Kapitel 14: Der im Regen tanzt


Herr, die Not ist groß!
Die ich rief, die Geister
werd ich nun nicht los.
(Johann Wolfgang von Goethe: Der Zauberlehrling)

Der November neunzehnhundertneunundachtzig war ein Monat der Wunder. Das Volk war auf die Straße gegangen und hatte das Gebäude, das Parteisoldaten wie Oberst Bernard Müller und ein paar Millionen Mitläufer errichtet hatten, zum Einsturz gebracht. Das Ministerium für Staatssicherheit und die Nationale Volksarmee bereiteten sich auf ihre Auflösung vor und ausgerechnet die fettesten Ratten waren es, die am schnellsten das sinkende Schiff verließen und sich in Sicherheit brachten, einige davon nur ein paar hundert Kilometer weiter im Westen, wo man sie mit offenen Armen empfing.
In aller Stille wurde Christian Oldenburg erst in Unehren aus der Armee entlassen, aber wenigstens als freier Mann und einen Monat später aus dem Lazarett.
Winfried Gneidsen sah ihn ein letztes Mal Weihnachten, am vierundzwanzigsten Dezember, an der Bushaltestelle vor dem Lazarett. Es war ein grauer Vormittag, die Wolken, der Himmel, ja selbst die Bäume schienen grau und der kalte Wind biss in jeden Zentimeter Haut. Geschützt vor dem Regen, warteten zwei Männer und eine Frau unter dem Überdach aus rostigem Wellblech auf den Bus. Christian stand auf eine Krücke gestützt mit einem Seesack über der Schulter neben der Bushaltestelle. Obwohl es nur drei Grad waren und ihm das Wasser in den Kragen seiner viel zu dünnen Jacke rann, machte er keine Anstalten, sich unterzustellen. Er blickte über die Kronen der Bäume auf der anderen Straßenseite hinweg, als nähme er nichts von dem wahr, was um ihn herum vorging. Trotzdem sagte er im gleichen Moment, in dem Winfried Gneidsen neben ihm verhielt: „Na, Doc? Wolltest du mir noch mal auf die Pelle rücken? Erzähl mir nich, dass das ein Zufall iss.“
Natürlich war es keiner. Winfried hatte sich, so gut es ging, über Christians Zustand auf dem Laufenden gehalten. Den Entlassungstermin zu erfahren, hatte ihn nur ein freundliches Lächeln für eine Schwester gekostet. „Nenn es Schicksal“, antwortete er.
„Schicksal, hm?“ Christian schürzte die Lippen. Schicksal war nur für ihn nur eine Ausrede für Feiglinge, die kein Rückgrat hatten. Die Typen, die immer jemand anderem die Schuld in die Stiefel schieben mussten für ihr Versagen. Alle anderen waren schuld, nur sie nicht. Er hatte nicht gerade ein vorbildliches Leben gehabt und genau betrachtet, hatte das Leben ihn ziemlich hart erwischt. Sicher war es nicht so, wie es hätte sein können, aber er hatte nicht vor, die Schuld daran auf seinen Vater, seine Mutter, Müller oder die Stasi abzuwälzen. Er hatte überhaupt nicht vor, eine Schuldfrage zu diskutieren. Die Vergangenheit war nicht mehr zu ändern und seine Zukunft hatte er selbst in der Hand. Er akzeptierte kein Schicksal. Heute nicht und er war sich sicher, dass er es auch in Zukunft nicht tun würde.
„Keine Antwort ist auch eine.“ Winfried wechselte seinen Schirm in die andere Hand.
„Du willst wissen, was das alles zu bedeuten hatte? Damit du deinen Kindern eine schlechte Gute-Nacht-Geschichte erzählen kannst?“
„Nein. Ich wollte mich nur von dir verabschieden.“
„Wenn du nicht besser Lügen lernst, wird das nix mit deinem Psychologiediplom.“ Er machte eine ausholende Bewegung mit seinem freien Arm. „Die Menschen da draußen brauchen einen guten Arzt, keinen erfolgreichen. Nur wenn du den Unterschied verstehst, wirst du kein Untertan werden, keiner von viel zu vielen Diederich Heßlings. Wenn du ihre Ängste behandeln willst, darfst du selbst keine haben.“
Seien Sie also auf einiges gefasst, wenn Sie mit ihm reden und vor allem – unterschätzen Sie ihn nicht. Das hatte Müller über diesen Mann gesagt und jetzt endlich begriff Winfried, was der damit gemeint hatte. Er schwieg und irgendetwas in ihm wünschte sich, der Bus möge endlich kommen.
