Kapitel 3: Die Unbesiegbare
Das Intercom summte. Immer noch mit geschlossenen Augen drückte Albina die Sprechtaste und fragte: „Ja?“
„Wir haben sie, Skipper.“ Nur weil sie ihren Ersten Offizier schon seit vielen Jahren kannte, hörte sie die unterdrückte Aufregung in seiner Stimme. „Sie hat ihren Notsender eingeschaltet.“
Mit einem Schlag war Albina hellwach. „Gott sei Dank! Position?“
„Eine viertel Seemeile von der Grenze der Dreimeilenzone entfernt.“
„Was? Sie sollte doch auf uns warten.“
„Vielleicht war das nur noch ihre einzige Option? Wir lagen nicht wie verabredet am Kai. Vielleicht wurde sie bereits verfolgt? Aber für ein Boot ist sie zu langsam, es sei denn, es ist ein Ruderboot. Oder …“ Der erste Offizier machte eine bedeutungsvolle Pause.
Albina stöhnte: „Oder sie schwimmt.“ Scharf fragte sie: „Wie lange noch, bis sie die Seegrenze erreicht?“
„Etwa eine halbe Stunde, wenn sie so weiter schwimmt. Bei unserer derzeitigen Geschwindigkeit brauchen wir noch mindestens fünfzig Minuten.“ Er machte eine Pause, dann setzte er hinzu: „Wir wissen, wozu ihr Körper in der Lage ist, aber weiß sie es auch? Fliegen können wir noch nicht.“
Sie griff nach ihrem Zopf. „Doch, das können wir.“
„Ich weiß nicht, ob mir gefällt, was sie da gerade denken, Skipper.“
„Mir auch nicht. Aber trotzdem: Gehen Sie mit den Turbinen auf volle Kraft!“
„Aber Skipper …“
Sie sprang auf. „Einhundert Prozent für die Turbinen! Volle Beleuchtung und die Suchscheinwerfer voraus! Ich will, dass sie uns kommen sieht! Vielleicht hilft ihr das, durchzuhalten.“
Sie ließ die Sprechtaste los, warf einen schnellen Blick in den Spiegel, dann eilte sie zur Tür. Während sie die wenigen Schritte von ihrer Kabine bis zur Kommandobrücke hastete, wurde das leise Pfeifen der Turbinen höher und sie spürte, wie das Schiff beschleunigte. Der Erste Offizier hatte ihren Befehl ausführen lassen und damit war die Tarnung, die sie in den letzten zehn Jahren mühevoll aufgebaut hatte, geplatzt wie eine Seifenblase. Ab jetzt ging es nicht mehr nur um das Leben Larissa Gromkowas, sondern auch um das der Besatzung der Time Bandit.
„Ach Larissa, was hast du nur getan?“, seufzte Albina und riss die Tür zur Brücke auf.
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Sie wusste nicht, dass eine freundliche Strömung sie unmerklich, aber beständig hinausgetragen hatte. Genau so wenig wusste sie, warum sie überhaupt noch lebte. Erst war die Kälte gekommen, war ihr unter die Haut gekrochen und ihr schien, als rann flüssiges Eis statt Blut durch ihre Adern. Dann waren Krämpfe gekommen, in einer Intensität, wie sie es nie zuvor im Leben erlebt hatte. Jetzt fühlte sie weder ihre Arme noch ihre Beine und doch bewegten sie sich und verhinderten, dass sie ertrank. Etwas in ihr zwang sie dazu und sie wusste nicht einmal, was es war, denn ihr Kopf hatte schon längst aufgegeben.
Sie trieb auf dem Rücken und dass ihr Körper sie mit unbewussten, kleinen Bewegungen über Wasser hielt, nahm sie nicht einmal mehr wahr. Die Hoffnung, dass die Time Bandit sie noch retten würde, hatte sie verloren. Irgendwie hatte sie es vor einigen Minuten trotzdem geschafft, ihren Notsender einzuschalten. Die Bewegung der linken Hand zu ihrem rechten Oberarm hätte sie fast umgebracht. Es hatte den Schwimmrhythmus ihres Körpers gebrochen und sie war sofort untergegangen. Doch das gleiche Etwas in ihr, das ihr die Qual des Schwimmens befahl, hatte dafür gesorgt, dass sie sich wieder an die Oberfläche gekämpft und sich auf den Rücken gedreht hatte. Doch zu mehr war sie nicht mehr in der Lage.
Sie blickte in den Himmel, doch kein Stern tröstete sie mit seinem Funkeln. Alles, was sie sah, war Schwärze. Vielleicht, wenn sie noch die Energie gehabt hätte, ihren Kopf zu heben, hätte sie in der klaren Luft die Lichter von Warnemünde und den wandernden Schein des Leuchtturms sehen können. Doch ihr fehlte selbst dazu die Kraft und so ihr blieb nichts anderes, als darauf zu warten, dass ihr Körper auch diese kleinen Bewegungen einstellte, mit denen er sie bis jetzt über Wasser gehalten hatte und ihre unmenschliche Qual endlich ein Ende nahm.
