Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies

Das Schnellboot schüttelte sich unter dem Anprall der Ostsee wie ein nervöses Rennpferd vor dem Start. Am hellen Tag hätte seine graue Farbe es so gut wie unsichtbar zwischen den Wellen gemacht. Jetzt, kurz bevor die Sonne hinter den bleigrauen Wolken unterging, war es nur wenig mehr als ein Geist. Vor ein paar Minuten war der Wind auf Nord-Nord-West gesprungen und frischte weiter auf. Die Kronen der Wellen schäumten weiße Wut, Gischt klatschte gegen die niedrige Plexiglasscheibe vor der Steuerkanzel, Spritzer flogen darüber hinweg und Korvettenkapitän Manfred Elsner ins Gesicht.
Er hob den Feldstecher und schwenkte ihn auf den norwegischen Frachter, der knapp eine Seemeile nördlich seine Anker ausgeworfen hatte. Seit drei Tagen lag er mit einem Ruderschaden knapp sechs Seemeilen vor der Küste und wartete auf Ersatzteile aus Oslo. Kein Mensch bewegte sich an Deck. Er setzte das Glas ab und blickte auf den Chronometer neben dem Steuerrad.
„Machen Sie sich etwa Sorgen?“ Mit einem Grinsen unter seinem Seehundschnauzer zog der vierschrötige Steuermann neben ihm den Kopf vor dem nächsten Spritzer ein. Es klang, als wäre er es, der das tat.
„Pff …“ Elsner sah keinen Grund, den erfahrenen Stabsmaat mit dem zu belasten, was ihm durch den Kopf ging. Die Ausbildung hatte härter zu sein als jeder Gefechtseinsatz. Soldaten wurden nicht für den Frieden, sondern für den Krieg ausgebildet und darin, in ihm zu überleben. Krieg war brutal, hinterhältig, machte aus netten Menschen blutrünstige Monster und fand nicht nur wochentags von acht bis siebzehn Uhr statt. Er hielt es für seine Pflicht, dafür zu sorgen, dass die Ausbildung die Soldaten so perfekt wie irgend möglich darauf vorbereitete, und dazu mussten sie härter, besser und, wenn es notwendig war, auch brutaler sein als jeder Krieg es sein konnte. Was hätte der Korvettenkapitän auch dem Stabsmaat antworten sollen? Dass jeder mal einen Fehler machte? Dass irgendetwas in ihm darauf hoffte, dass Oldenburg das endlich einmal passierte? Dass er genau deswegen die Maate Andres und Werner mitgeschickt hatte, um dem Mann das Leben da unten schwer zu machen?
Elsner ärgerte sich, dass in seinem Kopf die Gedanken an Christian Oldenburg mehr Platz einnahmen, als er ihm zugestehen wollte. Einsiedlerkrebs nannten ihn alle hinter seinem Rücken und Elsner konnte sich nicht erinnern, ihn je lachen gehört zu haben. Oldenburg musste man die Worte mit der Zange aus dem Mund ziehen, wenn er sich überhaupt einmal herabließ, mehr als nur Dienstliches von sich zu geben. Wenn andere im Ausgang in die nächstbeste Kneipe einfielen, ging er in die Stadtbibliothek oder setzte sich in den Zug und fuhr nach Rostock und vergrub sich im Schifffahrtsmuseum oder der Universitätsbibliothek. Er mied jeden Kontakt, der über das dienstlich Notwendige hinausging und vielleicht mochte ihn deshalb niemand.
Manchmal sieht er mich an, als nähme er Maß für einen Sarg, und dabei bin ich nun wirklich nicht der schlimmste Schleifer in der Truppe, dachte Elsner. So benimmt sich kein Mann in seinem Alter. Etwas treibt ihn vor sich her und es lässt ihn sogar diese mörderische Ausbildung durchhalten. Ich glaube nicht, dass ich wissen will, was das ist.
