Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf

Frühling 1989, Kühlungsborn

Obwohl groß und kräftig, bewegte sich der Mann mit der unauffälligen Eleganz eines Tangotänzers. Jeder Schritt war effektiv, verbrauchte ein Minimum an Energie und erbrachte ein Maximum an Wegstrecke. Er hatte die schiefe Nase eines abgehalfterten Preisboxers, der mit ihr zu oft die Fäuste seiner Gegner hatte stoppen müssen und Augen in der blassblauen Farbe abkühlenden Stahls, die sich tief unter starken Brauenwülsten versteckten. Seine Kopfform war kantig, aber nicht so sehr, dass er damit in einer Menschenmenge aufgefallen wäre.
Seine Pilotenjacke aus braunem Leder war etwas weiter geschnitten, als es selbst nach seinen breiten Schultern notwendig gewesen wäre, und die steinkohlegraue Bundhose ließ seinen kräftigen Oberschenkeln ausreichend Bewegungsfreiheit. Dazu trug er ein weißes Baumwollhemd und einen blauen Schlips, der nicht gebunden, sondern angeklippt war.
Mit dem Brillengestell aus Draht und den peinlich genau auf links gescheitelten grauen Haaren, die schon erste lichte Stellen hatten, wirkte er auf diejenigen, die nur einen flüchtigen Blick für ihn hatten, wie ein Beamter, der sich seinen baldigen Ruhestand redlich verdient hatte.
Seine akkurate Haltung, die hellwache Intelligenz in seinen Augen und sein Blick, der in Sekundenschnelle alles erfasste, sich aber dabei nie lange an einem Punkt aufhielt, erzählten denen, die sie verstehen konnten, eine andere Geschichte: Die von einem Mann, der in einem anderen Land und einer anderen Zeit einen Stetson mit breiter Krempe, Stiefel, ein paar Skalpe an den Schultern und einen Fünfundvierziger Colt an der Hüfte getragen hätte. Aber im zwanzigsten Jahrhundert skalpierte man seine getöteten Feinde nicht mehr und statt eines Colts am Gürtel trug man jetzt eine Makarow oder eine Walther unter der Achsel, je nachdem, auf welcher Seite des Eisernen Vorhangs man ausgebildet worden war.
Der Posten am Kontrolldurchlass der Kaserne in Kühlungsborn nahm nichts davon wahr, als der Mann ihm seinen Personalausweis reichte und sagte: „Sven Oldenburg. Ich habe eine Verabredung mit meinem Sohn.“
Für ihn war der Mann ein Vater wie so viele andere, die hier schon vor ihm gestanden hatten und ihre Kinder hatten sehen wollen. Er schob den Personalausweis unter einem kleinen, nur ein paar Zentimeter geöffneten Schiebefenster hindurch und nahm im Gegenzug einen Passierschein vom Wachhabenden in Empfang. Der Passierschein berechtigte zu nichts, war nichts weiter als der Nachweis, dass Sven Oldenburg sich ordnungsgemäß angemeldet hatte und sich für eine Stunde in einem der Besucherräume direkt neben dem Kontrolldurchlass aufhalten durfte. Es war eine bedeutungslose, nichtsdestotrotz aber wichtige Formalität.
„Hier gleich links,“ sagte der Posten und reichte den Passierschein an Sven Oldenburg weiter.
Mit einem Nicken steckte Sven das Dokument in die Innentasche seiner Lederjacke, wartete, bis der Posten ihm die Gittertür aufschloss und schritt hinein ins Niemandsland zwischen den beiden Stacheldrahtzäunen, die den Bereich der Kaserne nach innen und nach außen abgrenzten. Die Zäune ragten drei Meter in den Himmel und die Spitzen der Stahlpfosten waren auf den letzten fünfzig Zentimetern in einem Winkel von fünfundvierzig Grad nach innen und außen gebogen, als wollte man nicht nur ein unbefugtes Eindringen verhindern, sondern auch einen Ausbruch. Der Stacheldraht war verrostet, die braune Farbe der Pfosten an vielen Stellen aufgeplatzt und sah aus wie Haut voller Pockennarben. Ein Trampelpfad verlief zwischen beiden Zäunen, den die Wache bei ihrer Patrouille benutzte.