„Danke für die Belehrung, Herr Professor.“
Winfried war verstimmt und schwieg. Christian auch und so standen sie im Regen, ohne das auch nur ein einziges Wort zwischen ihnen fiel. Das Schweigen wurde drückend und Winfried fragte, nur um es zu beenden: „Was wirst du jetzt tun? Rübergehen?“
Es war die Frage, die in dieser Zeit viele tausend Menschen sich und anderen stellten. Der Eiserne Vorhang war gefallen und im Westen wartete das gelobte Land, in dem Milch und Honig flossen.
„Wozu? Iss überall dasselbe, nur der Anstrich sieht anders aus. Wo Partei draufsteht, ist auch Partei drin und es ist völlig wurscht, ob hier oder drüben.“
„Aber …“
„Kein Vertun! Mach die Augen auf, Mann!“
„Du bist … ach, was solls …“ Winfried winkte ab. „Vielleicht hast du recht. Sie haben mich verhört, wollten alles ganz genau wissen. Sogar einen Phantomzeichner haben sie mir vor die Nase gesetzt wegen der Frau bei dir.“
„Es waren viele bei mir, wenn ich mich recht erinner, meistens mit weißem Kittel. Nur Blumen haben sie nich mitgebracht. Schade eigentlich.“
Niemand hatte ihm erklärt, was in jener Nacht geschehen war, er hatte es nicht einmal mitbekommen. Er hatte tief und fest geschlafen.
„Mein Kopf ist eine Bibliothek,“ setzte er gedankenvoll fort, „die vollgestopft ist mit Wissen. Ein paar eingestaubte Träume sind auch noch dabei, ganz hinten, in irgendwelchen Gehirnwindungen und irgendwann will ich auch noch mal im Regen tanzen. Heißt: Mir stehen alle Wege offen, wenn sie vielleicht auch nicht mehr lang sein werden. Wofür würdest du dich entscheiden?“
„Für die Träume,“ antwortete Winfried.
„Keine Sekunde darüber nachgedacht, hm? Dein Professor wäre stolz auf dich. Es spricht sich so leicht aus. Was ist mit deinen Träumen? Hast du sie dir schon einmal genau angeschaut?“
„Das hat noch Zeit.“
„Und wann ist diese Zeit?“
„Erst einmal der Abschluss.“
„Es gibt immer einen Grund, seine Träume aufzuschieben.“
Winfried wurde wütend. Wie kam er dazu, sich von diesem Mann sein Leben vorschreiben zu lassen? Er fauchte: „Kluge Ratschläge erteilen kann jeder. Aber sie selbst befolgen?“
„Heißt?“
„Es regnet, du Maulheld!“
Christian blickte zum Himmel, als sähe er ihn zum ersten Mal.
„Tatsächlich.“ Mit einer geschmeidigen Bewegung ließ er den Seesack von seiner Schulter gleiten und hielt ihn Winfried hin. „Halt mal kurz. Nich runterfallen lassen!“
Winfried griff zu und Christian hinkte auf die Straße. Er stützte sich fest auf seine Krücke, beugte den Oberkörper ein wenig darüber und dann … dann begann er zu tanzen, mit geschlossenen Augen und tiefem Ernst im Gesicht. Langsam, zwei Schritte vor, einen zurück, dann wechselte er die Hand auf der Krücke, hinkte um sie im Kreis herum und dirigierte dabei mit der freien Hand ein Orchester, das nur er hörte. Den Leuten in der Bushaltestelle klappte die Kinnlade nach unten und er hörte erst auf damit, als ein blauer Wolga hinter ihm hupte. Schwer atmend hinkte er von der Straße und nahm Winfried den Seesack ab.
