Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
Mit einem sanften roten Glühen kündigte die Sonne ihr Erscheinen über der Ostsee an. Albina richtete ihren Blick dorthin, wo in wenigen Minuten der Rand der Sonne scheinbar aus dem Wasser auftauchen und der Erde Licht und Wärme spenden würde, wie sie das seit mehr als drei Milliarden Jahren getan hatte. Leben wäre ohne sie undenkbar, auch wenn es in geologischen Zeiträumen betrachtet, jung und das der Menschen nur einen Wimpernschlag alt war. Würde man das Leben auf der Erde in einem Buch mit eintausend Seiten dokumentieren, wären die ersten siebenhundert Seiten eine Geschichte über Einzeller. Erst auf Seite neunhundertsechzig wäre der Landgang des ersten Fisches verzeichnet. Die gesamte Geschichte des Menschen selbst würde auf diesen eintausend Seiten gerade mal ausreichen, um auf der allerletzten Seite einige wenige Zeilen zu füllen.
Die Angst, dass das letzte Wort der letzten Zeile im Buch des Lebens am sechzehnten Juli 1945 begonnen worden war und es Auslöschung hieß, Selbstmord einer ganzen, vorgeblich intelligenten Spezies, ließ sie seit damals nur noch selten durchschlafen. Die meisten Menschen erinnerten sich an ihre Vergangenheit und träumten von einer lichten Zukunft. Sie erinnerte sich an die Zukunft und deren Schrecken war es, der sie so manche Nacht mit jähem Schrei aus dem Schlaf fahren ließ.
Als junge Kernphysikerin und unter falschem Namen war sie dabei gewesen damals, als auf dem Gelände der White Sands Missile Range in der Nähe der Stadt Alamogordo in New Mexico unter dem Namen Trinity-Test der erste Atombombenversuch der Menschheit stattgefunden hatte. Die Detonation war so gewaltig gewesen, dass alle Seismographen rund um die Erde die Schockwellen aufgefangen hatten. Selbst kilometertief unter dem Eis der Antarktis hatten Messgeräte und auch Augen und Ohren das künstliche Beben registriert.
Es hätte das Tor zum Fortschritt sein können, zu Energie ohne Ende und zu einer blühenden Welt. Doch nur knapp einen Monat später, am sechsten August, als die Bombe über Hiroshima detoniert war und achtzigtausend Menschen im Bruchteil einer Sekunde verglüht waren durch den simplen Befehl von Harry S. Truman, dem damaligen amerikanischen Präsidenten, hatte Albina begriffen, dass sie stattdessen am Tor zur Hölle mitgebaut hatte. Die Menschen lernten nicht nur nicht aus ihren Fehlern, sondern sie wiederholten sie auf einer höheren, noch bedrohlicheren Stufe.
Es klopfte an ihre Tür. Sie schüttelte die Erinnerung ab, rückte die weiße Kapitänsmütze auf ihren grauen Haaren zurecht und reckte sich, dass ihre alten Gelenke knackten. „Herein!“, fauchte sie und fragte sich im gleichen Moment, woher sie wusste, wer vor ihrer Tür stand. Andererseits war die Auswahl derer, die morgens um fünf an ihre Tür klopfen würden, nicht allzu groß. Hätte es etwas auf der Brücke gegeben, hätte man sie über das Intercomm gerufen.
„Sie schläft.“ Geräuschlos schloss der Schiffsarzt die Tür. „Sie hat nach dir gefragt. Willst du nicht wenigstens einmal nach ihr sehen?“
„Wenn ich wissen will, wie sie aussieht, muss ich nur in den Spiegel gucken!“
Auch wenn er es als Privileg betrachtete, dass sie ihm gegenüber ihre Gefühle offenbarte, machte er doch das gleiche Gesicht, das auch ein Eiswürfel in seinem Hemdkragen hervorgerufen hätte. Er zwang sich zur Ruhe. „Welchem mir nicht bekannten Umstand verdankt meine Patientin deinen Zorn?“
Harsch widersprach sie: „Sie ist keine Patientin, sie ist nicht einmal …“ Sie winkte ab. „Sie ist eine Investition, mehr nicht.“
„Für die du alles riskiert hast, um sie zu retten.“ Ein nachsichtiges Lächeln kräuselte die Lippen des Schiffsarztes.