Sven hatte selbst einmal seinen Grundwehrdienst in der Nationalen Volksarmee der DDR geleistet und so musste er sich nicht fragen, warum die Besucherräume nur über diesen Weg zugänglich waren und nicht auch von außen. Die Erlaubnis, die Kaserne zu verlassen, bekamen Soldaten nur von ihren Offizieren. Meistens so selten, dass bei so manchem jungen Wehrdienstleistenden der Freiheitsdrang unbeherrschbar wurde und er die erste sich bietende Gelegenheit nutzte, ein paar Stunden zusätzliche Freiheit zu ergattern. Dass die Folge eine Ausgangssperre von Wochen, Monaten oder sogar Arrest sein würde, daran dachten die meisten erst hinterher. Für das Ableisten des Grundwehrdienstes galten in der DDR nur zwei Voraussetzungen: mindestens achtzehn Jahre alt und männliches Geschlecht. Intelligenz war nicht zwingend erforderlich, für die meisten Tätigkeiten, die ein Soldat zu erlernen hatte, sogar eher hinderlich.
Der Besucherraum stank bestialisch nach kaltem Zigarettenrauch, obwohl das vergitterte Fenster geklappt war. Ganze Armeen von Müttern, Vätern, Ehefrauen und Geliebten hatten hier schon gewartet und vor Nervosität eine Kippe nach der anderen gequalmt. Sie hatten gehofft auf den Moment, in dem der Sohn, der Geliebte, der Vater endlich in der Tür stand für eine Stunde Zweisamkeit, ein paar Umarmungen und viel zu wenig Küsse. Der Mief von Caro und F6 hatte sich in die Wände gefressen, dünstete aus jedem Winkel hervor und machte Sven das Atmen schwer.
Draußen wurden Kommandos gebrüllt. Sven stellte sich ans Fenster, doch die Ursache der Geräusche kam von außerhalb seines Sichtfelds. Stiefel trampelten da auf Pflastersteinen, dann war da ein nicht ganz synchrones, aber unverwechselbares metallisches Klicken: Magazine, die in Kalaschnikows AK-74 eingesetzt wurden und einrasteten. Ein weiteres Kommando: „Im Gleichschritt – Marsch!“ Wieder trampelten Stiefel, diesmal im Gleichschritt, das Geräusch wurde leiser und verklang. Die neue Objektwache war aufgezogen.
Etwas hinter ihm hatte sich verändert. Sven spürte es einen Sekundenbruchteil, bevor sein Verstand ihm mitteilte, dass jemand den Raum betreten hatte.
„Wie machst du das?“, fragte er und drehte sich herum. „Stiefel, Felddienstuniform, Koppel, doch nichts knarrt, kein Tritt ist zu hören …“
„Muss in den Genen liegen. Bin der Sohn eines Leisetreters.“ Christian Oldenburg füllte mit seinen breiten Schultern den Türrahmen, das Gesicht bar jedes Ausdrucks. Wiedersehensfreude sah anders aus.
„Hallo Christian,“ sagte Sven.
„Hallo.“ Mehr sagte Christian nicht. Er war mit einem Meter und neunzig Zentimetern genau so groß wie sein Vater und besaß auch die gleichen breiten Schultern, trotzdem schien er schlanker. Mit seinen vierundzwanzig Lebensjahren schien sein Gesicht bereits so festgefügt und unabänderlich, als hätte das Leben darin schon alles abgeschliffen, was es abzuschleifen galt. Übrig geblieben war ein Antlitz voller Widersprüche, das vor allem eines ausstrahlte: Willensstärke bis hin zum Starrsinn. Sein kantiges Kinn mit der Kirk-Douglas-Gedächtnisgrube gab ihm etwas Brutales, seine schlanke Nase hätte einer Frau besser gestanden, die starken Augenbrauenwülste besser einem Urmenschen und die breite und hohe, von zwei Falten gefurchte Stirn hätte auch gut als Frontplatte eines dieser neumodernen Computer durchgehen können. Seine Augen waren haselnussbraun und Sven erinnerte sich, wie viel Wärme und Liebe einst aus ihnen geleuchtet hatten. Doch seit dem Tod seiner Frau, Christians Mutter, sah er nur noch vor sich hin glimmenden Zorn in ihnen.
Er ließ sich seine Enttäuschung über die kühle Begrüßung nicht anmerken. „Wie geht es dir?“
„Ist das wichtig für den Bericht?“
„Für welchen?“
„Musst du nicht über jedes Gespräch mit mir einen Bericht schreiben?“
Sven versuchte es mit einem Scherz: „Nur bei wichtigen Leuten.“
„Ah, ja. Na dann: gestatten Sie, dass ich Platz nehme, Genosse Major?“ Fast unmerklich kräuselte ein spöttisches Lächeln Christians Lippen.
