Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge


Berlin, November 1990

Christian musste fast eine halbe Stunde in der Bushaltestelle warten, bis er Helmut Franke nach Hause kommen sah. Vorige Woche, als er schon einmal bei ihm geklingelt hatte, war nur dessen Frau dagewesen. Er sei nicht zu Hause und wann er zurückkäme, wüsste sie auch nicht, hatte sie gemeint. Er solle es an einem anderen Tag noch einmal versuchen und um was es denn ginge.
Einen Moment war Christian versucht gewesen, zu fragen, mit wem sie sich denn so laut gestritten hatte, dass er es durch die geschlossene Wohnungstür hatte hören können, dann hatte er sich anders entschieden. Er war wieder in die Dienststelle gefahren, in der man ihm gesagt hatte, dass es keine Akten über den Fall Melanie Oldenburg gab, war von Dienstzimmer zu Dienstzimmer getrottet und hatte die Beamten genervt, bis er das gesehen hatte, auf das er gehofft hatte: Bilder von hervorragenden Beamten der Vergangenheit und deren Namen an den Wänden.
Es waren nicht so viele gewesen, dass er sie sich hätte nicht mit einem Blick einprägen können und so fiel es ihm nicht schwer, jetzt den älteren Herren mit grauem Mantel und hellem Erich-Honecker-Hut zu erkennen. Gemütlich schritt der die Straße entlang und drückte die zweiflügelige Haustür auf. Doch statt sofort hineinzugehen, drehte er sich erst noch um und warf scharfe Blicke links und rechts die Straße entlang. Erst dann verschwand er im Hauseingang. Der Kriminalkommissar war seit drei Jahren in Pension, aber noch immer fit genug, ein paar Berufsgewohnheiten nicht außer acht zu lassen. Christian merkte es sich, auch, dass die Haustür sich ohne Schlüssel öffnen ließ.
Für den Fall, dass die Ehefrau des Kommissars die Diskussion von letzter Woche noch mit der Bratpfanne zu Ende führen wollte, ließ er ein paar Minuten vergehen, bevor er unter dem Dach der Bushaltestelle hervortrat, ein paar Autos vorbeiließ und Helmut Franke folgte.
Das Haus stammte, wie allen anderen auch in dieser Straße, aus der Gründerzeit. Trotz seiner verspielt mit Stuck und Taubenkacke verzierten Fassade wirkte es sehr massiv. Früher mochte es einmal weiß gewesen sein, jetzt war es bleigrau gescheckt und ziemlich stark renovierungsbedürftig, ebenso wie die Fenster, von deren Rahmen die Farbe abblätterte. Links neben dem Eingang blinkte die bunte Reklame eines Tabakwarenladens, rechts sah Christian durch die Fenster die Trommeln von Waschmaschinen in einem Waschcenter rotieren. An der Fassade auf Höhe des dritten Stocks fletschen drei steinerne Löwenköpfe das, was noch von dem übrig geblieben war, was einmal ihre Zähne gewesen waren.
Im langen Hausflur roch es muffig, obwohl die Tür zum Hinterhof offen stand. An einer Wand waren Briefkästen aus Holz in einer langen Reihe angebracht, die gute Taubennistplätze abgegeben hätten. Wahrscheinlich desinfizierte der Postbote jedes Mal seine Hände, nachdem er die Briefe eingesteckt hatte. Nur ein Briefkasten war aus Metall, wirkte neuwertig und passte in etwa so gut in diese Reihe wie rote kniehohe Lackstiefel für einen Dreißig-Kilometer-Gefechtsmarsch. Es war der von Helmut Franke.
Das Schild mit dessen Namen hing in der zweiten Etage an der mittleren der drei nebeneinanderliegenden Wohnungstüren. Wie beim letzten Mal musste Christian drei Mal klingen, bis er hörte, dass sich etwas hinter der Tür tat. Ein Riegel wurde zurückgeschoben, dann rasselten zweimal Ketten, ein Schlüssel wurde im Schloss umgedreht, auch zweimal, und dann füllte die Kommandantin dieser Festung den Türrahmen: gut einhundert Kilogramm Fleisch, Falten und Wülste. Sie sah aus wie siebzig, roch wie neunzig und trug ein bodenlanges Kleid aus grauem, dickem Stoff, dass auch gut hätte als Büßergewand auf dem Jakobsweg durchgehen können und dazu einen Sehverstärker, dessen Leistungsfähigkeit nicht viel hinter der der ersten Fernrohre zurück sein konnte. So dick war er auch.