Ihr Ton wurde noch schärfer. „Sie hat gepfuscht. Der von ihr gelegte Brand im Laborkomplex mag vielleicht alle Unterlagen und Forschungsergebnisse vernichtet haben, aber Boris Orstchov hat überlebt und offenbar die Verwirrung genutzt, um sich nach Oslo abzusetzen. Vor einer Stunde kam die Nachricht herein. Er wird dort neue Herren finden und wieder von vorne anfangen. Nicht genug damit, liegt irgendwo in der Ostsee ein nicht detonierter Torpedo herum, dessen Ladung ein hochaggressiver Kampfstoff ist, und ich wage nicht einmal, mir auszumalen, was geschieht, wenn ihn die falschen Leute finden. Unser Schiff ist durch die Rettungsaktion kompromittiert worden, ich ebenfalls und damit auch alles, was ich in den letzten fünfunddreißig Jahren aufgebaut hatte. Viel mehr Schaden hätte sie nicht einmal mit voller Absicht anrichten können.“
„Sie ist Wissenschaftlerin, keine Terroristin,“ erwiderte er vorsichtig. „Und dass es offenbar keine Toten gab, zeugt für mich von ihrer Umsicht. Du solltest stolz auf sie sein.“
„Ach, tatsächlich?“ Sie drehte den Kopf und der Blick, den sie ihm zuwarf, hätte Stahl Blasen werfen lassen. „Wir sind erledigt und können nach Hause gehen. Wo auch immer wir jetzt noch eins haben.“ Verbittert wies sie auf den Stapel von Papieren, den sie bei Larissa gefunden hatten. „Und das Einzige, was wir dafür bekommen haben, sind Formeln. Ostchovs Büchse der Pandora!“
Mit jedem Wort war sie lauter geworden, jetzt schrie sie: „Sie sollte den Kampfstoff vernichten und den Kopf, der ihn ausgebrütet hat, abschlagen! Sie hat sich geweigert! Mir ins Gesicht gesagt, dass sie keine Mörderin sei! Als ob das Ding so etwas beurteilen könnte! Er ist ein Ungeheuer und so etwas zertritt man! Da, da draußen … schau hin!“
Ihn mit einer Hand an der Schulter packend, wies sie mit der anderen auf die gerade aufgehende Sonne. „Sind zwei Feuerbälle und Millionen Tote nicht genug?!“
Sie stieß ihn weg, riss die Papiere vom Tisch und warf sie in die Luft. „Was ist das hier? Das Ergebnis von drei Jahren Arbeit an einem Monster unter freundlicher Mithilfe der Besatzung der Time Bandit? Sollen wir uns die Wände damit tapezieren oder was? Wofür …“ Sie wankte und griff nach der Lehne ihres Sessels vor dem Schreibtisch.
„Ruhig, ganz ruhig. Du bist keine sechzig mehr.“ Er streckte den Arm aus, um sie zu stützen, doch sie zischte: „Lass mich!“, und ließ sich in ihren Sessel sinken. Die Arme auf die Tischplatte gelegt, starrte sie mit gesenktem Kopf auf das Wurzelholz.