„Entspann dich,“ antwortete Sven und setzte sich an den Tisch. „Oder musst du dazu wirklich einen Befehl haben?“
Christian setzte sich Sven gegenüber auf einen Stuhl auf der anderen Seite des Tisches, legte seine Hände flach auf seine Oberschenkel und richtete seine Augen auf die weißgekalkte Wand ein paar Zentimeter über dem Kopf seines Vaters.
Sven sagte: „Ich habe dir etwas mitgebracht.“
„Einen Namen?“
„Sei nicht albern.“ Er holte die zusammengerollte Fotokopie einer Karte aus seiner Aktentasche und breitete sie auf dem Tisch aus. „Die Karte des Piri Reis. Du hast mich einmal darauf angesprochen, erinnerst du dich noch? War nicht einfach, sie zu besorgen. Es ist eine exakte Kopie des Originals aus dem Topkapi, dem Palast des Sultans in Istanbul. Da liegt es unter Glas. Panzerglas wahrscheinlich. Damit du mal über etwas Sinnvolles grübeln kannst.“
„Was ich sonst nicht tue, deiner Meinung nach.“
Sven hob die Hände, dann ließ er sie auf den Tisch fallen. Auch wenn er es besser gewusst hatte, so hatte etwas in ihm doch gehofft, dass die letzten sechs Monate seit seinem letzten Besuch eine Veränderung zum Guten in Christian herbeigeführt hatten. „Ich kann nicht in dich hineinsehen.“
„Hast du es denn jemals versucht?“
„Ich bin nicht hergekommen, um mir von dir Vorwürfe anzuhören!“
„Natürlich nicht. Du hoffst immer noch, dass mich irgendjemand hier wieder … geradebiegt. So hast du es damals genannt, nicht? Du kennst mich wirklich nicht. Wie solltest du auch.“
Die Kränkung war nicht, was Christian sagte, sondern wie: in gleichmäßigem, entspannten Ton, so als redete er über das Wetter oder eine andere Belanglosigkeit und nicht über das, was zwischen ihnen stand.
Noch vor ein paar Jahren wäre jetzt ein Wutausbruch fällig gewesen, doch den Teil hatten sie hinter sich gebracht. Es war der Tag gewesen, an dem Christian erfahren hatte, dass sein Vater weder ein Handelsvertreter noch ein Forschungsreisender war und dass er Marx, Lenin, das Parteiprogramm und die Dienstanweisungen aus Berlin lieber las als Kant, Nietzsche, Heine, Novalis, Lem, und Reiseberichte, vorzugsweise über Arktis und Antarktis, wie es Christian tat.
Die Karte rollte sich mit einem leisen Geräusch wieder zusammen, als Sven seine Hände wegnahm, um sie mit gespreizten Fingern auf die Tischplatte zu pressen. Zornrot im Gesicht, atmete er zwei, dreimal unüberhörbar. Die Mauer, die Christian zwischen ihnen errichtet hatte, war nicht dünner, sondern nur noch dicker geworden.