„Was wolln’se schon wieder?“, rasselte sie nicht unähnlich dem Geräusch der Ketten an der Tür zuvor. „Mein Mann iss …“
„…vor exakt viereinhalb Minuten nach Hause gekommen,“ half Christian ihr freundlich.
„Äh … ja und? Er iss trotzdem nich da. Wer sind Sie überhaupt?“
„Der Sohn eines Mordopfers, deren Tod Ihr Gatte freundlicherweise aufgeklärt hat,“ beeilte sich Christian, zu sagen, bevor sie auf die Idee kam, ihm die Tür vor der Nase zuzuschlagen, und er hätte grob werden müssen. Den Zeitpunkt hielt er noch für etwas verfrüht.
„Mein Name ist Christian Oldenburg.“ Höflich deutete er ein Nicken an. Sie musterte ihn von oben bis unten, von unten bis oben, dann rasselte sie: „Dat seh‘ ick. Sind Sie auch so’n Verrückter wie Ihr Vater? Der hatte och so’n brutales Kinn un‘ ne Weibernase. Der hat hier ordentlich Bambule jemacht, dat ick ihn fast rausschubsen musste.“
„Das wird sich nicht wiederholen. Er ist tot.“
Wieder musterte sie ihn. „Lange her?“
„Nein.“
„Mein Beileid. Also jut, dann komm’se mal rein, junger Mann und benehmen Sie sich, ja?“
Sie räumte das Burgtor gerade weit genug, dass er sich an ihr vorbeidrängen musste. Er fand, dass er schon angenehmere Drängeleien gehabt hatte.
„Der Sohn also. Ich habe mich schon gefragt, wann Sie auftauchen würden.“ Helmut Franke stand im plüschigen Flur. Er trug einen weinroten plüschigen Hausmantel, aus dem graue Brusthaare verzweifelt nach frischer Luft schrien und plüschige Pantoffeln. Christian hegte den Verdacht, dass die Festungskommandantin glücklich mit ihm war.
Helmut Franke war ein fit wirkender Mittsechziger, einigermaßen schlank, mit halblangem, weißen Haar und einem grau melierten Schnauzbart, der an den Mundwinkeln herabhing und seinem Gesicht etwas von einem Seehund mit Magenschmerzen gab. Seine hellen, eng beieinanderliegenden Augen waren das genaue Gegenteil: Sie wirkten intelligent und flink und das war auch der Blick, mit dem er Christian ansah.
„Mehr, als ich Ihrem Vater gesagt habe, werden ich Ihnen auch nicht erzählen können.“ Es sah nicht so aus, als wollte er Christian zu einem Schwatz in die gute Stube bitten.
So langsam, dass Helmut Franke die Bewegung nicht missverstehen konnte, zog Christian den Reißverschluss seiner Lederjacke nach unten. „Mein Vater hat mich leider nicht ins Bild gesetzt. Mehr als Ihren Namen und die Adresse habe ich nicht bei seinen Unterlagen gefunden. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, mir noch einmal das Gleiche zu erzählen.“
„Ich sehe schon, Sie werden keine Ruhe geben. Dann kommen sie mal mit in mein Arbeitszimmer.“ Der ehemalige Kommissar wies auf eine Tür, die vom Flur abzweigte.
Innerlich seufzte Christian. Er hatte den Hausherren nur ansehen müssen und im gleichen Moment gewusst, dass es wieder eines jener Gespräche werden würde, die er so hasste. Er hätte gerne geplaudert, über Gott und die Welt geredet, vielleicht auch einmal einen schlechten Witz gemacht und sich dem Thema langsam genähert, doch das würde nicht geschehen. Nicht diesmal und auch sonst geschah es nie. Wenn Christian sich unterhielt, egal mit wem, hatten Gespräche immer einen nahezu dogmatischen Charakter, weil er jeden Satz in seinem Kopf prüfte, bevor er ihn unzurückholbar in die Freiheit entließ. Die Zahl der Partys, an denen er teilgenommen hatte, war überschaubar, weil man ihn in der Regel kein zweites Mal einlud.
