Medikation ist nicht vermerkt worden oder sie hat es schlicht und einfach vergessen, was ich mir schon eher vorstellen kann. Ich rede morgen mit ihr. Ist aber nicht schlimm, er schläft ja zum Glück noch.“
„Wie oft passiert so etwas?“
Sie strich ihr Häubchen glatt. „Eigentlich … also ich kann mich nicht erinnern … nein, wirklich nicht.“
Ihre Wangen wurden rot, als hätte sie den Fehler gemacht. Sie kontrollierte Christians Puls und sagte wenig später: „Ist wirklich alles in Ordnung mit ihm.“ Sie berührte kurz den Arm von Winfried. „Hören Sie. Ich kann Sie verstehen, Sie sind den ersten Abend hier, aber es ist alles in Ordnung. Doktor Braun weiß, was er tut, glauben Sie mir. Wenn hier jemand den Patienten wieder auf die Beine stellen kann, dann er.“
„Vielleicht war es ja Dr. Ermakowa?“
„Wer soll das sein?“
Winfried beschrieb sie ihr. „Sie sagte, sie arbeitet manchmal hier.“
Die Schwester schüttelte den Kopf. „Davon wüsste ich. Und wenn man aus der Charitè eine Blutprobe anfordert, dann müssen wir sie hinbringen. Niemand kommt von dort und nimmt einem Patienten Blut ab, das machen wir selbst. Schon gar nicht, ohne uns Bescheid zu sagen.“
Winfrieds Gedanken rasten und er fragte sich, ob er wirklich recht damit hatte, dass Christian in der Ostsee auf etwas gestoßen war, was unbedingt geheim bleiben sollte. So geheim, dass man ihn dafür umbringen würde? Nur, damit es auch geheim blieb?
Er sprang auf. „Untersuchen Sie den Patienten, so genau Sie können. Hier stimmt etwas nicht. Ich rufe den Arzt vom Dienst und Witwer an!“
„Sind Sie sicher? Wenn Sie sich irren, kriegen Sie Ärger.“ Die Schwester schüttelte zweifelnd den Kopf.
„Machen Sie schon!“ Winfried sprang zur Tür. „Jemand will ihn umbringen!“

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Niemand klärte Winfried darüber auf, welche Räder sein Anruf in Bewegung gesetzt hatte. Witwer war fuchsteufelswild gewesen und hatte Dr. Braun von zu Hause holen lassen. Gefunden hatte man nichts, Christian Oldenburg war es nicht schlechter gegangen als vorher. Das Einzige, was Winfried Gneidsen vor ernsthaften Konsequenzen wegen seines scheinbaren Fehlarlarms gerettet hatte, war der Eintrag im Buch des Postens gewesen, denn die echte Dr. Ermakowa erschien erst am nächsten Morgen im Lazarett.
Sie war eine energische Sechzigjährige mit drahtigen Haaren und einem Blick, der selbst Doktor Braun dazu bringen konnte, kurze und zusammenhängende Sätze von sich zu geben. Mit ihr kamen Medikamente, die man in der DDR nicht kannte, wenigsten nicht der Teil der Bevölkerung, der über kein Westgeld verfügte. Stets wurde sie begleitet von einem Mann um die dreißig, groß, breit in den Schultern und mit einem Gesichtsausdruck zum Fürchten.
Als sie gemeinsam mit Doktor Braun Christian das erste Mal besuchte, sprach sie kein Wort mit ihm, das Reden und ihre Vorstellung überließ sie dem Stationsarzt und Christian machte sich seine Gedanken darüber, auch über ihren Begleiter, der für ihn nach allem anderen denn einem Angehörigen eines medizinischen Berufes aussah. Christian registrierte genauestens alles, was um ihn herum geschah, doch er hatte beschlossen, keine Fragen mehr zu stellen, solange er sich nicht sicher sein konnte, dass die Antworten auch die Wahrheit waren. Alles, was er sah, roch, hörte und schmeckte, wurde für ihn ein Puzzlestück und er wartete auf den Moment, an dem er das vorletzte Teilchen an seinen Platz legen und das ganze Bild verstehen konnte.
Noch am Abend des gleichen Tages begann sich sein Zustand zu bessern und als Doktor Ermakowa drei Tage später ein letztes Mal an sein Bett trat, wusste er, dass er überleben würde.
Er hörte einen heftigen Wortwechsel auf Russisch vor der Tür zu seinem Zimmer, dann wurde sie aufgerissen und Natalja Ermakowa trat ein, diesmal ohne ihren ständigen Wachhund. Sorgfältig schloss sie die Tür wieder hinter sich, betrachtete ihn einen Moment, dann setzte sie sich auf die Kante seines Bettes. Sie legte ihr Gesicht in Falten und murmelte: „Du noch eine Weile leben.“ Es klang, als hätte sie das Gegenteil gemeint.
„Na, welch ein Glück.“ Er registrierte beides: ihre Worte und ihren Gesichtsausdruck dabei.
Sie nestelte an der Brille, die an einem Band vor ihrer Brust hing. „Njet.“
„Warum nicht?“
„Ist falsche Frage.“
„Welche wäre die Richtige?“
„для кого. Für wen nicht Glück ist, junger Mann, du leben wirst. Tod besser, aber ich nicht Mörderin. Ich nicht du sein werde.“
Er brachte ein schiefes Grinsen zustande. „Sie haben nicht zufällig früher für das Orakel von Delphi gearbeitet?“
„Für Boris Orstchov. Du nicht kennen ihn ist besser. Du mich besuchen, dann wissen mehr.“
„Wo?“
Sie beugte sich vor und flüsterte ihm so leise, dass er es fast nicht verstand, eine Adresse in Leningrad ins Ohr. Dann stand sie auf und sagte, laut genug, dass man es bis nach draußen hören musste: „Leben Sie!“