„Das wollte ich schon immer einmal machen.“ Aus dem Nichts lag plötzlich ein jungenhaftes Grinsen auf seinem Gesicht. „Mach nich so ein Gesicht, Doc. Hab wahrscheinlich ausgesehen wie ein bekiffter Tanzbär – na und? So iss das Leben, meins, deins und wenn ich‘s genau bedenke, das von jedem Menschen auf der Kugel, weißt? Gestern kannst nich mehr ändern und morgen kriegst vielleicht nich mehr auf die Reihe, weil ein Bus dich platt gemacht hat und du nur noch ein feuchter Fleck auf dem Asphalt bist. Also heute, man, heute! Heute zählt, weil es nich wiederkommt und es morgen schon wieder gestern iss. Heute schon eine Frau glücklich gemacht? Irgendjemanden oder wenigsten dich selbst? Gute Musik gehört? Kindern Schokolade geschenkt, dass sie verschmierte Gesichter haben? Doktor Braun eine Möhre in den Auspuff gestopft?“
Er rang um Atem, wankte hin und her und Winfried griff nach seinem Arm, um ihn zu stützen.
„Nicht!“, zischte Christian, plötzlich wieder Wut in den Augen.
Erschrocken ließ Winfried ihn los und machte einen Schritt zur Seite.
„´tschuldigung,“ grollte Christian. „Ich lass mich nur nicht gerne anfassen.“
Der blaue Wolga hatte ein paar Meter entfernt gehalten. Jetzt wurde die Fahrertür geöffnet, ein Mann in einer schwarzen Lederjacke stieg aus, öffnete die hintere Tür und winkte. Aufmerksam starrte Christian hinüber. Es war der gleiche Mann, der wie ein Schatten Dr. Ermakowa begleitet hatte.
„Das Leben steckt doch voller Überraschungen“, murmelte Christian. Staatsorgane fuhren Tschaika, Tatra oder Lada, Wolga fuhren nur als Taxis oder Dienstwagen hoher Staatsorgane.
Er wuchtete sich seinen Seesack auf die Schulter. „Was deine Frage betrifft: Sollte ich aus dem Wagen da lebend wieder aussteigen, werde ich Geschichte studieren und das ans Licht zerren, was man vor uns verstecken will. Und dann, irgendwann, das Rätsel um die Karte des Piri Reis lösen, solange ich noch die Zeit dazu habe. Aber wie auch immer, jeder Tag ist ein Geschenk, Winfried. Vergeuden wir ihn nicht. Ich nicht und du auch nicht. Frohe Weihnachten!“
Er hinkte zu dem Auto. Der Fahrer nahm ihm den Seesack ab und verstaute ihn im Kofferraum. Als Christian einsteigen wollte, schüttelte er den Kopf und wies auf dessen Krücke. Christian zuckte die Schultern und auch seine Krücke wurde im Kofferraum eingebunkert. Dann stieg er ein. Kaum hatte er die Tür geschlossen, rollte der Wagen an und verschwand im Regen, als sei er nie dagewesen.
Lange sah Winfried ihm nach. Er nahm an, dass die Zeit für Christians Pläne nicht mehr reichen würde. Nach allem, was er wusste, würde Christian nicht mehr viele Jahre vor sich haben.
Aber wer weiß, dachte er. Er hat dem Tod jetzt schon zweimal ein Schnippchen geschlagen. Es würde mich nicht wundern, wenn es ihm noch ein drittes Mal gelingen würde.
Er musste lachen und sein Zorn über die Belehrung, die der Psychologe in ihm gerade von einem Nichtmediziner erhalten hatte, verflog und er dachte, dass Gevatter Tod, wenn er viele solcher Kandidaten wie diesen Christian Oldenburg hatte, sich bald im Westen in die Schlange vor dem Arbeitsamt einreihen konnte.
„Frohe Weihnachten“, wiederholte Winfried laut, obwohl er alleine im Regen stand und fügte hinzu: „Alles Gute!“
Als er am Kontrolldurchlass zum Lazarett seinen Dienstausausweis vorzeigte, sah ihn der Posten seltsam an. Erst da merkte Winfried, dass er schon eine ganze Weile eine Melodie summte. Sie war einfach dagewesen und hatte sich wie ein Ohrwurm in seinen Kopf gefressen. Freude, schöner Götterfunken … die Ode an die Freude, die Christian Oldenburg bei seinem einsamen Tanz im Regen dirigiert hatte. Jedes Jahr hörte Winfried sie zu Weihnachten bei seinen Eltern.

