Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht


„Mach‘s mir … schneller … ja … du verfickte …“ Mehr als ein kaum verständliches Krächzen bekam Ole Mortensen nicht heraus. Testosteron flutete sein Blut, riss alle Staudämme in ihm nieder und machte aus seinen Stimmbändern ein Reibeisen. Er stieß seine Hüften nach oben und trieb das, was ihn zum Mann machte, zwischen die gespreizten Schenkel von Kerstin Wendt, als wollte er sie gegen die Decke schleudern. Dass der Saum der engen Öffnung in ihrer Netzstrumpfhose sein Glied bei jedem Stoß wund scheuerte, bemerkte er nicht. Auch nicht, wie nach jedem seiner Stöße ihr kleiner Po wieder auf seine Oberschenkel krachte. Irgendwo am Rand seines Bewusstseins nahm er die Lustschreie aus ihrem weit aufgerissenen Mund wahr, roch den betäubenden Moschusduft ihrer Haut und fühlte ihren feucht-klebrigen Schweiß auf seiner Haut: Eine alles verzehrenden Glut, mit der ihn das, was sie ihm antat, verbrannte. Ekstase, dachte etwas in ihm, so sieht sie aus. Wie schafft sie das nur jedes Mal?
Gedankenfetzen rasten durch seinen Kopf. Keiner davon hatte mit Liebe zu tun, nicht einmal mit Lust, darüber war er längst hinaus. Es war das Tier in ihm, dass sie entfesselte, obwohl sie es zwischen ihren Schenkeln gefesselt hatte oder vielleicht gerade dadurch. Das Tier, unter tausend Schichten Zivilisationstünche verborgen, endlich frei und es brüllte. Sie war nichts weiter als Fleisch, dem er Dinge antun konnte … alle Dinge … schlimme Dinge, nur weil es genau dazu geschaffen worden war. Hätte er gekonnt, wäre er noch tiefer in sie eingedrungen, hätte jeden Quadratmillimeter seiner Haut mit ihr verschmolzen, wäre in ihr aufgegangen, hätte sie verprügelt, vergewaltigt, ihre Schmerzensschreie und noch mehr ihr verzweifeltes Gurgeln genossen, wenn er ihr die Hand auf den Mund gepresst hätte, von hinten in sie eindringend, rücksichtslos, brutal, nicht Mord im Sinn, sondern Leben spenden.
Er wusste, dass er nichts davon je wirklich tun würde, aber ihre kleinen Hände, mit denen sie sich über seinem Kopf auf seinen Handgelenken abstützte und sie so fesselte, machten es ihm leicht, zu denken, er könnte es.
„Du … bist … so … eine … geile …“ Halb wahnsinnig, strampelte er mit den Füßen, rollte sich hin und her, betend, dass sie sich doch nicht abwerfen ließ, sich an ihm festklammerte, ihm mit ihren Schenkeln die Luft zum Atmen nahm, ihm weh tat, irgendetwas machte, ihn umbrachte, genau in dem Moment … Ihr Körper vor seinen Augen verschwamm, er fühlte, wie sich sein Gesicht verzerrte, setzte zu seinem letzten Stoß an, brüllte: „… Nutte!“, und explodierte, den Unterleib hochgereckt, den Rücken in einem unmöglichen Winkel durchgebogen.
Es dauerte, bis sein Atem sich wieder beruhigte. Er war nicht mehr jung, sein Körper brauchte Zeit, um sich zu erholen. In den letzten Jahren war er fast schon dankbar gewesen, wenn noch alles, weswegen er ein Mann war, so funktioniert hatte, wie er es gewohnt war. Als sich sein Blick klärte, stand sie mit gespreizten Beinen über ihm, den Kopf ein wenig vorgebeugt, damit er nicht gegen die Zimmerdecke stieß, und hatte die Hände über den Brüsten verschränkt, als wollte sie sie vor seinem Blick schützen. Weiße Feuchtigkeit lief an der Innenseite ihrer Schenkel herab.
„Du meinst, das kann dir eine Nutte bieten? Dann schau genau hin!“ Auch ihre Stimme war rau.