Hinter ihm rasselte die Kommandantin: „Sie seh‘n aus, als könnt’n’se `nen Pott Kaffe vertragen. Schwarz und stark, vermute ick.“
„Wenn es Ihnen nichts ausmacht, Frau Franke. Besten Dank. Sie verwöhnen mich.“
Die Falten und Wülste in ihrem Gesicht bewegten sich wie Wellen in einem Teich. Christian vermutete, dass es ein Lächeln war. Bevor sie auf die Idee kommen konnte, ihrer Glückseligkeit noch intensiveren Ausdruck zu verleihen, folgte er dem ehemaligen Kriminalisten.
„Macht nicht viel her, aber mir reichts,“ sagte Helmut Franke, als Christian sich umschaute. Sorgsam schloss er hinter Christian die Tür. „Hier habe ich meine Ruhe.“
Das, was Helmut Franke als Arbeitszimmer bezeichnete, hatte die Größe einer Abstellkammer, aber wenigstens ein Fenster, das zur Straße hinausging. Mit zwei Personen war der vielleicht zehn Quadratmeter große Raum bereits ausreichend gefüllt. Der Platz reichte gerade für einen massiven, aber deutlich altersschwachen Schreibtisch mit Aufsatz, einem Drehstuhl davor und einem fast deckenhohen Regal mit Aktenordnern. Nichts hier wirkte plüschig oder verspielt wie in dem Teil der Wohnung, den Christian bis jetzt gesehen hatte. Auszeichnungen und Diplome an den Wänden, fein säuberlich hinter Glas gerahmt und perfekt ausgerichtet, gaben jedem Besucher Auskunft über die Wichtigkeit Helmut Frankes in einem vergangenen Leben.
Da es nur einen Stuhl gab, stellte sich Christian ans Fenster. Draußen dämmerte es bereits, aber das Licht war noch hell genug, dass er das Mienenspiel von Helmut Franke erkennen konnte.
„Sie können nicht loslassen, was?“ Christian deutete auf den Schrank mit den Akten.
„Ach wo, das ist altes Zeug. Eigentlich nur Erinnerungen. Ich hab ja sonst nicht viel, hab nur für den Beruf gelebt.“
„Sie waren bestimmt gut.“
„Ich hab mein Bestes getan. Aber uns waren immer Grenzen gesetzt, die wir nicht überschreiten konnten.“
„Wie bei meiner Mutter?“
„Sie kommen schnell zum Punkt, was?“ Helmut Franke schaltete die Schreibtischlampe an. Er blieb an dem Möbelstück stehen. Das Licht der Lampe fiel auf seinen Rücken und sorgte dafür, dass sein Gesicht nur noch undeutlich zu erkennen war.
Christian wechselte ein wenig seine Position. „Ich will Ihre Zeit nicht verschwenden, Herr Franke. Wer hat meine Mutter umgebracht?“
„Das ist allgemein bekannt. Der Täter wurde gefasst.“
„Wenn ich diese Version gewollt hätte, hätte ich ins Neue Deutschland geschaut. Ich will Ihre Zeit nicht verschwenden, tun Sie es bitte mit meiner auch nicht.“
„Ein Unfall?“ Helmut Franke wies auf Christians Krücke.
„Könnte man so nennen. Aber sie hindert mich nicht, Dinge zu tun, die ich tun muss.“
„Wie einen alten Kriminalisten nervös machen. Sie kommen wirklich schnell zum Punkt.“ Helmut Franke lies sich auf den Schreibtischstuhl fallen. „Sie ähneln ihrem Vater sehr. Der hat auch nicht viele Worte gemacht und die wenigen, die er von sich gegeben hat, ließen an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Aber ich kann Ihnen genau so wenig helfen wie ihm. Zum einen wegen der Grenzen, die ich vorhin angedeutet habe und zum anderen, weil ich mir sicher bin, dass Sie genau wie Ihr Vater, einem Hirngespinst nachlaufen.“
Christian lehnte die Krücke an das Fensterbrett. „Sie irren sich gewaltig. Im Gegensatz zu mir war mein Vater in der Lage, seine Wut zu kontrollieren, selbst wenn er wusste, dass man ihn verarschte. Ich bitte um Entschuldigung für das derbe Wort, nichtsdestotrotz trifft es ziemlich genau den Kern unseres Gesprächs.“
Es klopfte, kurz und hart, dann wurde die Tür geöffnet und Frankes Frau trat ein mit einem dampfenden Kaffeepott in der Hand. Mit kritischem Blick musterte sie ihren Mann und Christian, dann stellte sie wortlos den Pott auf den Schreibtisch. „Machen Sie keenen Ärjer, junger Mann. Ick lass die Tür jetzt offen,“ rasselte sie.