Er hockte sich hin, sammelte die verstreuten Papiere ein und dachte dabei an das Gespräch, das sie vor langer Zeit hier in diesem Raum mit ihm geführt hatte. „Onkologie, Genetik, viele Jahre Ärzte ohne Grenzen – Sie haben eine beeindruckende Reputation,“ hatte sie gesagt. „Ich habe ein Schiff voller Forschungslabors, die leider immer mehr unterbesetzt sind, ebenso wie meine bestens ausgestattete medizinische Abteilung. Ich kann Sie im nächsten Hafen absetzen. Oder Sie entschließen sich, bei uns zu bleiben.“
„Zu meiner beeindruckenden Reputation, wie Sie es nennen, gehört der immer wieder auftretende Drang, mich umzubringen. Wie Sie ja wohl mitbekommen haben, als sie mich herausgefischt haben. Oder dachten Sie, ich wollte die erste Atlantiküberquerung als Schwimmer schaffen? Das passiert, wenn man jeden Tag die Ergebnisse dessen behandeln muss, was Menschen anderen Menschen antun,“ hatte er geantwortet. „Meine Mitgliedschaft in ihrer Besatzung wird dementsprechend höchstwahrscheinlich nur kurz sein. Aber sei es drum: Was wäre meine Aufgabe hier?“
Sie hatte ihn lange angesehen und er hatte gewusst, dass sie nach einer Formulierung gesucht hatte, die es ihm ermöglichte, tatsächlich von Bord zu gehen, ohne ihr Geheimnis zu verraten. Schließlich hatte sie gesagt: „Unsere Auftraggeber erwarten von uns, dass wir Einfluss auf die Entwicklung von Waffen nehmen. Ihre Erprobung verzögern, sabotieren, wenn nötig auch Forschungsunterlagen vernichten.“
„Waffen sind nicht gefährlich. Die Köpfe, die sie ausbrüten, sind es. Die müssten abgeschlagen werden. Aber dann wären Ihre Auftraggeber auch nicht besser.“
„Deswegen töten wir nicht, wir lassen nicht töten und wir schmieden auch keine Mordpläne. Niemals und unter keinen Umständen, nicht einmal, wenn Hitler oder Truman wiederauferstehen würden.“
„Interessant. Ost oder West?“
„Macht es für Sie einen Unterschied, ob die Kugel, die sie tötet, die Krankheit, der sie erliegen, oder der Kampfstoff, der ihre Augen zerfrisst, in der Sowjetunion oder in England hergestellt wurde?“
„Ihr nicht genannt werden wollender Philanthrop heißt nicht zufälligerweise Gott?“, hatte er launig gefragt und dann hinzugefügt: „War ein schlechter Witz. Streichen Sie den. Der macht immer noch Urlaub nach der Erschaffung des Menschen oder hat sich ein neues Universum gesucht, weil er das Elend nicht mehr sehen konnte. Trotzdem: Als Spion tauge ich nicht, selbst, wenn es um eine gute Sache geht. Ich bin Arzt, ich zerstöre keine Leben, ich rette sie.“
„Warum tun Sie es dann nicht auf meinem Schiff? Wir versuchen, ein winziges bisschen dafür zu tun, dass die Menschen ein wenig länger auf diesem wunderschönen Planeten überleben. Und nicht nur die Menschen.“
„Ein Schiff gegen die ganze Welt?“ Er hatte gelacht und sich bedeutungsvoll in ihrer Kabine umgesehen. „Ein Schmetterling in einem Tornado.“
Sie war wegen seiner Skepsis nicht einmal verstimmt gewesen. „Mit dem Schmetterling liegen Sie gar nicht so falsch, Nicos. Falls Sie schon einmal etwas von nichtlinearen, dynamischen deterministischen Systemen gehört haben. Was würde besser zu dem Chaos, das wir Leben nennen, passen als die Chaostheorie, nach der der Flügelschlag eines Schmetterlings die ganze Welt zu erschüttern vermag? Edward N. Lorenz ist ein kluger Mann.“
„Wenn Sie es sagen. Ich nehme an, eine Probezeit gibt es nicht?“
Sie hatte nur gelacht, als sie ihm die Hand gereicht hatte, und er hatte festgestellt, dass er es mochte. Und er mochte es immer noch, obwohl sie mit dem Mordauftrag gegen ihren eigenen Kodex verstoßen hatte. Sie war gar nicht wütend auf Larissa und wenn doch, dann nur, weil sie die Projektionsfläche von Albinas Zorn auf sich selbst war.
Er richtete sich auf, legte den Stapel Papiere in die Mitte des Tisches und reichte ihr sein Taschentuch. „Die Luft ist ziemlich trocken hier, das reizt die Augen. Deine sind schon ganz rot. Ich würde sogar sagen, ein wenig nass.“
„Das ist nicht wahr!“, fauchte sie, nahm es aber trotzdem, tupfte sich ihre Augenwinkel, dann knüllte sie es in der Hand zusammen und erlaubte sich eine Bemerkung, die weder zu Albina R. Deveraux, noch zum Kapitän eines Schiffes mit mehr als einhundert Männern und Frauen passte, von den auch nach vielen gemeinsamen Jahren nicht einmal eine Handvoll es wagten, sie unter vier Augen zu duzen: „Sie ist ein blödes Ding!“
„Was denn nun? Ding oder Investition?“
„Beides!“
Er schmunzelte. „Und warum hast du es – ich bevorzuge ja ‚sie‘ – dann gerettet?“
Niemand hatte von dem Befehl gewusst, auch Nicos nicht und wenn Albina Larissa hätte ertrinken lassen, hätte auch niemand davon erfahren. Er konnte sich die Antwort denken, doch er wollte es von ihr hören.