Lasziv stieg sie von ihm herunter. Vor dem Bett ließ sie sich auf den Teppich sinken, zog im Liegen ihre Strumpfhose aus, spreizte ihre Beine und strich sich an der Innenseite der Schenkel entlang. Sie ballte eine ihrer kleinen Hände zu einer Faust und hielt sie hoch, als wollte sie ihm drohen, dann schob sie sie sich zwischen ihre Schenkel. Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn, ihr Arm bewegte sich vor und zurück, immer schneller, und aus ihrem erst verhaltenen, dann heftiger werdenden Stöhnen wurden kleine spitze Laute, wie sie Katzenwelpen ausstoßen, die nach ihrer Mutter rufen. Ihre freie Hand presste ihre Brust, malträtierte sie, sie begann zu zittern, als hätte sie Schüttelfrost, wälzte sich auf dem Teppich hin und her und dann … schrie sie und schrie und schrie …
Abrupt, als hätte sie dafür nur einen Schalter in sich umlegen müssen, verstummte sie und befreite ihre Hand aus sich. Sie zog die Knie an den Körper, umfasste sie mit den Armen und legte den Kopf darauf. Ein paar heftige Atemzüge lang blieb sie so sitzen, das Gesicht vor ihm verborgen, dann drückte sie sich hoch und ging powackelnd ins Bad. Sie ließ die Tür offen, klappte den Toilettendeckel auf, setzte sich hin und urinierte. Jeden Tropfen konnte er in der nächtlichen Stille des Hotels fallen hören und danach sehen, wie sie sich seinen Schweiß zwischen ihren Schenkeln abwusch.
Als sie die Tür zuklappte und er das Rauschen des Wassers in der Dusche hörte, drehte er sich zur Seite und schloss die Augen. Er wusste, dass er aufwachen würde, sobald sich die Tür zum Badezimmer wieder öffnete.

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„Der Föhn funktioniert nicht. Ich kann die Perücke nicht aufsetzen, wenn meine Haare noch nass sind. Muss es wirklich immer so eine billige Absteige sein?“ Mit einem Handtuch rubbelte Kerstin Wendt ihre schwarzen Locken trocken. Sie war so nackt wie der schwammige Ole Mortensen mit seinem Wohlstandsbäuchlein und den Schweißtropfen auf der Glatze auf dem zerwühlten Bettlaken.
Er rekelte sich genießerisch. „Na, wer weiß, vielleicht stehen wir ja schon in einem Jahre auf derselben Seite. Wäre mir ein Vergnügen, dir meine bescheidene Hütte zu zeigen. Du kannst dir sicher sein, dass da alles funktionieren wird. Nicht nur der Föhn.“ Er lachte anzüglich. „Aber bis dahin …“ Den Rest ließ er in der Schwebe.
Das, was sie miteinander hatten, war nichts weiter als Teil eines Geschäfts und sie war gut genug ihn es so lange, wie sie sich auf seinem erregten Körper bewegte, vergessen zu lassen. Das Leben war kurz, und er nahm jeden Spaß darin mit, den er bekommen konnte. Kaum hatte sie die Zimmertür hinter sich geschlossen, war er über sie hergefallen, als hätte es kein Morgen mehr gegeben. Obwohl ihre Besuche unter strengster Geheimhaltung stattfinden mussten, hatte sie so laut geschrien, dass es mehrere Zimmer weit durch die dünnen Wände des Hotelzimmers zu hören gewesen war. Sie wusste, dass er das mochte. Welcher Mann mochte das nicht?
Er rollte sich zur Seite, klappte den winzigen Kühlschrank auf und griff nach einem Fläschchen mit billigem Whisky. „Du auch?“, fragte er und drehte den Verschluss auf.
„Danke, nein. Dafür bin ich nicht hier.“ Es war nicht so, dass sie etwas zum Herunterspülen gebraucht hätte. Er duschte, bevor er sie vom Flughafen abholte und bei dem, was er unter scharf verstand, musste sie sich das Lachen verkneifen. Seine Phantasie erschöpfte sich daran, dass sie in einem engen Rock und Strumpfhosen in sein Auto stieg. Wenn sie dann im Hotel auf ihm saß und dabei seine Krabbelhände über seinem Kopf festhielt, damit sie nicht irgendwelchen Blödsinn mit ihren anderen Körperöffnungen anstellten, törnte ihn dass noch mehr an. Schneller wurde er dann fertig und sie konnte sich auf das Geschäft konzentrieren, obwohl sie das Wichtige immer bereits im Auto durchsprachen. Die Gefahr, dass ihnen jemand zuhörte, war da am geringsten.