„Warum bin ich überhaupt hergekommen?“, fragte er. Es war nur eine rhetorische Frage, Ausdruck seiner Ratlosigkeit. Um so erstaunter war er, als Christian seine Augen auf ihn richtete und mit offensichtlich ehrlichem Interesse fragte: „Ja, warum?“
„Weil ich dein Vater bin!“
„Der Zusammenhang erschließt sich mir nicht.“ Christian überlegte sichtlich. „Gibt es denn eine Dienstanweisung, in der steht, dass ein Vater seinen Sohn alle halbe Jahr besuchen muss?“
„Meinst du die Frage ernst?“
„Siehst du mich lachen?“
Sven tat es und es war aus purer Verzweiflung. „Wie schaffst du das nur? Jedes Mal stellst du mich mit dem Rücken an die Wand und zwingst mich, über Fragen nachzudenken, auf die ich nie kommen würde. Verdammt, Christian, du bist mein Sohn und ich …“ Er wischte sich Tränen aus dem Gesicht, von denen er sich nicht ganz sicher war, ob sie wirklich vom Lachen kamen. „Kommst du klar hier?“
„Zweifelst du immer noch daran?“
„Verdammt!“ Sven knallte die flache Hand auf den Tisch. „Gib mir einmal, nur ein einziges Mal eine Antwort, mit der ich etwas anfangen kann! Irgendwo in deinem sturen Hirn muss doch eine Tür sein! Kommst du klar hier, Christian?!“
Christian hatte bei dem Ausbruch seines Vaters mit keiner Wimper gezuckt. Ohne jede Betonung, monoton wie ein Roboter, antwortete er: „Selbstverständlich. Schließlich ist das hier eine Eliteeinheit. Unter Hunderten wird man ausgewählt, um hier als Bester von den Besten dem Sozialismus dienen zu dürfen. Ich bin einer von ihnen und selbstverständlich ungeheuer stolz auf diese Auszeichnung.“
„Du arbeitest an einem Werbeprospekt?“
„Höre ich da Sarkasmus?“
„Nur eine Frage.“
„Oh doch, es war Sarkasmus und das von einem verdienten Spion der Stasi. Ich dachte, meine Antwort würde dich stolz auf deinen Sohn machen. Jetzt bin ich tatsächlich ein wenig verwirrt. Warst du vielleicht zu lange dem zersetzenden Einfluss des Klassenfeindes ausgesetzt? Ich hätte Verständnis dafür, so etwas kann auch den Besten passieren. In jeder Politschulung werden wir davor gewarnt.“
„Du hättest Verständnis? Für mich? Das sind ja mal ganz neue Töne.“ Sven starrte seinen Sohn an. Musste er an dessen Verstand zweifeln? Was hatten sie hier mit ihm gemacht?
„Warum sollte ich dich nicht verstehen wollen? Du hast vorhin doch selbst festgestellt, dass du mein Vater bist.“
Nichts in Christians Gesicht hatte sich bei seiner Antwort verändert und doch … war da nicht ein fast unmerkliches Zucken in seinem rechten Augenwinkel gewesen?
Wieder zuckte es in Christians Augenwinkel und auch seine Lippen zitterten kurz, als wollten sie sich zu einem Grinsen verziehen, würden aber mit Gewalt daran gehindert.
Sven grinste. „Die psychologischen Auswahlkriterien für die Eignung zum Kampfschwimmer schienen mir schon damals ziemlich im Arsch zu sein. Gehört dazu nicht auch so etwas wie Teamfähigkeit?“
„Wir nennen das hier Kollektivgeist. Wir haben es nicht so mit Amerikanismen. Du weißt, die Sprache des Klassenfeindes …“
„Auf den Arm nehmen kann ich mich alleine.“
In aller Ruhe stand Sven auf, ging zur Tür, öffnete sie, schloss sie wieder und untersuchte den Rahmen. Danach war das einzige Fenster im Raum dran. Er schloss es, ging zum Tisch, kniete sich hin, untersuchte den Tisch von unten und tastete ihn unter der Tischplatte ab. Dann richtete er sich auf, stemmte die zu Fäusten geballten Hände auf den Tisch und beugte sich vor. „Keine Mikrophone, keine Abhöreinrichtung. Also sag mir endlich die Wahrheit. Du hättest nur achtzehn Monate dienen müssen und schon längst studieren können, wenn du gewollt hättest. Du weißt, dass ich nur den richtigen Leuten einen Tipp hätte geben müssen. Stattdessen bist du für vier Jahre hierher gegangen, obwohl das hier die genaue Entsprechung zu dem ist, was du mir vorwirfst.“
„Ja und? Sagst du nicht immer: Wer den Wolf scheut, soll nicht in den Wald gehen?“
„Blödsinn! Das hier …“ Sven schwenkte die Arme, „hätte deine Mutter nicht gewollt.“
„Leg ihr nichts in den Mund!“ Auch Christian stand auf und stützte sich wie sein Vater auf den Tisch, so dass ihre Köpfe nur Zentimeter voneinander entfernt waren. „Lass es einfach! Lass es, hörst du?“