So sah sie auch nicht, wie hinter ihr am Horizont ein Lichtpunkt erschien und sein Leuchten von Minute zu Minute stärker wurde.
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Entgegen dem Pessimismus des Ingenieurs hatten die Turbinen ihre Aufgabe erledigt, ohne sich in ihre Bestandteile zu zerlegen. Jetzt lief die Time Bandit nur noch mit einem Viertel ihrer Kraft voraus und der Erste und der Zweite Offizier suchten von der Brücke aus mit Feldstechern das Meer nach Larissa ab. Jedes verfügbare Mitglied der Crew hatte Albina an Deck gescheucht, um ebenfalls Ausschau zu halten. Sie konnte nur hoffen, dass sie Larissa schnell genug fanden und verschwunden waren, bevor ein Grenzschutzboot der DDR aufkreuzte.
Den Funker hatte sie angewiesen, alle Anfragen damit zu beantworten, dass sie einen Ruderschaden erlitten hatten, aber hofften, ihn in Kürze beheben zu können und die Fahrt aus eigener Kraft fortzusetzen. Für jemanden, der nicht so genau hinsah, würde das immerhin erklären, warum die Time Bandit Kreise fuhr.
„Fünfzehn Grad Backbord, 400 Meter,“ sagte der Erste Offizier leise, setzte sein Glas ab und hielt es Albina hin. Mit einem Schritt war sie bei ihm, blickte selbst hindurch und tatsächlich sah sie im Licht des Suchscheinwerfers einen Körper im Wasser treiben. Sie zögerte keine Sekunde.
„Fünfzehn Grad Backbord!“
Der Mann am Steuerrad wiederholte den Befehl. Eine Minute später sagte er: „Kurs liegt an!“
„Maschinen stopp!“
Einen Atemzug später kam die Antwort: „Sind gestoppt!“
Die Masse der Time Bandit von über dreizehntausend Tonnen erledigte den Rest. Immer langsamer werdend, trieb sie auf Larissa zu und die Suchscheinwerfer entließen ihren Körper keine Sekunde mehr aus ihrem Licht.
Auf Deck wurden Kommandos gebrüllt, dann wurde ein Netz auf der Backbordseite herabgelassen. Zwei Männer sprangen ins Wasser und hielten sich an dem Netz fest, bereit, Larissa einen Rettungsring überzuwerfen und an Bord zu holen, sobald sie in ihre Reichweite kam.
„Was ist das?“
Albina zeigte auf den Radarschirm. Zwei grüne Punkte bewegten sich auf die Time Bandit zu. Im gleichen Moment flammte am Ufer helles Licht auf, erst einer und kurz darauf ein zweiter dicker Strahl wanderte zum Himmel, bewegte sich hin und her, senkte sich und dann war die Time Bandit plötzlich in gleißende Helle getaucht.
„Die Flakscheinwerfer der Küstenwache. Verd…“ Der erste Offizier sprang zum Radar, studierte das Bild ein paar Sekunden, dann knurrte er: „Der kleine Punkt könnte ein Schnellboot sein. Das braucht höchstens noch fünf Minuten, bis es hier ist, der Zweite ist ein dicker Brummer, ein MSR-Schiff der Grenzbrigade Küste vielleicht. Oder Schlimmeres.“ Er blickte Albina an und der Vorwurf in seinem Blick war unübersehbar. „Wenn ich es richtig in Erinnerung habe, kommen da mindestens zwei 25-Millimeter Maschinenkanonen auf uns zu. Und bei der klaren Luft halten uns die Flakscheinwerfer von Land wenigstens fünfzehn Kilometer im Fokus. Wenn die es ernst meinen, wird das wie ein Tontaubenschießen.“
Der Funker stürmte herein: „Wir werden aufgefordert, die Maschinen zu stoppen und beizudrehen.“
„Und der Mond ist aus grünem Käse.“ Albina blickte nach vorn. Der Kurs des Schiffes stimmte, es fehlten nur noch knapp einhundert Meter, dann würde Larissa knapp an der Steuerbordseite vorbeitreiben. Aber die Time Bandit kroch nur noch durchs Wasser und würde Minuten für diesen Katzensprung benötigen. Minuten, die sie nicht mehr hatten.
Sie schaute ihren Ersten Offizier an. „Gehen Sie nach unten, Wassili. Wir nehmen sie in Fahrt auf. Wir haben nur diesen einen Versuch. Und lassen Sie die amerikanische Flagge setzen! Wollen doch mal sehen, ob sie sich trauen, darauf zu schießen.“
Sie hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da sprang er schon zur Tür, während sie am Steuerpult die Diesel auf zehn Prozent brachte. Dann öffnete sie das Fenster auf der Backbordseite. Zusammen mit der Stimme ihres Ersten Offiziers, der Befehle brüllte, schwappte ein Schwall feuchter Luft herein.
„Fünf Grad Steuerbord!“, befahl sie und warf einen Blick aus dem Fenster auf das Deck.
„Fünf Grad Steuerbord, aye Skipper.“ Dem Steuermann stand Schweiß auf der Stirn, aber seine Stimme klang ruhig.