Am Anfang hatte sie es im Bett mit der Salamitaktik probiert, in der Hoffnung, sein Verlangen nach ihr und seinem Orgasmus würde ihn dazu bringen, Dinge auszuplaudern, die er sonst nicht gesagt hätte, aber er hatte sie glatt ausgelacht. Er war einer der gefühlskältesten Menschen, die ihr je begegnet waren. Es machte das Zusammensein mit ihm unkompliziert und berechenbar. Dass er niemals einschlief, so lange sie noch bei ihm war, verzieh sie ihm. Sie machte es nicht anders.
„Schade.“ Er trank mit einem einzigen Schluck aus, wischte sich mit einer auf dem Rücken schwarz behaarten Hand über den Mund und ließ sich zurücksinken. „Wo drückt denn Müller noch der Schuh?“
„Man munkelt, der neue NATO-Generalsekretär soll von hier kommen,“ sagte sie leichthin.
„Du hast wirklich süße Ohren.“
„Also ja. Danke! Da klingelt nur dessen Name nicht.“
Er musterte ihren kleinen, perfekten Körper und grinste anzüglich. „Das kostet extra.“
Sie streifte Kleid und Schuhe über, klappte mit einem Fußtritt ihr kleines Köfferchen zu und schlüpfte in ihren Mantel. „Nicht, dass ich nicht Lust darauf hätte.“ Mit zwei schnellen Schritten war sie am Bett und gab ihm einen Klaps auf seinen Bauch. „Ich habe immer Lust. Aber dann verpasse ich meinen Flieger. Lass dir etwas anderes einfallen und schnell.“
„Hm, alles Wichtige haben wir besprochen. Da gibt es nichts Dringendes mehr. Höchstens … Einer unserer Kapitäne hat neulich berichtet, dass ihr wohl vor Warnemünde ein kleines Problem hattet. Irgendetwas mit Leuchtraketen, einer Rettungsaktion und einem Marineeinsatz, ziemlich dicht bei seinem Schiff. Danach dann noch ein sowjetisches Minensuchboot … Tss, tss …“
Er gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund, dann sprach er weiter: „Als er wieder zurück war, hat er sogar darauf bestanden, dass der Schiffsrumpf von Tauchern überprüft wird. Nicht, dass ihm da jemand unter Wasser eine Mine angehängt hätte. Unglaublich, ist ja fast wie im Kalten Krieg. Er hat Verwandte im Königshaus, um sieben Ecken herum und ich musste ein paar feuchte Hände drücken, damit er daraus nicht eine diplomatische Krise macht. Seid doch bitte so nett und haut dem, der das versaut hat, ein paar hinter die Löffel. Solche Spiele in der Nähe eines Schiffes, dessen Land Mitglied in der NATO ist, sind keine so prickelnde Idee. Nach Honeckers letzter Rede ist man bei uns ein bisschen nervös.“
„Nicht nur bei euch.“ Sie zog die Unterlippe zwischen die Zähne. „Ich weiß von der Sache nichts.“
„Dann hat der Kapitän ein Märchen erzählt?“ Er verschränkte die Hände hinter dem Kopf und richtete seinen Blick auf einen Wasserfleck an der Decke. „Ich kann natürlich auch eine offizielle Anfrage an euer Außenministerium richten lassen. Die dann an Euch … und so weiter …“
„Was wird das? Eine Erpressung? Es war innerhalb unserer Zwölfmeilenzone, also unser Hoheitsgebiet, und da können wir machen, was wir wollen. Wenn einer eurer Schrottpötte gleich nach dem Auslaufen einen Ruderschaden hat, ist das euer Problem.“
Er setzte sich auf im Bett. „Du zierst dich wie bei deinem ersten Besuch, obwohl wir beide wussten, dass du um mein Bett nicht herum kommst. Ich spiele da mit, weil du mir Spaß machst. Aber an dem Punkt, wo ich den Verteidigungsminister an der Backe habe, hört der Spaß auf. Ich agiere gewöhnlich unter dem Radar, nicht in der Öffentlichkeit. Was wolltest du gleich nochmal von mir wissen?“
Du kriegst, was du willst, wenn ich bekomme, was ich will, bedeutete sein letzter Satz. Sie hatte es verstanden. Widerwillig antwortete sie: „Es gab einen Unfall. Nach allem, was ich weiß, sind sie auf eine alte Seemine gestoßen, haben daran herumgefummelt und sie ist detoniert. Zwei sind unter Wasser gestorben, der Dritte hat überlebt und liegt jetzt im Militärlazarett. Er ist der Sohn von einem unserer Diplomaten und nur deswegen weiß ich auch davon.“
„Eine Seemine? Ohne Detonation? Das Wasser ist da nur dreißig Meter tief!“
Sie knöpfte ihren Mantel zu. „Ich muss jetzt los.“
Er stieg aus dem Bett, warf sich einen Bademantel über und öffnete ihr die Tür. „Vielleicht ja dann schon bei mir.“
„Da weißt du mehr als ich.“ Flüchtig küsste sie ihn im Vorbeigehen auf die Wange.