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Alles an dem Mann auf der Rücksitzbank des Wolga war silbergrau: die Haare, der perfekt gepflegte Vollbart, der die Mundpartie verbarg, der Kragenpelz seines Wollmantels und sogar die kleinen Augen, deren Blitzen sich hinter den Falten in den dicken Fettwülsten davor verbarg. Wie ein vollgesogener Schwamm saß er da, blickte Christian an und der hatte Mühe, sich daneben auf die Rückbank des Wagens zu quetschen.
„Na, da bekommt der Begriff `Graue Eminenz` doch eine ganz neue Bedeutung,“ meinte Christian. „Moin.“
Der Mann lachte brummig. „Добрый день,“ tönte es von irgendwoher unter seinem Vollbart hervor. Christian zog fragend die Augenbrauen hoch und der Mann setzte hinzu: „Ich kümmere mich ein wenig um die Angelegenheiten von Mütterchen Russland in Berlin.“
Der Wagen holperte durch ein Schlagloch und Christian meinte: „Dann setzen Sie mal Straßenbau auf Ihre Liste.“
Wieder lachte der Mann. Es klang wie das Kollern eines Elefantenbullen in der Mast. „Nachdem die Grenze gefallen ist, werden Sie hier bald die besten Straßen in ganz Deutschland haben, oder ich müsste mich sehr irren. Ich mag eher Brücken, rein beruflich.“
„Ich meine Ruhe.“
Der Mann holte eine Papirossischachtel aus seinem Mantel hervor und kniffte mit kleinen dicken, aber erstaunlich flinken Fingern das Mundstück. Exakt in dem Moment, in dem er sich die Zigarette an den Mund hielt, drehte sich der Mann auf dem Fahrersitz herum und ließ ein Benzinfeuerzeug aufflammen. Yuri nahm einen tiefen Zug, stieß den Rauch aus und der Gestank von Machorka biss in Christians Lunge.
Er verzog das Gesicht. „Warum sitze ich in diesem Auto?“
„Weil Sie noch leben.“
„Wie überaus überraschend,“
„In der Tat.“ Der dicke Mann nahm noch einen Zug, dann schoss er eine Frage ab und jede Freundlichkeit war aus seinem Ton verschwunden: „Warum haben sie geschwiegen?“
„Warum haben Sie Natalja Ermakowa geschickt?“
„Es ist auch in Deutschland unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“
„Aber sowas von. In etwa so, wie eine Massenvernichtungswaffe am Grund der Ostsee zu parken.“
„Sie haben den gleichen Dickschädel wie Ihr Vater.“
„Aber weniger Hemmungen. Lassen Sie ihn besser aus dem Spiel, sonst fallen die. Sie kennen ihn?“
„Ich bin Generalleutnant Yuri Maximow.“ Er sagte es, als wäre es eine Erklärung.
„Ah, ja. Und sie kommandieren das sowjetische Rote Kreuz?“
„Was hat Ihnen Dr. Ermakowa zum Abschied gesagt?“
„Das ich mich vor dicken Leuten mit Vollbart in acht nehmen soll.“
„Die Frage war ernst gemeint.“
„Meine Antwort auch.“
Der General polterte etwas Unverständliches auf Russisch, das nicht sehr amüsiert klang, dann sprach er wieder Deutsch: „Ihnen muss doch klar gewesen sein, dass weder Müller noch der Militärstaatsanwalt glauben würden, dass Sie sich nicht mehr erinnern können.“
„Ich hielt den Knast für eine bessere Alternative als dieses Auto.“ Christian blickte sich um. „Ist immerhin besser gepolstert als ein Leichenwagen.“
„Sie haben offenbar keine hohe Meinung von uns.“
„Ganz im Gegenteil. Nur die Allerbeste, was Ihre Fähigkeiten betrifft. Ihr Gewissen hinkt dem zwar ein bisschen hinterher, aber niemand ist vollkommen, nicht einmal der KGB. Zum Glück.“
Die buschigen Augenbrauen des Generals machten sich auf den Weg in Richtung Schädeldecke und Christian knurrte: „Ein Torpedo mit Zusatztriebwerk, ohne Sprengkopf, aber mit Selbstzerstörung. Erst hielt ich den Austritt für eine Sinnestäuschung, so was passiert unter Wasser ziemlich häufig. Aber offenbar war es ein Kampfstoff. Ein hoch aggressiver, da ihn nicht einmal das Wasser schnell genug neutralisieren konnte, bevor er wirkte. Ich möchte nicht wissen, was passiert, wenn er an der Luft freigesetzt wird. Dafür wahrscheinlich das zweite Triebwerk. Es hebt ihn aus dem Wasser, der Kampfgstoff wird freigegeben und er zerstört sich anschließend selbst. Keine Spuren, außer ein paar tausend Leichen, von denen niemand weiß, warum sie aufeinander losgegangen sind. Kommt das in etwa hin?“
Yuri blickte Christian scharf an und der zuckte die Schultern. „Ich denk mir gerne Geschichten aus.“
„Hatten Sie schon einmal Ärger deswegen?“
„Sie meinen: außer jetzt gerade?“
„Sie machen es einem aber auch nicht leicht und es beantwortet auch nicht meine Frage.“ Eine steile Falte erschien auf der Stirn des Generals, eindeutig der Vorbote eines Gewitters.