Sven sah ihm an, wie er mit aller Kraft gegen die wütende Flut kämpfte, die gegen den Damm brandete in seinem Inneren, den er gegen seinen Zorn errichtet hatte und dass erste Spritzer schon über die Dammkrone flogen. Er sah es an dem wütenden Blitzen in Christians Augen und die nächsten Worte von ihm bestätigten das. „Ihr könnt den Amis die Konstruktionsunterlagen für ihr Spaceshuttle stehlen, aber bei einer in Berlin auf offener Straße vergewaltigten und erwürgten Frau fällt euch nichts Besseres ein, als ein sechzigjähriger Triebtäter, der in seiner ersten Nacht in Freiheit nach zwanzig Jahren gleich wieder über eine Frau herfällt und dann auch noch zufälligerweise auf der Flucht erschossen wird? Der hätte doch nicht einmal mehr einen hochgekriegt! Ein Hungerhaken von knapp einen Meter siebzig? Der soll ihr drei Rippen gebrochen und die Wangenknochen zerquetscht haben? Soll ich dir ausrechnen, wie hoch der Druck dafür in Kilogramm pro Quadratzentimeter sein muss? Das war damals schon Kinderkacke und sie stinkt heute noch genau so, weil sie keiner weggeräumt hat. Das war ein Zweimetermann, mit dem sogar ich meine Probleme hätte. Wie oft willst du diese Diskussion noch mit mir führen?! Niemand bringt in der DDR die Frau eines Stasioffiziers um, ohne dass man die genauen Hintergründe herausfindet, und auf der Flucht erschossen ist das genaue Gegenteil davon.“
„Und mit ‚man‘ meinst du mich!“
„Wen sonst? Offenbar ist für dich ‚Aufklärung‘ nur etwas, was du beim bösen Kapitalismus machst!“
Sie erdolchten sich mit Blicken und es war Sven, der als Erster den Kopf senkte. Er hatte alles getan, was in seiner Macht gestanden hatte, um den Mörder seiner Frau zu finden, und erst ein Machtwort seines Vorgesetzten, Oberst Müller, hatte ihn stoppen können. Nicht nur seine Karriere hatte Sven riskiert, sondern sogar seine Freiheit, als er mächtigen Parteisoldaten auf die Füße getreten hatte. Von all dem wusste Christian nichts, weil ihm Erzähltes nie gereicht hatte. Für ihn zählte nur Erreichtes und das war, wenigstens was den Mord an seiner Mutter betraf, nichts. Christian hätte damals schon ein Genie sein müssen, um sich aus dem Wenigen, was Sven Christians Großmutter erzählt hatte, alles zusammenreimen zu können. Sven hatte ihm nichts gesagt, weil jedes Wort ihm nur wie eine faule Ausrede vorgekommen wäre.
Doch die unbeherrschte Reaktion war genau die Tür, nach der Sven so verzweifelt gesucht hatte. Er sah sie, er sah den Schmerz und er setzte das Messer an. So sanft, wie er nur konnte, fragte er: „Fehlt sie dir immer noch so sehr?“
„Du fehlst mir!“ Christian ballte die rechte Hand zur Faust, holte aus und schlug mit Urgewalt … in die Tischplatte.
Als sei nichts Besonderes passiert, ließ er sich auf den Stuhl fallen. Wie viele Möbel bestand auch die Tischplatte aus dem, was man in der DDR ‚Presspappe‘ nannte: Oben und unten Furnier und dazwischen mit Leim verstärkte Pappe statt echtem Holz. Christians Faust hatte ein kopfgroßes Loch darin hinterlassen.
Ohne eine Miene zu verziehen, zog er einen fingerlangen Splitter aus der Haut über seinem Mittelfingerknöchel „Das hast du schon immer, seit Mutter weg ist. Aber das interessiert dich ja nicht. Den zweiten Teil können wir uns dann auch sparen, denn es heißt immer noch: die Stasi oder ich. Du wirst dich entscheiden müssen.“
„Du bist so ein sturer …“ Sven unterbrach sich, als er begriff, dass Christian zum ersten Mal seit vielen Jahren seine Gefühle ihm gegenüber preisgegeben hatte. Außerdem stimmte nicht, dass Christian stur war. Er war … unbeirrbar. Wie damals, als er sich das Lesen beigebracht hatte in einem Alter, in dem andere Kinder noch im Sandkasten gespielt hatten, arbeitete er offenbar an einem Ziel und Sven musste nach diesem Ausbruch nicht lange raten, welches das war.
„Willst du zum Mörder werden?“, stieß er hervor.
Böse lachte Christian auf. „Dann wäre ich nicht besser als …“ Er stockte kurz, schüttelte den Kopf und setzte fort: „… derjenige, der Mutter umgebracht hat. Nein. Ihn identifizieren, unwiderlegbare Beweise beschaffen und dann vor Gericht stellen.“
„Selbst wenn du bis dahin kommt … wenn du mit deinem Verdacht recht hast … was glaubst du wohl, was dann passieren wird?“
„Na, das lässt aber tief blicken, Genosse Major. Halt mich nicht für einen Dummkopf, ich weiß, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann.“
„Was soll dann das Ganze? Willst du unbedingt gegen die gleichen Wände rennen wie …“ Er unterbrach sich gerade noch rechtzeitig, um Christian nicht doch noch Erklärungen geben zu müssen, die er ihm jetzt noch nicht geben wollte.