„Und dabei wollen wir es auch belassen. Sonst hättest du kaum noch Grund, mich zu besuchen. Über den neuen NATO-Generalsekretär reden wir beim nächsten Mal. Komm gut nach Berlin.“ Er hielt sie am Ellenbogen fest und erzwang einen Kuss auf den Mund.
Kaum war sie aus der Tür, sprang er unter die Dusche. Dreimal wechselte er von heiß auf kalt und zurück. Dann setzte er sich, klatschnass, wie er war, an das schmale Wandbord und notierte sich die wesentlichen Punkte des Gesprächs. Danach legte er sich aufs Bett und grübelte.
Als er am nächsten Morgen die Rechnung an der Rezeption beglich, hatten sich Müdigkeitsfalten in sein Gesicht gegraben. Auf dem Weg zurück nach Oslo stoppte er den Wagen an einer Telefonzelle und wählte eine Nummer aus dem kleinen Notizbuch, das er ständig bei sich trug.
„Was zum …“ Die Stimme am anderen Ende der Leitung klang aufgebracht.
„Guten Morgen,“ sagte Mortensen.
„Ich bin gerade ins Bett gegangen.“
„Dann sollten Sie vielleicht wieder aufstehen. Sie hatten angedeutet, dass Sie bei Ihrem Lieblingsforschungsprojekt nicht weiterkommen. Vielleicht kann ich helfen.“
„Haben Sie die Branche gewechselt?“
„Meinen Lebensstil. Er ist aufwändiger geworden.“
„Sollte mich das interessieren?“
„Vielleicht nicht. Dass im vermutlichen Zielgebiet des Prototyps – Sie wissen, von welchem ich rede – in der Ostsee zwei ostdeutsche Kampftaucher unter mysteriösen Umständen ums Leben gekommen sind und dass es keine Detonation gab, schon. Wenigstens keine, die Überwasser sichtbar gewesen wäre.“
„Ist das sicher?“
„Nein, aber wahrscheinlich. Einer hat überlebt und liegt im Lazarett.“
„Unmöglich. Wenn Sie recht hätten, wäre er auch tot.“
„Und wenn nicht?“
„Dann wäre er der Einzige, der je … Das ist Mist. Der muss weg! Mikkelsen wird sie um zwölf zum Essen abholen.“
Mortensen verzog das Gesicht. „Ich hasse Bratwurststände.“
„Das passiert schon mal, wenn man seinen Lebensstil wechseln will.“

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Dezenter Jazz beschallte die in schummeriges Licht getauchte Tanzfläche. Klein genug, dass ein afrikanischer Elefant beim Versuch, sich auf ihr zu drehen, mit seinem Hintern die Kristallgläser vom Tresen und mit seinen Ohren die Lampen von der Decke gefegt hätte, war sie immerhin groß genug für jede Form von musikbefeuertem Nahkampf. Herzen und Nasen waren hier gebrochen und unter wilden Verrenkungen Kinder auf ihr gezeugt worden. Selbst ein Mord war hier schon geschehen und wer beim Tanzen auf den Boden blickte statt in das Dekolleté seiner Angebeteten, sah auf dem dunklen, von tausenden Absätzen zerschrammten Eichenholz noch dunklere Flecke und konnte sich einbilden, es wäre das getrocknete Blut von damals.