„Wieso nicht? Baut noch jemand anders den 53-65m?“
„Und Sie denken, dass wir Sie …“ Der General ließ den Rest des Satzes offen.
„… beseitigt hätten oder es noch tun. Sieht für mich nicht so aus, als hätte ich damit sehr weit daneben gelegen.“
Eine Weile schwieg der General, dann seufzte er. „Junge, du hast tatsächlich tief im Dreck gesteckt und ich hatte einiges zu tun, damit er uns nicht um die Ohren fliegt. Einige von uns würden ihn gern beseitigen, bevor er anfängt zu stinken.“
„Gehts ein bisschen deutlicher?“
Der General machte ein betrübtes Gesicht. „Eine unserer Sünden. Angst, Panik, Wut – wie der Mensch sich dann verhält, ist ihm in die Gene programmiert und nur ein hartes und langes Training kann diese vorprogrammierten Verhaltensweisen ändern. Ausgelöst und gesteuert werden sie durch Hormonausschüttungen der Nebenniere, die wiederum vom Gehirn gesteuert wird. Das geschieht in Sekundenbruchteilen. Energiereserven werden freigesetzt, Muskeln werden stärker durchblutet, der Herzschlag erhöht sich, die Sinne werden schärfer, Schweiß bricht aus, das Schmerzempfinden wird herabgesetzt und noch vieles mehr. Ein untrainierter Mensch denkt nicht mehr, sondern wird reduziert auf die Angriffs-, Kampf- und Fluchtreflexe des Urmenschen. Das, was deine Männer in der Ostsee abbekommen haben, löst bei Kontakt genau diese Hormonausschüttungen im Körper aus. Unmengen von Adrenalin, Noradrenalin, unspezifiziert und auch unkontrolliert. Hättest du die beiden nicht getötet, hätte es sie kurz danach innerlich zerrissen, weil ihr Herz schlappgemacht hätte vor Überlastung. Du hättest ihnen auch nicht entkommen können, weil sie für diese kurze Zeit wesentlich stärker und schneller waren als du. Die Hirnfunktionen hatten auf Überlebensmodus geschaltet, nichts sonst.“
„Erinnert mich irgendwie an Hitlers Panzerschokolade.“
„Pervertin?“ Yuri Maximow schüttelte den Kopf. „Das war nur ein simples Aufputschmittel auf der Basis von Methamphetamin. Bei X-44 ging es um viel mehr: Um einen enorm leistungsfähigen gefühlskalten Menschen mit bis zu zwanzig Prozent mehr Intelligenz, Kraft, Ausdauer und das nicht für Stunden, sondern auf Dauer. Ein solches Mittel wäre Milliarden wert, ach was, Billionen. Die Kontrolle darüber hätte das Gleichgewicht der Welt aus den Angeln heben können.“
„Die alleinige Kontrolle,“ warf Christian trocken ein. „Womit wir wieder beim KGB wären. Übrigens schienen die mir in dem Moment nicht gerade Leuchten zu sein. Das waren Andres und Werner zwar nie, aber mit dem Kopf durch die Wand war eigentlich nie ihre bevorzugte Methode. Sie kamen lieber von hinten.“
Yuri verschluckte sich, hustete, öffnete das Fenster einen Spalt und warf die Zigarette hinaus. „Man fummelt nicht ungestraft an einem so hochkomplexen biologischen System wie dem Menschlichen herum. Monster zu erschaffen, ist nicht schwierig. Sie zu kontrollieren, schon. Deswegen kann ich auch so offen mit dir darüber reden. Das Projekt wurde eingestellt und alle Beteiligten haben jetzt Forschungsprojekte, die eins gemeinsam haben: Sie liegen in Zentralsibirien. Und da kommen sie auch nicht wieder weg, bis auf Natalja Ermakowa. Welche Farbe hatten übrigens ihre Schuhe, als sie dich das erste Mal besucht hat?“