Ein Brecher traf den Bug des Schnellbootes und drückte ihn tief ins Wasser. Er schlug den Kragen der Wetterjacke hoch. „Halten Sie das Boot auf Position. Ich gehe mal nach hinten.“ Abrupt drehte er sich um und kämpfte sich auf dem stampfenden Boot zum Heck.
„Position halten. Jawoll.“
Den Blick, den ihm der Steuermann mit zusammengezogenen Augenbrauen hinterherwarf, sah er nicht mehr. Der Korvettenkapitän wusste nur, dass Andres und Werner noch eine Rechnung mit Christian Oldenburg offen hatten. Dass sie damals, nachdem er die beiden zusammengeschlagen hatte, fünf Leute gebraucht hatten, um den tobenden Oldenburg überhaupt zu Boden zu bringen, wusste Elsner nicht. Es interessierte ihn auch nicht.

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Das Gehirn, mit dem ihn seine Mutter in die Welt entlassen hatte, war zu mehr in der Lage, als nur im Dunkeln den Weg zur nächsten Toilette zu finden. Zum Denken, zum Beispiel und auch dazu, Vertrauen in das zu haben, was er selbst herausfand. Eine Nacht genügte ihm, ein Buch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke zu lesen, ohne das es der Unteroffizier vom Dienst mitbekam, und der Tag, um zu verstehen, was der Autor hatte nicht in Worte gießen dürfen und deshalb zwischen den Zeilen versteckt hatte. Für die Quantenmechanik hatte er etwas länger gebraucht. Immerhin hatte er sie verstanden. Er wusste, welche Prozesse bei der Detonation eines Kernsprengkopfs abliefen und warum das Butterbrot beim Herabfallen immer auf der falschen Seite landete.
Was er nicht wusste, war, warum man die in seinem Alter wirklich wichtigen Dinge ohne ihn diskutierte: Ob die rothaarige Schöne, die in der Kneipe an der Kaserne aushalf, Strümpfe trug oder ob es Strumpfhosen waren und ob sie die aus dem Westen bekam; wie man sie dazu bringen konnte, ihre endlos lang scheinenden Beine in einer dunklen Ecke breitzumachen und wie man am besten eine Pulle Wodka in die Kaserne schmuggeln konnte, ohne von der Wache erschossen zu werden, oder in den Bunker zu wandern.
Zu sagen, dass es ihn nicht störte, wäre eine Lüge gewesen. Es war das kleinere Übel, das, bei dem er sich nicht zum Affen machte. Er konnte achtundneunzig Meter ohne Luftholen unter Wasser schwimmen, unverletzt einen Sturz aus fünf Metern Höhe überstehen und mit jedem fertig werden, der ihm dämlich kam. Deshalb blickte er auch lieber auf eine auf ihn gerichtete Kalaschnikow als in die Augen eines Mädchens, denn bei der Maschinenpistole wusste er, was in ihr vorging, wenn der Abzug gedrückt wurde.
Doch wenn er auf dem Weg zum Bahnhof und zur nächsten Bibliothek an der Kneipe nahe der Kaserne vorbeikam und die Schöne draußen bediente, passierte etwas in seinem Körper, das er nicht verstand, und er beschleunigte seine Schritte. Erst recht, seit er sie in Rostock in einem kleinen Kaffee gesehen hatte, zusammen mit einem weit älteren Mann. Christian hatte sich ein paar Tische weiter gesetzt und beide beobachtet. Sie hatten nicht wie ein Liebespaar ausgesehen, auch nicht wie alte Bekannte. Eher, als würde sie etwas berichten und der Mann sich nach Details erkundigen. Ihre ganze Körpersprache hatte gewirkt, als wäre er ihr Chef und sie erstattete ihm Bericht. Wie ein mentaler Geruch hatte etwas zu Christian herübergeweht und es hatte ihn an seinen Vater erinnert.