„Aber warum sollte ich?“, lächelte Christian sie an.
„Weil sie jenau so’n sturer Hund sind wie Ihr Vater. Ick kenn solche Typen zur Jenüge.“ Sie verschwand wieder und tatsächlich ließ sie die Tür offen.
Helmut Franke stand auf, schloss die Tür und setzte sich wieder. Christian griff nach dem Kaffee und warf dabei einen unauffälligen Blick auf die Papiere auf dem Schreibtisch. Ein Brief von der Rentenversicherungsanstalt lag obenauf.
„Nehmen Sie es ihr nicht übel. Es hat hier schon ziemlich hässliche Szenen gegeben in meinen vierzig Jahren Polizeiarbeit,“ sagte Helmut Franke.
„Und die reichen nicht für eine ordentliche Rente?“
Helmut Franke schob den Brief unter die anderen Papiere. „Es könnte mehr sein.“
„Es könnte immer mehr sein, nicht? Zum Beispiel mehr Informationen.“
„Was werden Sie tun, wenn ich nicht mehr für Sie habe? Versuchen, es aus mir herauszuprügeln?“ Er wirkte nicht, als zöge er diese Möglichkeit ernsthaft in Erwägung. Er hatte in seiner langen Laufbahn bei seinem Umgang mit Kriminellen gelernt, sich sehr schnell ein Bild von einem Menschen zu machen, und Christian wirkte zwar auf eine gewisse Art bedrohlich, sehr bedrohlich sogar, aber nicht primitiv.
„Nein.“ Christian lächelte alles andere als freundlich. „Ich komme wieder, immer wieder, bis Sie entweder einen Fehler machen oder ich davon überzeugt bin, dass Sie tatsächlich nicht mehr wissen.“
„Und das sind Sie nicht.“ Seufzend stand Franke auf. „Ein Bluthund also. Einmal auf einer Spur, gibt er nicht auf und im Gegensatz zu Ihrem Vater ist jetzt niemand mehr da, der Sie an die Kette legen kann. Was kann ich tun, um Sie zu überzeugen? Es gibt für diesen Fall keine Akten mehr, weil sie über die Grenze getragen wurden, von der ich vorhin gesprochen habe und es sich meiner Kenntnis entzieht, wo sie abgeblieben sind. Im Portemonnaie Ihrer Mutter fanden wir eine Telefonnummer. Das passende Telefon dazu stand in einer Wohnung im fünften Stock eines Hochhauses in Marzahn. Als wir nach zwei Tagen den Mieter herausfanden, hatte allein die Suche nach der Nummer bereits eine andere Behörde auf den Plan gerufen.“
„Das Ministerium für Staatssicherheit,“ warf Christian ein.
Franke nickte. „Das ist korrekt. Wir fanden gerade noch heraus, dass es sich um eine Wohnung handelte, die von eben diesem Ministerium als konspirativer Treffpunkt genutzt wurde, da wurden uns bereits alle Kompetenzen für diesen Fall entzogen, ja, wir mussten sogar unterschreiben, dass ein Verstoß gegen diesen Befehl wie Landesverrat geahndet werden würde. Das war das Ende des Falles. Allerdings haben die Genossen uns ein paar Tage später mitgeteilt, dass sie den Täter ermitteln konnten und ihn, als er versuchte, sich der Festnahme zu widersetzen, erschießen mussten. Es gibt niemanden, der Ihnen mehr darüber sagen kann. Außer den Genossen des Ministeriums natürlich, die diesen Fall aufgeklärt haben.“
Christian seufzte. „Haben Sie wenigstens einen Namen für mich?“
Helmut Franke winkte ab. „Das hat mich Ihr Vater auch gefragt. Sie sind nie in Erscheinung getreten. Wir erhielten unsere Befehle in dieser Sache direkt vom Leiter unserer Dienststelle, Major Schubert.“
„Wo finde ich den?“
„Auf dem Friedhof,“ antwortete Franke trocken. „Schlaganfall.“
„Wann?“
„Ungefähr ein halbes Jahr nach dem Mord an Ihrer Mutter.“
„Zufälle gibt es …“
„Jetzt fragen Sie mich als Nächstes noch, ob das war, nachdem ihr Vater sich in den Fall einmischen wollte.“
„Und? War es?“
„Ein paar Monate danach. Aber sie sehen wirklich zu viele schlechte Filme. Es war sein dritter Anfall und es ging ihm schon die Jahre zuvor nicht besonders gut.“
Nachdenklich musterte Christian die Urkunden an den Wänden. Es waren wirklich viele und sie alle stellten Helmut Franke ein hervorragendes Zeugnis aus für seine Einsatzbereitschaft, Treue und Ergebenheit gegenüber der Deutschen Demokratischen Republik und dem Sozialismus. Eigenschaften, die ihn offenbar auch jetzt noch ihre schlimmsten Kräfte als Genossen bezeichnen ließ.