Christian schloss die Augen und blickte auf das Bild in seiner Erinnerung wie auf ein Gemälde. „Keine Schuhe,“ antwortete er. „Schwarze Stiefel. Am rechten war ein kleiner Kratzer, am linken wahrscheinlich der Hacken etwas mehr abgetreten. Zumindest klangen ihre Schritte so. Und sie roch, als hätte sie mit Ihnen Mittag gegessen. Nach Knoblauch und Machorka. Korrekt?“
„Ich habe keine Ahnung.“ Yuri nahm ein kleines Notizbuch aus einer Tasche seines Mantels und schrieb etwas hinein. Er steckte es wieder weg und blickte, zwischen den Augenbrauen eine steile Falte, wieder aus dem Fenster. Der Fahrer bog gerade auf eine Landstraße ein. Er ließ einen roten Traktor vorbei, obwohl er hätte gefahrlos noch vor ihm einbiegen können, setzte sich hinter ihn und machte auch die nächsten Minuten keine Anstalten, ihn zu überholen. Links und rechts huschten kahle Apfelbäume vorbei, dann kamen ein paar Häuser. Kinder standen an einer Haltestelle und warteten auf den Bus.
Ein kleines Mädchen mit blonden Zöpfen und roten Schleifen winkte, vielleicht aus Langeweile, vielleicht auch, weil sie einfach nur freundlich sein wollte und weil sie noch nichts von den Gedankenkisten der Großen wusste. Sie sah eher aus, als würde sie sich noch Märchen von ihrer Großmutter erzählen lassen, in denen der Teufel immer ein Lügenbold war. Er konnte gar nicht anders, es sei denn, er konnte mit der Wahrheit mehr Schaden anrichten. Dass die Erwachsenen den Dingen immer irgendwelche Schilder umhängen mussten, damit sie sie in Gedankenkisten einsortieren konnten, selbst dann, wenn sie nichts darüber wussten, würde ihr hoffentlich das Leben beibringen. Die Schublade, in die die Ärzte Christian gepackt hatten, hieß Evans-Syndrom. Sie wussten es nicht besser, aber das interessierte sie auch nicht.
Bis Berlin schwiegen sie. Eine halbe Stunde später, kurz vor dem Bahnhof Lichtenberg fragte Yuri: „Kannst du wörtlich bis zum letzten Fragezeichen wiederholen, was du vor einer halben Stunde über den Besuch der Ermakowa gesagt hast?“
Christian schloss die Augen und schon hörte er, was er vorhin gesagt hatte. Er musste es nur nachsprechen: „Keine Schuhe, schwarze Stiefel. Am rechten war ein kleiner Kratzer, am linken wahrscheinlich der Hacken etwas mehr abgetreten. Zumindest klangen ihre Schritte so. Und sie roch, als hätte sie mit Ihnen Mittag gegessen. Nach Knoblauch und Machorka. Zufrieden?“
Yuri winkte ab. „War nur ein Test. Wir sind gleich da.“
Christian fragte: „Wenn Sie, wie ich annehme, der Chef des KGB sind – wissen Sie etwas über den Tod meiner Mutter?“
„Wenig,“ murmelte der General, in Gedanken versunken. „Es hieß, dass ihr Geliebter – ein hoher Offizier der Stasi – Landesverrat begangen und sie ihn dabei ertappt hat. Es gab damals ein großes Saubermachen und der Tod Ihrer Mutter war so etwas wie ein Katalysator für eine Wachablösung, die sich schon lange angedeutet hatte. Alte Kommunisten wurden kaltgestellt und einige aus der jungen Garde, die wir zum Teil mit ausgebildet hatten, übernahmen das Steuer.“
„So einfach ist das?“
„Nein. Es ist Politik. Die ist nie einfach und manchmal muss man …“ Er winkte ab. „Dein Zug wartet.“
Der Wagen hielt. Der Beifahrer stieg aus, öffnete die Tür für Christian, dann ging er zum Kofferraum und holte dessen Krücke und Seesack heraus. Christian wollte aussteigen, da sagte Yuri: „Einen Tag, bevor unsere Doktor Ermakowa im Lazarett ankam, begegnete Winfried Gneidsen einer Frau auf dem Flur des Lazaretts, die ein Arzt namens Holger Weinberg fälschlich als Natalja Ermakowa identifizierte. Am selben Abend trug der Wachposten die falsche Natalja Ermakowa ins Wachbuch ein. Sie war zirka eine halbe Stunde bei Ihnen. Was geschah in dieser Zeit in Ihrem Zimmer?“