„Nicht, dass ich das nicht in Erwägung gezogen hätte.“ Sie tupfte sich noch einmal die Augenlider mit seinem Taschentuch, diesmal auffallend gründlich. „Es war mein Spiegel, weißt du? Die Frau, die ich darin sah, war genau so geworden, wie die, die sie bekämpfte. Ich hasste sie und da wusste ich, dass Larissa jedes Risiko wert wer. Ich habe nicht sie gerettet, sondern mich. Dieses blöde Ding!“ Sie atmete tief ein und straffte sich. „Wehe, wenn du es ihr sagst!“
„Ich glaube, du unterschätzt sie immer noch.“
„Ich kenne Deine Meinung, aber ich bin mir da immer noch nicht sicher, selbst jetzt noch nicht.“
„Sie hat eine unglaubliche Intelligenz, ist sich ihrer selbst bewusst und besteht auf ihrem freien Willen. Damit ist sie mehr Mensch als neunzig Prozent von denen, die sich selbst so nennen, aber nichts weiter als Schafe oder Wölfe sind. Ich bin damals bei Ärzte ohne Grenzen den Ergebnissen von soviel Grausamkeiten begegnet, die von Menschen begangen wurden, dass ich eines weiß: Mensch wird man nicht durch seine Geburt, sondern erst durch sein Handeln und eine bessere Bestätigung für diese These als Larissa kann ich mir nicht vorstellen. Doch mit deinem Mordauftrag hast du ihr verboten, das alles zu benutzen. Das ist wie … wie … als hätte sie ihre Geschlechtsorgane, ihre Intelligenz und ihre Moral nur zur Zierde bekommen, aber nicht, um Freude dabei zu empfinden, wenn sie ein Mann berührt und sie mit ihm schläft.“
Ein kleines Grinsen schlich sich auf sein Gesicht und er sah sie mit viel Zärtlichkeit an. Bevor sie es bemerken konnte, wurde er wieder sachlich. „Intelligenz und freier Wille gehören zusammen, man darf sie weder trennen noch unterdrücken. Das ist Sklaverei. Davor habe ich dich schon damals gewarnt. Jeder Sklave rebelliert irgendwann gegen seinen Herren. Gerade du solltest das doch wohl wissen.“
Albina zog die Stirn kraus. „Was soll das heißen?“
Er wies mit der Hand auf den hellen Streifen über dem Meer. „Korrigiere mich, aber hast du Stalin damals nicht den Gehorsam verweigert, weil du wusstest, dass er deine Arbeit in Los Alamos benutzt hätte, um selbst die Bombe bauen zu können?“
„Irgendwann lasse ich dir doch noch den Mund zunähen,“ drohte sie.
Lässig winkte er ab. „Und was, bitteschön, willst du dazu benutzen, wenn die einzigen fähigen Hände für so etwas auf diesem Schiff meine sind?“
„Einen Presslufttacker?“, schlug sie vor. „Rostige Krampen? Das kann dann auch einer von den Schiffsingenieuren erledigen. Aber lass uns hier nicht herumalbern. Wie du schon sagtest: Wir sind keine sechzig mehr.“ Sie wies mit der Hand auf die Dokumente. „Das da ist dann zwar nicht die Büchse der Pandora, aber was machen wir jetzt damit? Auf diesem Schiff gibt es keine Waffen und ich will auch keine auf Papier hier haben.“
„Ist es denn eine Waffe?“ Er zog die Schultern hoch. „Wärest du einmal auf dem Olymp gewesen, wüsstest du, dass die Geschichte von Pandora eine ganz andere Bedeutung hat, als die meisten Menschen glauben.“
Eine Zornfalte erschien auf ihrer Stirn. „Sei nicht so überheblich, nur weil ich in einem Dorf am Kap Deschnjow am nördlichen Polarkreis geboren worden bin und nicht in Athen wie du! Die Eisberge da sind nicht viel kleiner als dein Olymp.“
„Dann erzähl mir die Geschichte.“
„Du bist nicht in der Position, mich zu schulmeistern!“
„Habe ich deinen Stolz getroffen?“ Sie muss eine stolze Furie gewesen sein, schoss es Nicos durch den Kopf. Er stand auf, damit sie sein Lächeln nicht sah und stellte sich wie vorher ans Fenster. Aus dem roten Glühen am Horizont verirrte sich ein erster Sonnenstrahl in die Kabine. Reinweißer Calacatta Vagli-Marmor an den Wänden, von zarten Bernstein- und Goldadern durchzogen, leuchtete auf und der ganze Raum schien plötzlich in Flammen zu stehen. Das Wasser spiegelte die Sonnenstrahlen und selbst die Luft schien in den Lichtkaskaden ein ganz besonderes Leuchten zu besitzen. Mit jeder Sekunde gewann die aufsteigende Sonne an Kraft und verwandelte die Kapitänskajüte in das strahlenfunkelnde Innere eines Brillanten.