So ist das mit dem Blut, dachte Ole Mortensen. Man kann es wegschrubben, bis kein einziges Molekül mehr vorhanden ist, aber die menschliche Psyche bewahrt die Erinnerung ein Leben lang. Da kann man nichts so einfach wegwischen.
Er hob das schwere Kristallglas mit seinem dritten Single Malt. Im indirekten Licht aus den Paneelen aus lichtdurchlässigem, milchigem Plastik über dem Tresen schimmerte die Flüssigkeit in einem wunderbaren, satten Bernsteingelb. Sie nur anzusehen, weckte schon seine Geschmacksknospen und Speichel sammelte sich in seinem Mund. Er nahm einen Schluck und das Aroma von Karamell und Nüssen explodierte auf seinem Gaumen. Voller Genuss behielt er die Flüssigkeit einen Moment im Mund, bevor er sie die Kehle hinabrinnen ließ. Die Hitze einer winzigen Sonne breitete sich in seinem Magen aus und befriedigt leckte er sich die Lippen. Fünfzehn Jahre hatte der Whiskey dafür reifen müssen und er fand, dass es kein Tag zu wenig gewesen war.
Er nahm noch einen Schluck, stellte das Glas zurück auf die polierte Tresenplatte aus schwarzem Mahagoni und blickte zum Eingang. Keinen Augenblick zu früh. Hinter einem Mann und einer Frau, die gerade ihre Mäntel abgegeben hatten, tauchte die hochgewachsene Gestalt Johanna Brolins auf. Mit einem wortlosen Nicken ließ sie sich ihren lindgrünen Steppmantel abnehmen und warf scheinbar gelangweilt einen Blick in den Saal vier Stufen unter ihr.
Ole Mortensen täuschte sie damit nicht. Er wusste, dass sie in diesen wenigen Sekunden alles wahrgenommen hatte, was wichtig war: ein paar einsame Männer an niedrigen Tischen mit billigen Lampen mit grünen Plastikschirmen, das Pärchen, das sich neben ihm verliebt die Hände tätschelte, wo der Weg zur Toilette war und natürlich, wo er saß und ob er alleine war.
Sie war schlank, wirkte aber alles andere als zerbrechlich. Sie wartete, bis das Paar an ihr vorbeiging, das hinter ihr durch die Tür gekommen war, und folgte ihm, als würde sie zu den beiden gehören. Als die beiden sich einen freien Tisch suchten, schwenkte sie zur Bar, an der auch Ole Mortensen saß und nahm sich den einzigen Platz in der Ecke, so dass sie die Wand im Rücken und alles andere im Blick hatte.
Ohne die cremefarbenen, halblangen Lederhandschuhe auszuziehen, holte sie ein silbernes Zigarettenetui aus einer Handtasche in der gleichen Farbe, legte es vor sich auf den Tresen und ihr Gesichtsausdruck dabei riet jedem, ihr noch nicht zu nahe zu kommen. Vielleicht hätte sie eine Ausnahme für Steve McQueen oder Robert Mitchum gemacht, aber auch da war Ole sich nicht so sicher. Es gab nicht viel, bei dem er sich bei ihr sicher war. Außer, dass sie keine Fehler machte.
Er registrierte die Blicke der wenigen Männer an der Bar und ein kaum merkliches Grinsen huschte über sein Gesicht. Statt auf die beiden durchaus beachtenswerten Wölbungen unter ihrer weinroten, eleganten Damenlederjacke zu schauen, hätten sie ihr besser in die Augen gesehen. In ihrem kalten Blau leuchtete mehr Intelligenz, als den meisten hier lieb sein konnte.
Ihr Blick streifte ihn. Er holte ein peinlich sauberes, weißes Stofftaschentuch aus seiner Hosentasche hervor und putzte umständlich seine Brille, setzte sie wieder auf und trank seinen Scotch aus. Mit den Zehenspitzen angelte er vom Barhocker aus nach dem Fußboden, fand Halt und rutschte von seinem Sitz. Ein paar Trippelschritte auf kurzen Beinen, dann ließ er sein goldenes Feuerzeug vor ihr aufflammen.