„Sah sie wenigstens gut aus? Die Schlafmittel da sind schon ganz schön fies.“
Yuri machte ein Gesicht, als hätte er Zahnschmerzen. „Wenn ich das wüsste, würden wir uns hier nicht unterhalten. Was ich aber weiß, ist, dass in derselben Nacht dieser Arzt Weinberg zu einem medizinischen Kongress nach Westberlin gefahren ist und danach, statt zurückzukommen, eine Maschine nach Oslo bestiegen hat. Dort haben wir seine Spur verloren, genau wie vor zehn Jahren die von Boris Orstchov. Er war der Leiter des Forschungsprogramms für X-44 und auch er hat sich über Finnland und Schweden nach Norwegen abgesetzt.“
Christian feixte: „Also einen Wissenschaftler durch halb Sibirien rennen lassen, weil man ihn nicht ordentlich beaufsichtigen kann, grenzt ja schon an unterlassene Hilfeleistung. Was, wenn der Arme erfroren wäre?“
„Es gibt keinen Grund, darüber Witze zu machen. Du solltest das am allerwenigsten tun. Du bist – wie sagt man hier? – mit einem blauen Auge davongekommen. X-44, würde man es überleben, baut das Gehirn um zu irgendetwas und das ist nichts Gutes. Ich will ehrlich sein: Hättest du es abbekommen, würden wir uns jetzt hier nicht unterhalten. Entweder hätte der Kampfstoff dich umgebracht oder ich hätte es angewiesen. Deswegen haben wir die Forschung eingestellt. Wir hätten Monster erschaffen. Du hast offenbar ein riesen Glück gehabt. Am besten solltest du das Gespräch vergessen und erst recht, warum wir es geführt haben.“
„Am besten für wen?“
„Für alle.“
„Iss klar.“ Christian quälte sich aus dem Wagen und griff haltsuchend nach der Krücke, die ihm der Mann draußen hinhielt. „Sie und ihre Bande sind ein Alptraum. Zu wissen, dass ich nicht mehr Monster bin als jeder andere, der zwei Menschen umgebracht hat, hätte ich die Unterhaltung nicht gebraucht. Lassen Sie mich einfach in Ruhe, dann bleibt’s bei den zwei.“
Der General beugte sich nach vorn. „Drohst du mir?“
„Quatsch. So verdreht ist mein Gehirn nun auch nicht, dass ich gegen den ganzen KGB anstinken will. Im Lazarett habe ich nichts gesagt, weil ich Ihnen zeigen musste, dass ich keine Gefahr für Sie bin. Ich will nichts weiter, als ein ganz gewöhnliches Leben führen. Dazu gehören für mich weder der KGB, die Stasi noch irgendein anderer Geheimdienst. Halten Sie sich einfach raus aus meinem Leben.“
Er wuchtete sich seinen Seesack auf die Schulter, rummste die Autotür zu und hinkte davon.
Geschickt fädelte der Fahrer den Wolga in den Verkehr. Zwischen den Trabbis, Wartburgs und Skodas fiel er in etwa so wenig auf wie ein Riffspitzenhai in einem Heringsschwarm. Mehr als ein Blick streifte den im Fond rauchenden Yuri Maximow. Manchmal grüßte er sogar, als wäre er auf Staatsbesuch. Er wusste, dass es eine seiner letzten Fahrten durch Ostberlin sein würde. Viele Weichen für die Zukunft des bald vereinigten Deutschlands hatte er bereits gestellt. Jetzt hatte er vor, noch einen letzten Zug auf das richtige Gleis zu schieben, bevor Mütterchen Russland ihn wieder nach Hause rief. Dort ging man davon aus, dass er seine wohlverdiente Pension auf seiner Datscha in der Nähe von Sotschi genießen würde.