Sie drückte einen Knopf des Intercomms.
„Maschinenraum hier,“ klang es aus dem Lautsprecher.
„Wir werden gleich auf volle Kraft gehen. Diesel und Turbinen!“
„Aber …“
„Brücke Ende!“
Das hochfrequente Kreischen eines Motors drang durch das Fenster herein. Albina schaute in Richtung des Geräusches, doch es kam genau aus dem Licht der Flakscheinwerfer an Land und geblendet kniff sie die Augen zu.
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Die Männer im Wasser hatten bereits den Rettungsring um den leblos vorbeitreibenden Körper Larissas gelegt und hielten sich mit der anderen Hand an dem von der Bordwand herunterhängenden Netz fest, da schoss aus dem Licht ein großes schwarzes Schlauchboot auf sie zu. Im letzten Moment reduzierte es seine Geschwindigkeit, einer der beiden Männer in dem Boot beugte sich zur Seite, griff nach dem Rettungsring um Larissas Körper und versuchte, sie an Bord zu zerren. Doch das Boot war zu schnell, Larissas Körper zu schwer und so musste er sein Opfer wieder loslassen, wollte er nicht über Bord gehen.
Ohne das Wassili es hätte befehlen müssen, kletterten hastig weitere Männer vom Deck der Time Bandit in das Rettungsnetz, während das Schlauchboot wendete und erneut heran schoss. Gerade noch rechtzeitig rissen sie Larissas Körper aus dem Wasser, weitere Hände packten von oben zu und zerrten sie auf das Deck der Time Bandit. Im gleichen Augenblick drehte der erste Offizier seinen Kopf zu der aus dem Fenster der Kommandobrücke blickenden Albina und brüllte: „Jetzt!“
Schon als er den Mund geöffnet hatte, war sie zum Steuerpult gesprungen. Mit einem Knopfdruck entfesselte sie die neunzigtausend PS der Motoren, Wasser wirbelte am Heck auf und die Time Bandit schien einen Sprung zu machen.
„Kurs Nord-Nord-West!“, sagte sie ruhig.
„Nord-Nord-West, aye Skipper.“ Der Steuermann wischte sich den Schweiß von der Stirn.
Albina stellte sich wieder ans Fenster. Larissa war auf eine Trage gebettet worden und Nicos kniete mit seinem Assistenten neben ihr. Als hätte er Albinas Blick gespürt, schaute er nach oben. Einen Moment kreuzten sich ihre Blicke, dann nickte er mit vor Sorgen gefurchter Stirn, aber einem Lächeln im Gesicht.
Sie griff sich ans Hertz und hielt sich mit der anderen Hand am Steuerpult fest.
„Skipper?“ Der zweite Offizier, der die ganze Zeit das Radar beobachtet hatte, sprang zu ihr.
„Schon gut.“ Abwehrend hob sie die Hand, bevor er sie berühren konnte. „Ich muss mich nur einen Moment hinsetzen.“
Da flammte in schneller Folge ein Blitzlicht auf. Es kam von dem schwarzen Schlauchboot, das neben der Time Bandit herfuhr. Der Mann, der nach Larissa gegriffen hatte, schoss Foto um Foto mit durchgedrücktem Auslöser, bis der Film leer war. Dann drehte das Boot ab und verschwand aus dem Lichtkegel der Flakscheinwerfer vom Ufer.
„Jetzt haben die doch tatsächlich ein Foto von mir.“ Fassungslos schüttelte Albina ihr graues Haupt, griff nach der Hand des zweiten Offiziers und ließ sich von ihm zum Kapitänssessel bringen.
Sie ließ sich hineinsinken, stützte ihren Kopf in die Hände und murmelte wieder: „Larissa, was hast du nur angerichtet?“
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Als das Telefon klingelte, war der Mann sofort wach. Elastisch sprang er von seinem Feldbett auf. Er hatte es vor zwei Tagen in sein schmuckloses Dienstzimmer in der Lubjanka in Moskau stellen lassen und den Raum seit dieser Zeit nicht mehr verlassen.
„Ja,“ sagte er nur in den Hörer.
„Sie ist an Bord eines amerikanischen Schiffes entkommen, Genosse Oberst.“
Die Kälte sibirischer Winternächte knarzte in der Stimme von Oberst Maximow: „Das MSR-Schiff?“
„War nicht schnell genug.“
Die Antwort war ein Wort, das in jeder Sprache die gleiche Bedeutung hatte: „Ебать!“ Der Oberst knallte den Hörer auf die Gabel.
- Anfang
- Kapitel 1: Der vierte Schlüssel
- Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
- Kapitel 3: Die Unbesiegbare
- Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
- Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf
- Kapitel 6: Flachgelegt
- Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies
- Kapitel 8: Kaltes Herz
- Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald
- Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht
- Kapitel 11: Gezeitenwechsel
- Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
- Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz
- Kapitel 14: Der im Regen tanzt
- ...
- Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge
- ...
- Kapitel 32: Das Herz der Sterne
- ...
- Nachwort