„Eine runde, geschlossene Sache,“ murmelte Christian. „Kein Mauseloch weit und breit.“
„Wozu auch? Das Ministerium hatte einen Ruf und wenn die Genossen ermittelten, ist ihnen niemand entwischt. Was bringt Sie überhaupt auf die Idee, dass es im Fall Ihrer Mutter nicht so war? Das habe ich auch bei Ihrem Vater damals nicht verstanden und er wollte es mir auch nicht sagen.“
Christian ließ so lange seinen Blick auf Franke ruhen, bis der sich wieder hinsetzte und nervös in den Papieren auf seinem Schreibtisch wühlte. „Was ist? Was schauen Sie mich so an?“, fragte er schließlich.
„Eigentlich nichts. Aber ich glaube, so gut waren Sie dann wohl doch nicht. Oder Sie lügen mir ins Gesicht.“
„Warum sollte ich das tun?“
„Ja, das ist die Frage, nicht?“ Christian lächelte. Bei einem Tier hätte man gesagt, es fletscht die Zähne. „Nach dem Obduktionsbefund hatte meine Mutter zwar Geschlechtsverkehr an jenem Abend, aber bereits Stunden vor dem Mord und offenbar wurde ein Kondom benutzt.“
Franke machte ein betrübtes Gesicht. „Was leider die Tatsache stützt, dass sie – so ungern ich es Ihnen sage – ein Verhältnis hatte und überfallen wurde, als sie von ihrem Liebhaber zurückkehrte.“
„Warum ist sie dann nicht vergewaltigt worden, Ihrer Meinung nach? Ein Mann, der so viel Kraft hatte, ihr die Wangenknochen zu brechen und ihre Rippen einzudrücken, hätte das problemlos bewerkstelligen können.“
„Das ist doch wohl glasklar,“ schnaubte Franke. „Er wurde offensichtlich bei dem Versuch gestört. Ein Geräusch, jemand, der vorbeikam, ein Auto, das vorüberfuhr, er geriet in Panik – es kann viele Gründe dafür geben.“ Er machte eine abschließende Handbewegung. „Der Kriminalist von uns beiden bin ich hier und ich könnte Ihnen Geschichten erzählen …“ Er winkte ab. „Glauben Sie mir. Manche Menschen sind einfach nur verrückt und die Motive für ihre Handlungen so tief vergraben, dass nicht einmal sie selbst darüber Auskunft geben können.“
„Er wurde nicht gestört.“ Christian drehte sich zum Fenster. Nur er wusste, wie schwer es ihm fiel, diese vier Worte auszusprechen. Ohne das Franke sein Gesicht sehen konnte, setzte er hinzu: „Ich wünschte, es wäre so gewesen.“
Ein paar Mal atmete er durch, um die Emotionen, die in ihm bei der Erinnerung hochkochten, wieder unter Kontrolle zu bringen. Als er weitersprach, klang seine Stimme wie das Bersten einer Eisplatte: „Niemand hat den Mörder gestört. Die Nacht war so still, dass man sogar die Ratten in den Mülltonnen rascheln hören konnte, und trotzdem habe ich nicht einmal ein Stöhnen meiner Mutter vernommen. Ihr Mörder muss entweder außergewöhnliche Körperkräfte oder eine Ausbildung gehabt haben und obendrein genau gewusst haben, was er tat. Das ist, was ich ganz sicher weiß. Für den Rest waren Sie zuständig und Sie haben es versaut.“
Helmut Franke wurde blass, als er die mörderische Wut in Christians Gesicht sah. Abwehrend hob er jetzt eine Hand. „Ich sage Ihnen, wir haben alles getan, was in unserer Macht stand. Die Beweislage war wirklich eindeutig. Warum quälen Sie sich so? Gönnen Sie sich endlich Frieden. Selbst wenn Sie recht hätten, würde es Ihre Mutter nicht wieder lebendig machen.“
„ABER MICH!“
Christian griff nach seiner Krücke und stützte sich schwer darauf. Es kostete ihn fast übermenschliche Kräfte, Helmut Franke damit nicht niederzuschlagen. Macht war das Schlüsselwort. Sicherlich hatte Helmut Franke sie nie besessen, er war nur ein kleines Rädchen im Getriebe gewesen. Dann stellte sich für Christian jedoch die Frage, warum dieses Getriebe mit ihm immer noch zu funktionieren schien, obwohl das Ministerium für Staatssicherheit vor über zehn Monaten aufgelöst worden war.