An Pension dachte General Maximow schon, aber nicht in Sotschi und er war auch nicht bereit, sich mit den wenigen Rubel, die ihm Stiefmütterchen Russland dafür zahlen wollte, zu begnügen. Angewidert warf er seine Papirossa aus dem Fenster.
Es war damals alles sehr schnell gegangen. Es hatte Gerüchte gegeben, dass Larissa Gromkowa nicht für Orstchov, sondern gegen ihn gearbeitet hatte und dabei gewesen war, ein Gegenmittel zu entwickeln. In wessen Auftrag, war nie herausgefunden worden, weil einer ihrer Liebhaber aus den Reihen des KGB sie vor der bevorstehenden Untersuchung gewarnt hatte. Danach war alles in Feuer und Rauch aufgegangen, gelegt von Larissa Gromkowa. Von Boris Orstchov hatte der KGB bis heute keine Spur, eben so wenig wie von ihr und der Time Bandit II. Nach dem SOS aus dem Sturm in der Biskaya war sie nirgendwo mehr aufgetaucht. Alle Fäden waren zerrissen worden und das war der Grund, warum das Projekt tatsächlich eingestellt worden war. Niemand in der Sowjetunion hatte es mehr auf dem Schirm und selbst wenn es anders gewesen wäre, hätte es in der gegenwärtigen politischen Situation keiner gewagt, ein solch heißes Eisen erneut anzufassen. Keiner außer General Yuri Maximow.
Er kramte sein Notizbuch hervor und las die Seite, auf die er vorhin die Worte von Christian geschrieben hatte. Wortwörtlich, auf Buchstabe, Betonung, Punkt und Komma hatte Christian sich selbst zitiert. Das konnte kein normaler Mensch. Nicht, wenn man ihn nicht darauf vorbereitet hatte. Schon vorher war Christian Oldenburg überragend gewesen. Jeder andere hätte in seiner Situation um Hilfe von den Ärzten gebettelt oder Müller alles versprochen, nur damit er nicht ins Gefängnis musste. Doch seit Christian Oldenburg das Bewusstsein wiedererlangt hatte, hatte er jeden Schritt durchdacht, Müller ausgetrickst, Gneidsen manipuliert und sogar dafür gesorgt, dass General Maximow ihm helfen musste.
Der General war felsenfest überzeugt, dass Christian Oldenburg sehr wohl von X-44 getroffen worden war und dafür, dass sie es nicht mehr in seinem Blut gefunden hatten, gab es nur eine Erklärung: Es war nicht mehr da gewesen, weil es neutralisiert worden war. Jemand hatte ihm ein Gegenmittel injiziert und die Auswahl der Personen, die dafür in Frage kamen, war nicht allzu groß.
„Erwischt!“, murmelte der General in seinen Bart und überdachte seine Optionen.
Der Fahrer blickte kurz nach hinten. Er war dabei gewesen damals, als das Labor niedergebrannt war. „Sollen wir ihn überwachen, Genosse General?“
Yuri Maximow schüttelte energisch den Kopf. „In einem Provinznest wie Schwerin? Negativ! Aber ich will von jedem Gespräch, dass er von seinem Telefon führt, eine Aufzeichnung bei mir auf dem Schreibtisch. Vielleicht nimmt sie ja noch einmal Kontakt zu ihm auf. Dann haben wir sie und damit die Spur zu Larissa Gromkowa und zu X-44. Und jetzt fahren Sie mich zu Müller. Ich werde ihn wohl ins Bild setzen müssen. Es gibt noch andere Wege, wie wir sie finden können, und dazu brauchen wir ihn. Haben Sie auch ein Auge auf die Meldungen der Polizei in Schwerin. Falls ich mich irre, wird er spektakulär durchdrehen mit einigen sehr hässlichen Toten. Dann ist diese Geschichte tatsächlich zu Ende.“