Wer den Wolf scheut, soll nicht in den Wald gehen. Wie eine gleißende Messerspitze bohrte sich der Satz in seine Gedanken und hätte es sein Mundstück nicht verhindert, hätte er das getan, was Elsner noch nie gesehen hatte: Er hätte aufgelacht, wenn auch bitter. Es war einer der Lieblingssprüche seines Vaters.
Er blickte auf den fluoreszierenden Zeiger des Kompasses an seinem rechten Handgelenk und berechnete den Kurs neu. Irgendwo in seinem Unterbewusstsein, eingebrannt durch ihm unendlich scheinendes Training, führte der Auftrag Regie. Getrieben von den Bewegungen seiner flossenbewehrten Beine, schoss er durch die flüssige Unendlichkeit. Wie schützender schwarzer Samt schmiegte sich das Wasser an ihn, oben und unten waren ebenso sinnentleerte Worte wie Schwerkraft, Zeit, Mädchen und sogar der Tod. Das Leben war hier entstanden und tat es noch immer, jeden Tag aufs Neue in der schützenden Fruchtblase von Millionen Müttern auf der ganzen Welt.
Doch es war ein Ticket ohne Rückfahrkarte, die Geborgenheit hier unten war nur eine geliehene. Er würde hier immer nur der Fremde sein, der seine Vertreibung aus dem Paradies nicht akzeptieren wollte. Waren die Flaschen auf seinem Rücken entleert, zerriss die silberne Perlenkette seiner Atemluft über ihm wie eine durchtrennte Nabelschnur, das Elysium schloss seine Pforten und er musste zurück zu den Menschen.
Den ersten Teil der Aufgabe hatte er erfüllt und noch für fünfundvierzig Minuten Luft in den Flaschen. Er wusste, dass es für ihn mehr als genug war, um das Boot zu erreichen, auch wenn er stärker gegen die Grundströmung anschwimmen musste, als er erwartet hatte. Es war nicht so einfach gewesen, wie er gehofft hatte, aber was war schon einfach, dreißig Meter unter der Wasseroberfläche bei fast völliger Finsternis?
Hinter ihm flammte der Handscheinwerfer eines der anderen beiden Taucher auf und leuchtete den Meeresgrund an. Christian warf einen kurzen Blick auf die Zeiger seines Kompasses, schaltete auch seinen Handscheinwerfer ein und ließ sich nach unten sinken, um die Abdrift über Grund zu schätzen. Die Strömung war stärker geworden und er damit um einiges vom Kurs abgekommen. Er verbrauchte bereits die Luft aus der zweiten Flasche auf seinem Rücken – das hatte er erwartet. Ging ihm die Atemluft aus, konnte er zwar immer noch an der Oberfläche zurückschwimmen, aber das hätte ihn die Erfüllung des Trainingsziels gekostet. Das war keine Option. Außerdem sagte ihm sein Gefühl, dass es gut wäre, noch eine Reserve zu haben, für den Fall, dass der Korvettenkapitän sich etwas dabei gedacht hatte, ihm ausgerechnet Andres und Werner zur Sicherung mitzugeben.
Er korrigierte den Kurs um ein paar Grad nach Südost. Den Scheinwerfer ließ er jetzt eingeschaltet. Er hatte sich auf dem Hinweg jeden Stein, jede Felsformation genauestens eingeprägt. Doch in den nächsten Minuten schwamm er über nichts anderes als Sand, nur hier und da unterbrochen von ein paar flachen Felsen, die nicht auf der Karte verzeichnet gewesen waren, und er korrigierte den Kurs noch einmal nach Südost, diesmal deutlich. Wie Pilotfische ihrem Hai folgten ihm die beiden anderen Taucher.
Das Licht seines Handscheinwerfers schälte eine angerostete Antriebsschraube und einen Teil eines schlanken Metallzylinders aus der Dunkelheit. Das vordere Ende steckte im Schlick und an seinem Heck ragte ein stromlinienförmiger Behälter mit einer rückwärtigen Austrittsöffnung nach oben.