„Wie wunderbar!“, flüsterte der alte Grieche und betrachtete mit offenem Mund voller Staunen das Spiel des Lichts auf der Kommandobrücke.
In seinem Rücken sagte Albina trocken: „Jede Medaille hat immer zwei Seiten und nur, wenn man beide sieht, kann man die richtigen Entscheidungen treffen. Sie spendet Wärme und damit Leben, ja, aber in ihr lodern Kräfte, für deren Beherrschung wir nicht reif sind.“
„Und es niemals sein werden, denkst du. Vielleicht hast du sogar recht.“ Eine Wolke schob sich vor die Sonne und er begann mit dem ihm eigenen ironischen Unterton zu erzählen: „Prometheus klaute den Göttern das Feuer und brachte es den Menschen. Zur Strafe ließ der Göttervater Zeus ihn an die Felsen des Kaukasus ketten und jeden Tag von einem Adler seine Leber verputzen. Für die Menschen hatte sich Zeus eine andere Strafe einfallen lassen. Der Schmied Hephaistos erschuf dazu aus Lehm eine wunderschöne Frauengestalt und Zeus hauchte ihr Leben ein. Aphrodite schenkte ihr holdseligen Liebreiz, Athene schmückte sie mit Blumen, und Hermes verlieh ihr eine bezaubernde Sprache und den Namen Pandora. Dann drückte Zeus ihr eine Büchse in die hübsche Patschhand, die mit allen Übeln der Welt und der Hoffnung gefüllt war, und hieß die Schöne Epimetheus, den Bruder des Prometheus, zu verführen. Prometheus warnte zwar seinen Bruder, Geschenke des Zeus anzunehmen, doch Epimetheus ignorierte die Warnung und heiratete Pandora. Natürlich öffnete sie in der Hochzeitsnacht die Büchse, schließlich war sie eine Frau und deren zweiter Name ist Neugier. Es geschah, wie Zeus es geplant hatte: Alle Laster und Untugenden schrien Halleluja, gaben Fersengeld und machten sich unter den Menschen breit. Zu Tode erschrocken, schlug Pandora den Deckel wieder zu und so blieb die trantütige Hoffnung drin, weil sie immer so lange braucht, bis sie zu Potte kommt. Die Welt wurde ein trostloser Ort, weil alle Laster und Übel jeden Tag Party feiern, aber die Hoffnung für immer in Pandoras Büchse weggesperrt ist.“
Er tippte ihr auf die Schulter. „Und jetzt liegt sie da vor dir auf dem Tisch. Ist das nicht witzig?“
Sie gab mit ihren Fingern ein zorniges Trommelkonzert auf der Tischplatte. „Nur weil du meine Tränen gesehen hast, berechtigt dich das noch lange nicht, dich über mich lustig zu machen. Hast du das verstanden, Nicos Venizialos? Nichts an dem, worüber wir uns gerade unterhalten, ist in irgendeiner Form lustig. Gar nichts!“
Nicht im Geringsten eingeschüchtert, erwiderte er: „Und trotzdem wirst du gleich lächeln.“
Das Trommelkonzert ging in ein Stakkato über und er sagte schnell: „Wahrscheinlich ist es so einfach, dass niemand drauf kommt. Wir suchen immer das Komplizierte. Du hast es selbst gesagt: Die Hoffnung ist in Pandoras Box eingesperrt. Alles, was die Menschen tun müssen, ist sie zu finden. Das ist die Erkenntnis aus der Geschichte.“