Eisig sagte er: „Selbst für erwachsene Kinder ist die Sexualität ihrer Eltern ein Tabu. So habe auch ich erst sehr spät begriffen, dass meine Mutter eine lustvolle Frau war, die meinen Vater schlicht und einfach betrogen hat. Deswegen ist sie mit mir einmal im Monat nach Berlin gefahren, um ihren Liebhaber zu treffen. Mit mir ging sie am Tag in den Plänterwald und ich durfte Riesenrad fahren, so viel ich wollte und abends hat sie mich allein gelassen und sich mit ihm vergnügt. Vielleicht hat sie trotz allem meinen Vater geliebt, nur war er nie da und ich war wohl auch nicht gerade ein einfaches Kind. Ihr Liebhaber hat sie in jener Nacht nach Hause gebracht und das letzte, an was ich mich von ihr erinnere, war ihr Lachen und der Klang ihrer Stöckelschuhe auf dem Gehweg in der Nähe des Fensters. Danach war absolute Stille. Das bedeutet, dass sie freiwillig mit ihm in die Bushaltestelle gegangen ist oder er sie getragen hat, denn sonst hätte ich das Schurren ihrer Füße gehört. Auch Kampfgeräusche habe ich nicht gehört. Alles das wussten Sie, Herr Franke, denn es steht in meiner Aussage. Sie mussten nach der Faktenlage also davon ausgehen, dass meine Mutter ihren Mörder gekannt hat als auch, dass es eine vorsätzliche Tat war und der Mörder groß und kräftig gewesen war und nicht so ein Hungerhaken wie der angebliche Täter. Außerdem musste Ihnen klar gewesen sein, dass die Spur zur Stasi führt. Trotzdem haben Sie nichts weiter unternommen, was vielleicht damals menschlich verständlich war, aber selbst jetzt, in diesem Moment, wo ich Ihnen das auf den Kopf zusage, schweigen Sie und damit stellt sich nur eine Frage: Wer hat so viel Macht, dass Sie selbst jetzt noch vor ihm Angst haben? Ich will einen Namen!“
„Sie haben nicht die geringste Ahnung und das ist alles, was Sie von mir dazu erfahren werden.“ Helmut Franke hatte blanken Trotz in den Augen. Er stand auf und wies zur Tür: „Und jetzt raus hier!“
Christian rührte sich nicht. „Letzte Chance. Ich will einen Namen!“
„Ich habe keinen!“ Franke lachte, nicht im mindesten eingeschüchtert. „Einmal davon abgesehen, dass ich Ihretwegen meine Befugnisse schon weit überschritten habe und von den Paragraphen über Hausfriedensbruch, glaube ich nicht, dass Sie es ohne Marthas Zustimmung auch nur einen Zentimeter in meine Wohnung schaffen.“
„Martha?“
„Meine Frau. Sie ist meine erste Verteidigungslinie. Die Zweite ist mein Waffenschrank, junger Mann. Was glauben Sie eigentlich, wie viel Schwerkriminelle mich hier schon besuchen wollten?“
„Sie wollen also den Rest Ihres Lebens hier eingesperrt bleiben? Nie das Haus verlassen und wenn, immer Angst haben müssen, mich im Nacken zu haben?“
„Sie würden im Gefängnis sitzen, bevor Sie auch nur Piep sagen können. Und jetzt machen Sie endlich, dass Sie rauskommen!“
„Nein.“ Christian sagte es mit vollkommener Gelassenheit. „Es gibt nur zwei Möglichkeiten, wie Sie mich hier wegbekommen: einen Schwerlastkran oder einen Namen.“
„Sie meinen das ernst.“ Helmut Franke legte den Kopf schräg und betrachtete Christian mit einem Blick, in dem zum ersten Mal so etwas wie Respekt lag. Ein paar Sekunden kreuzten sich ihre Blicke, dann seufzte Franke. „Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen. Aber etwas habe ich noch für Sie.“