„Danke“, sagte sie mit rauchiger Stimme, in der alle Sünden mitschwangen, die sie nie mit ihm begangen hatte.
Direkt neben ihr erklomm er den Barhocker. Mit vollen Lippen lächelnd, lehnte sie sich zurück, hob ein wenig das schmale Kinn und bildete ein „O“ mit dem Mund. Rauch kroch hervor und bildete, kaum, dass er ihren Mund verlassen hatte, einen perfekten Ring vor ihrem Gesicht. Sie beobachte ihn einen Moment, dann wedelte sie ihn beiseite.
Er warf einen unauffälligen Blick zu den Tischen in ihrer Nähe. Sie waren noch nicht besetzt.
„Es zeugt hier nicht unbedingt von Stil, sich zu einer Dame zu setzen und dann nach anderen Frauen zu schauen. Bin ich Ihnen nicht aufregend genug?“ Sie schlug die Beine übereinander und ließ den Saum ihres cremefarbenen Bleistiftrocks über ihr Knie rutschen. Nylon schimmerte auf.
„Hör Sie auf …“ Er hustete und wedelte mit der Hand den Dunst beiseite. „Hören Sie auf mit dem Spielchen. In zwei Stunden geht Ihr Flieger nach Berlin.“ Er ließ einen Mann und eine Frau vorbeigehen. „Also hören Sie zu und halten für ein paar Sekunden Ihre hübschen Beine ruhig.“
„Sie sind Ihnen aufgefallen?“
„Eher Ihre Handschuhe. Sollte Ihnen entgangen sein, dass sie seit zehn Jahren aus der Mode sind?“
Sie lachte kühl und wieder stieg Rauch aus ihrem Mund auf. „Taktile Hypersensibilität. Steht das nicht in Ihren Akten? Auch eine unabsichtliche Berührung meiner Haut hätte für denjenigen etwas unschöne Konsequenzen. Ich kann mich dann immer so schlecht beherrschen.“
„Wer sollte Sie freiwillig anfassen wollen? Das Barflittchen kauft Ihnen keiner ab, der einmal in Ihre kalten Augen gesehen hat.“
„Sie sind so charmant.“ Zuckersüß lächelnd beugte sie sich zu ihm herüber und zischte: „Sie haben zwar meine volle Aufmerksamkeit, aber strapazieren Sie sie nicht über Gebühr.“
Er öffnete seine Aktentasche und reichte ihr ein Flugticket, einen Pass und einen Umschlag mit Geldscheinen. „Nach Tempelhof und von dort hinter den Eisernen Vorhang nach Ostberlin. Ihre Geschichte und die Dokumente sind im Umschlag. Damit kommen Sie bis in ein Militärlazarett. Dort erwartet sie ein Mittelsmann. Vertrauen Sie ihm nicht zu sehr, er ist eine Neuerwerbung und wird sich sofort, nachdem er seine Aufgabe da erfüllt hat, absetzen.“
Sehr leise, fast war es schon ein Flüstern, setzte er hinzu: „Ihre Zielperson hat die Ladung eines geheimen Kampfstoffes abbekommen. Beschaffen Sie uns eine Blutprobe von ihm, dann seien Sie ein barmherziger Engel und erlösen ihn von seinen Leiden.“
„Mortensen, Mortensen … Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht, und Männer sollten es beschützen.“
„Sie spielen Sentimentalität genau so schlecht wie das Flittchen. Betrachten Sie es als humane Sterbehilfe. Die da drüben würden ihn sich zu Tode schreien lassen.“ Er winkte dem Mann hinter dem Tresen zu. „Es ist so. Den Kampfstoff, den er abbekommen hat, hat noch niemand überlebt. Oder haben Sie ein generelles Problem damit?“
„Wie hätten Sie es denn gerne? Soll ich ihn erwürgen, den Schädel einschlagen oder die Arteria carotis interna durchtrennen?“
„Seien Sie nicht albern. Ich dachte, sie wären Ärztin, also machen Sie es gefälligst so, dass es keiner mitbekommt!“
Sie nahm einen Zug aus ihrer Zigarette, sah dem Rauch hinterher und dann auf ihre Hand. Sie griff nach ihrem Zigarettenetui, klappte es aber nicht auf, sondern drehte es nur zwischen den Fingern.