Den Kopf gebeugt, starrte Christian auf seine Stiefel. „Jedes bisschen von dem, was Großmutter über dich erzählt hat, ist in meinem Kopf eingebrannt, jede Andeutung, jede Vermutung, jedes halbe Wort und es hat lange gedauert, bis ich die Steine des Puzzles zusammensetzen konnte. Das, auf dem ‚Sven Oldenburg‘ draufsteht.“ Er hob den Kopf und hielt Svens Blick fest. „Du musstest aufgegeben, nicht wahr?“
Sie sahen sich an und etwas geschah zwischen ihnen und wenn es nur das war, dass Sven sich plötzlich nicht mehr anstrengen musste, Christians Blick standzuhalten.
„Es passiert viel in der Welt im Moment,“ sagte Sven schließlich. „Niemand kann voraussagen, wie sie in einem Jahr aussehen wird. Du machst deine Ausbildung hier zu Ende und in einem halben Jahr führen wir dieses Gespräch noch einmal, aber zuhause.“
Es hörte sich wie eine Festlegung an. Christian hob die Augenbrauen und Sven korrigierte sich. „Sind wir empfindlich heute? Aber gut … würde ich das gerne … in unserem Zuhause fortsetzen mit dir.“
Nach einer kleinen Pause murmelte er: „Ich fasse es nicht. Du hast mich eben die ganze Zeit veräppelt? Von wegen der Beste der Besten und Stolz und so?“
„Trainiert. Die Kampftaktik der Wölfe studiert man am Besten in ihrem Rudel und einige hier haben ziemlich scharfe Zähne.“
Sven schluckte und es machte ihm nichts aus, dass sein Sohn es sah. Christian hatte einen Plan gehabt und ihn fast vier Jahre lang durchgehalten, ohne auch nur einen einzigen Fehler dabei zu machen. Sogar seinen Vater hatte er getäuscht. Sven war sich nicht sicher, ob er selbst die Kraft dazu gehabt hätte. Ungläubig schüttelte er den Kopf. „Wann ist dir denn das eingefallen?“
„Erinnerst du dich noch an den Morgen, an dem du mich in Markgrafenheide abholen musstest, weil ich eine Nacht in der Zelle gesessen hatte? In jener Nacht hat mir eine schöne Frau den Unterschied zwischen einem Wunsch und einem Ziel erklärt und was man tun muss, um es zu erreichen.“
Sven konnte nur das Falsche denken. Mit gespielter Entrüstung sagte er: „Du warst erst fünfzehn!“
Christian grinste. „Und voll mit Testosteron.“
Sie standen sich gegenüber, Christian hatte demonstrativ unmilitärisch beide Hände in den Hosentaschen versenkt, Sven mit einem Lächeln im Gesicht. Eben noch so etwas wie blutsverwandte Feinde, wussten sie plötzlich nicht mehr, wie sie miteinander umgehen sollten. Die Zeit, in der der kleine Junge seinen Papa um Rat gefragt und der Vater immer eine richtige Antwort gehabt hatte, war so lange her, dass sie sich nicht mehr daran erinnerten. Sie wussten nicht mehr, wie es gewesen war, als ihre Herzen noch jeden Tag Besuchszeit gehabt hatten.
Christian räusperte etwas aus seiner Kehle, was da nicht hingehörte. „Denk nicht, dass jetzt einfach wieder alles gut ist.“
„Komisch, das hatte ich auch gerade sagen wollen. Lass uns das auf fünf mal fünf Metern ausdiskutieren, wenn ich wieder zurück bin. Hoffentlich hast du meine Boxhandschuhe noch nicht entsorgt.“
Christian musterte Sven. „Vielleicht mache ich es ja noch, damit ich dir nicht so weh tun muss.“
„Maulheld!“ Sven lachte. Fast sofort wurde er wieder ernst. Er blickte zur Uhr. „Unsere Zeit ist wohl abgelaufen.“ Plötzlich traute er seiner Stimme nicht mehr. Schnell ging er zur Tür.
Hinter ihm sagte Christian: „Ich denke, sie könnte auch gerade erst beginnen. Pass auf dich auf … Paps.“