In seinem Nacken meldete sich ein Kribbeln. Selten, aber immer noch häufig genug stießen Taucher in der Ostsee auf Überbleibsel aus dem Weltkrieg und für das, was in einem solchen Fall zu tun war, gab es ein festgelegtes Protokoll. Nur wirkte das, was aussah wie das Heck eines Torpedos, nicht, als hätte es fünfundvierzig Jahre im Wasser gelegen. Ohne jeden Bewuchs oder Muschelbefall ragte es aus dem Schlick. Entweder lag es erst seit kurzem hier oder etwas hatte verhindert, dass sich Unterwasserleben auf dem angerosteten Metall ansiedelte.
Mehr als ein kurzes Handzeichen, das fünf Minuten bedeutete, brauchten die beiden Männer hinter ihm nicht. Sie hatten Erfahrung bei der Bergung von Blindgängern, er nicht. Er hielt seine Position und sicherte, während die beiden einen großen Bogen schwammen. Sie mussten den Torpedo gegen die Grundströmung anschwimmen, wollten sie nicht riskieren, dass der Druck des strömenden Wassers sie gegen die Waffe trieb.
Extrem vorsichtig, ihre Position mit genau abgemessenen Flossenschlägen haltend, trugen sie den Schlick ab, bis das Vorderteil des Torpedos sichtbar wurde.
Die fünf Minuten waren um. Er gab den beiden ein Handzeichen, aber sie waren so in ihre Arbeit vertieft, dass sie es nicht bemerkten. Für einen Augenblick schien ihm, als würde das Wasser um sie herum dunkler werden, aber es konnte eben so gut auch eine Täuschung gewesen sein, die durch die Bewegung der Handscheinwerfer entstanden war.
Er wollte gerade seine Position verlassen, da hoben die beiden Taucher die Köpfe und sahen zu ihm herüber. Mit leichten Flossenschlägen hielten sie ihre Position über dem Torpedo. Er bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis, leuchtete ihn sogar noch an, damit sie ihn sehen konnten, und fragte so, ob alles okay war – sie reagierten nicht. Er wiederholte die Frage und bekam immer noch keine Reaktion. Wie Roboter verharrten sie an ihrer Position.
In dem Moment, als er sich entschloss, doch zu ihnen zu schwimmen, erwachten sie aus ihrer Erstarrung. Ohne, dass er bemerkt hätte, wie sie sich verständigt hatten, rissen sie gleichzeitig ihre Tauchermesser aus der Scheide an der Wade, ihre Flossen wirbelten und wie Torpedos, deren Sensoren ein Ziel erfasst haben, schossen sie auf ihn zu.

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Elsner stand schon wieder neben dem Steuermann, als das rote Notsignal in den Himmel schoss. Er riss das Fernglas hoch, aber mehr als die verglimmende Spur am Himmel sah er nicht. Nur eine halbe Seemeile entfernt davon leuchteten die Positionslichter des norwegischen Frachters. An Bord gingen Lampen an und Elsner sah Gestalten umherhuschen und ein Schlauchboot fertig machen.
Er malte mit den Kiefern, als bisse er auf eine Nuss. Seine Gedanken rasten. Der Einsiedlerkrebs macht keine Fehler, dachte er immer wieder. Er kann doch nicht … Oder haben sie übertrieben? Hätte ich sie doch nicht dafür einteilen sollen?
Mit einer entschlossenen Bewegung setzte er das Glas ab. „Los! Volle Kraft! Alles, was wir haben.“
Er hatte noch nicht einmal ausgesprochen, da schob der Steuermann schon den Fahrtregler nach vorne. Die mächtige Maschine riss den Bug des Schnellboots aus dem Wasser und ließ es in den nächsten Wellenberg eintauchen. Ein Brecher krachte gegen den Rumpf, dann noch einer und noch einer – das Boot nahm Fahrt auf.