Er sagte: „Fünfzigtausend.“
Sie stieß einen Laut aus, der sich wie ein abgehacktes Lachen anhörte und er seufzte. Sie arbeitete nicht für Geld, ihre Bezahlung waren Informationen, die er besaß. Was sie damit machte, hatte er nie herausgefunden. „Es ist ein alter Kampfstoff der Russen. Sie wollten damals so etwas wie den neuen sowjetischen Menschen schaffen, der dem Kommunismus endgültig zum Sieg verhelfen sollte. Sie wissen schon – was man in schlechten Romanen liest: mehr Intelligenz, Kraft und so weiter. Die ersten Ergebnisse waren vielversprechend, aber keine der Testpersonen hat länger als zwei Stunden überlebt. Was danach geschah, war immer gleich und spektakulär unschön.“ Er beugte sich nach vorne und flüsterte: „Lief die Zeit ab, sind die Probanden wie hungrige Hyänen auf alles losgegangen, was sich bewegt hat und haben es mit blanken Händen zerlegt. Können Sie sich vorstellen, was das für eine Schweinerei gegeben hat?“ Fragend blickte er sie an.
„Kann ich. Und?“ In ihrem Gesicht regte sich nichts. Er hatte nichts anderes erwartet.
„Man hat das Programm beendet und alle Spuren beseitigt, nachdem in einem Test-U-Boot ein Behälter undicht geworden war und die Besatzung ausgerastet ist. Sie haben noch einen Langstreckentorpedo mit dem Zeug abgefeuert, bevor sie aufeinandern losgegangen sind. Das U-Boot hat man gefunden und die Reste der Besatzung mit Schaufeln herausgeholt. Der Torpedo blieb verschwunden. Bis vor ein paar Wochen.“
„Sie wollen sein Blut, weil?“
„Er hat schon drei Wochen überlebt. Es besteht die Möglichkeit, dass er die Anomalie ist, nach der die Russen gesucht, sie aber nie gefunden haben.“
„Und Sie denken, mit seinem Blut können Sie da weitermachen, wo die Russen aufhören mussten.“ Sie drückte ihre Zigarette in dem billigen Aschenbecher aus. „Dünn, Mortensen, sehr dünn. Diese Information ist weder das Risiko noch einen Mord wert.“
„Mein Auftraggeber würde einen Wutanfall bekommen, wenn er erfährt, dass ich diese Information weitergegeben habe. Mehr habe ich nicht für Sie. Klatsch und Tratsch interessiert Sie doch wohl kaum, oder?“ Er wand sich wie ein Aal bei Niedrigwasser.
„Ängströms Antarktisexpedition?“
„Was ist mit der?“
„Ich praktiziere als Ärztin, wenn ich nicht gerade für Sie arbeite, falls Sie sich erinnern. Im Team wird bestimmt noch jemand gebraucht, und mit Erfrierungen kenne ich mich aus.“
„Davon bin ich überzeugt. Was wollen Sie in der Antarktis?“
„Ich war noch nie da.“
„Das ist ein Grund?“
„Für mich schon.“
„Ich sehe, was ich tun kann.“
Sie warf ihr Etui und den Umschlag von Mortensen in ihre Handtasche und stand auf. „Wenn Sie mir das Ticket für die Überfahrt und die Expeditionsunterlagen in die Hand drücken, bekommen Sie die Blutprobe. Wenn nicht, geht sie baden, zusammen mit den Plänen für Ihren Supermenschen.“
„Ich kann nicht …“
Er sprach ins Leere. Sie war bereits zum Ausgang unterwegs. Nicht einmal eine Verabschiedung war er ihr wert gewesen.
Mit schwingenden Hüften strebte sie an den Tischen vorbei dem Ausgang zu. Die Köpfe nicht nur von Männern drehten sich und er empfand ein fast morbides Vergnügen dabei. Er war nicht der Einzige, der meinte, dass sie ein verdammt heißer Eiskeller war. Doch er wusste auch, dass es nur ihr Geschäftsmodell war, das sie meisterhaft beherrschte und er fragte sich nicht zum ersten Mal, wie sie wirklich war, wenn sie einmal diese Maske abnahm und nichts weiter war als eine Frau.