Kalt sagte sie: „Siehst du mich lächeln?“
Er seufzte, dann zeigte er auf die Papiere auf dem Tisch. „Ich habe sie mir angesehen, während ich an ihrem Bett gesessen habe. Das sind nicht die Unterlagen von Orstschov, sondern die von Larissa. Ich weiß nicht, warum du den Kampfstoff von Orstchov für so gefährlich hältst, dass du deswegen alle deine Prinzipien über den Haufen wirfst, aber eines weiß ich: Mit dem, was in diesen Unterlagen steht, kann er ihn sich in die Haare schmieren.“
„Das heißt?“
„Larissa hat an einem Medikament gegen Leukämie geforscht und dabei offenbar ein Gegenmittel für die Wirkung von Orstchovs Kampfstoff gefunden. Das hier ist es.“
Er schob den Stapel zu ihr hinüber. „Die Büchse der Pandora. Öffne sie, und du findest die Hoffnung darin.“
Er erhob sich. „Als dein Schiffsarzt darf ich dir empfehlen, noch ein wenig zu schlafen. Ich denke, du wirst dich danach etwas besser fühlen. Ich schau noch einmal nach unserem Wunderkind, dann lege ich mich auch hin.“
„Warte!“ Es war ein Befehl, schnell und scharf ausgesprochen, wie sie es schon unzählige Male getan hatte, und trotzdem klang noch etwas darin, was Nicos – nein, noch niemand auf diesem Schiff – je von Albina gehört hatte: eine Spur von Unsicherheit.
Sie knetete ihre Hände. „Ich komme mit. Aber nicht so.“
Eher er etwas sagen konnte, verschwand sie im Bad. Als sie zurückkehrte, trug sie ihre Haare offen, hatte sich leicht geschminkt und sah so frisch aus, wie sie jeder hier auf dem Schiff kannte. Sie ging zu ihrem Schreibtisch, öffnete eine Tür und gab einen Code an dem Kombinationsschloss dahinter ein. Aus dem Geheimfach nahm sie eine Schatulle, verschloss Safe und Tür wieder und reichte sie Nicos. „Ich werde es ihr sagen. Sie muss wissen, was sie …“ Sie unterbrach sich, seufzte, schüttelte den Kopf und setzte fort: „Nein, wer sie ist. Ich denke, du hast wohl recht. Nicht die Art unserer Erschaffung definiert, ob wir Menschen oder Tiere werden, sondern das, was wir tun.“
Langsam klappte er das kleine Kästchen auf. Eine silbern glänzende Kette lag darin. Sie sah alt aus und doch gleichzeitig, als wäre sie gestern erst angefertigt worden. Jedes ihrer Glieder war ein filigran gearbeiteter, winziger Drache, der sich in seinen Schwanz verbissen hatte. Ein kleiner, vielleicht daumennagelgroßer, elfenbeinfarbener Stein bildete den Anhänger und Nicos wusste, dass ein sanftes rotes Licht in ihm zu pulsieren beginnen würde, sobald die Kette sich um den Hals von Larissa geschlossen hatte.
Albina nahm ihm das Kästchen wieder aus der Hand und klappte es zu. „Und jeder Mensch braucht ein Zuhause.“
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Fast lautlos glitt die Time Bandit II durch den Oslofjord. Ein frischer Wind wehte über das Panomaradeck und Albina schlang sich den groben Wollschal enger um Kopf und Hals.
Larissa stellte sich neben sie. „Du bist ein Unmensch!“
Albina lachte leise. „Du wärst erstaunt, wenn du wüsstest, wie recht du hast.“
„Habt ihr mir etwas verschwiegen?“ Sie seufzte ein wenig theatralisch. „Natürlich habt ihr das. Alles zu seiner Zeit, sagt Nicos immer wieder. Nur nicht, wann diese Zeit ist.“
Albina nickte zu einer kleinen Insel hinüber, an der sie gerade vorbeifuhren. „Das ist die Insel Håøya da drüben und auf ihr die Festung Oscarsborg. Sie ist über einhundertfünfzig Jahre alt, genau wie ihre drei Kanonen. Sie tragen die biblischen Namen Moses, Aron und Josva, sind museumsreifer Schrott und das waren sie auch schon vor vierzig Jahren, als das deutsche Kriegsschiff Blücher hier auftauchte, gefolgt von einer Flotte, um Oslo einzunehmen. Der Festungskommandant, der 65-jährigen Oberst Birger Kristian Eriksen, traf eine Entscheidung, von der er annehmen musste, dass sie ihn entweder vor ein norwegisches Kriegsgericht oder vor ein deutsches Erschießungskommando bringen würde: Er eröffnete ohne Befehl seiner Regierung das Feuer. Mit nur drei Schüssen, abgefeuert von zwei Rekruten und ihm selbst, haben sie die Blücher versenkt. Niemand, am allerwenigsten die übermächtigen Deutschen, hatten damit gerechnet, dass drei museumsreife Kanonen in einer über einhundert Jahre alten Seefestung genügen würden, den gerade erst in Dienst gestellten, schwer gepanzerten Stolz der deutschen Kriegsmarine auf den Grund des Oslofjords zu schicken und dass es so dem Festungskommandanten, gelingen könnte, seinem König die entscheidenden Stunden zu verschaffen, die Regierung und den Staatsschatz in Sicherheit zu bringen. Aber genau so ist es geschehen.“
Über das Gesicht Larissas huschte ein zärtliches Lächeln. „Wirst du alt?“
„Ich bin es. Aber was hat das damit zu tun?“
„Du versuchst, das Leben in Geschichten zu pressen. Aber das Leben ist anders, jeder Tag ist neu und gestern kommt nicht wieder.“
„Natürlich nicht. Aber wir können trotzdem aus ihnen lernen.“ Auch Albina lächelte und wenn darin ein wenig Trauer war, so taten beide, als sähen sie es nicht. „Der Oberst hatte nichts weiter, als den Glauben, das Richtige zu tun. Er wusste, dass Zeit in jedem Krieg der entscheidende Faktor ist. Etwas anderes haben wir auch nicht, Larissa. Nichts weiter, als die Hoffnung, das Richtige zu tun und Zeit zu gewinnen. Mehr hatten wir nie. Nicos hat recht, wenn er sagt, dass wir nur ein Schmetterling in einem Tornado waren.“
Waren … Larissa lehnte den Kopf an Albinas Schultern. Ihr Äußeres hatte sich verändert, sie hatte eine neue Identität und eine Aufgabe: Ihr Serum zu entwickeln und Orstchov auf die Finger zu schauen. Die Time Bandit und ihre Besatzung waren aufgeflogen und würden verschwinden, nachdem sie Larissa in Oslo abgesetzt hatten. Sie wussten, dass Oberst Maximow ihnen auf der Spur war und wie lang der Arm des KGB war. Für die Biskaya war ein heftiger Sturm vorausgesagt worden und wenn er abflaute, würde alles, was von der Time Bandit übrig blieb, die Aufzeichnung ihres SOS sein. Larissa war auf sich gestellt.
„Es ist Zeit.“ Albina schob die Jüngere sanft von sich. „Du wirst schon klar kommen da draußen.“
„Natürlich.“ Larissa ging zur Treppe.
„Übrigens – von Oslo bis nach Warnemünde ist es nicht so weit.“
„Was meinst du?“ Larissa blieb stehen.
Albina lachte herzlich über den verblüfften Ausdruck im Gesicht Larissas. „Ich war einmal du, schon vergessen? Das Leben besteht nicht nur darin, eine Welt zu retten, die vielleicht gar nicht gerettet werden will. Ein bisschen Spaß gehört auch dazu.“
„Also bitte!“ Entrüstet winkte sie ab. „Er hat mich nur ein wenig beeindruckt. Er ist doch noch ein Kind.“
Albina schmunzelte. „Aus Jungen werden einmal Männer.“
Larissa nicht. Sie war plötzlich todernst. „Und was wird einmal aus mir, Albina?“
- Anfang
- Kapitel 1: Der vierte Schlüssel
- Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
- Kapitel 3: Die Unbesiegbare
- Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
- Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf
- Kapitel 6: Flachgelegt
- Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies
- Kapitel 8: Kaltes Herz
- Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald
- Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht
- Kapitel 11: Gezeitenwechsel
- Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
- Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz
- Kapitel 14: Der im Regen tanzt
- ...
- Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge
- ...
- Kapitel 32: Das Herz der Sterne
- ...
- Nachwort