Er fuhr mit seinem Finger über die Aktenordner in seinem Schrank, dann griff er zu und reichte Christian einen schmalen Hefter. Mit siegessicherem Lächeln sagte er: „Irgendwie konnte Ihr Vater sehr überzeugend sein. Nach seinem ersten Besuch hatte ich, was die Dienstvorschriften eigentlich nicht zulassen, eine Kopie dessen gemacht, was bei uns verblieben ist. Ich wollte sie ihm geben, doch er tauchte nicht wieder auf. Nun findet sie ja doch noch einen Besitzer.“
Christian blätterte den Hefter durch. Es waren nicht viele Blätter enthalten: der Obduktionsbefund, eine Tatortbeschreibung und seine Aussage, die ihm zwei Psychologen entlockt hatten. Immer wieder hatten sie nachgefragt, ob er durch das geöffnete Fenster wirklich nicht ein Geräusch vernommen hatte, und er hatte immer wieder verneint. Das Fenster war geöffnet gewesen, er hätte doch etwas hören müssen …
Er las es mehrmals und jedes Mal wurde sein Grinsen böser. Er richtete es auf Helmut Franke, schlug den Hefter zu und sagte: „Ich war mir nicht sicher, ob mein Unterbewusstsein nicht Details ausgeblendet hatte, um mich zu schützen. Das Protokoll bestätigt, dass ich keine Schreie gehört habe. Danke, Sie haben mir sehr geholfen.“
„Sie wollten nur Ihren Seelenfrieden, nichts weiter? Deswegen das ganze Theater?“ Fassungslos starrte Helmut Franke Christian an.
„Bis auf eine Kleinigkeit, ja. Große Dinge scheitern immer nur an Kleinigkeiten, manchmal nur an einem einzigen falschen Wort.“
„Ja und?“
Christians Grinsen erlosch. „Es gibt nur zwei Menschen, die wissen, ob das, was in diesem Protokoll steht, der Wahrheit entspricht: Der Mörder und ich. Sie haben immer noch keinen Namen für mich? Ich glaube, Sie kennen ihn.“
Helmut Franke war kreidebleich geworden. Jetzt lief er rot an vor Wut und brüllte: „Raus hier! Hauen Sie ab!“
„Darf ich meinen Kaffee noch austrinken?“ Christian griff mit einer Hand nach seiner Krücke, mit der anderen nach der Kaffeetasse. Er verfehlte beide. Die Kaffeetasse kippte um und ihr ganzer Inhalt ergoss sich über das darunter stehende Telefon.
„Sie Idiot!“, schrie Franke und: „Martha! Einen Lappen, schnell!“
Es dauerte nur Sekunden, dann walzte die Frau des Kommissars ins Zimmer. Mit einem Blick erfasste sie die Situation, verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Aufwischlappen zurück. Als sie zu Boden ging, um den Kaffee aufzuwischen, riss ihr Helmut Franke den Lappen aus der Hand. „Erst das Telefon!“, fauchte er, wischte hektisch über das grüne Plastik des Gehäuses und hob, als es einigermaßen trocken war, den Hörer ab. „So ein Mist!“, schimpfte er. „Ist tot!“
Seine Frau kämpfte sich vom Fußboden hoch und schubste Christian hinaus. „Wissen Sie, wie lange es dauert, bis wir ein Neues kriege? Ist das Einzige in der Wohnung! Hauen Sie bloß ab, Mann!“, kreischte sie.
Unnachgiebig zerrte sie ihn hinter sich her und er konnte gerade noch im Vorbeifliegen nach seiner Lederjacke greifen. Ehe er es sich versah, stand er im Hausflur und hinter ihm rasselten Ketten.
Das war also sein erster Auftritt gewesen. Er war nicht unzufrieden mit sich. Wenn man in einen dunklen Teich nicht hineinsehen konnte, musste man ein paar Wellen schlagen und warten, bis sich darin etwas rührte.
Zielstrebig trat er aus der Haustür und stattete dem Tabakwarenladen einen Besuch ab. Er schnappte sich eine BZ am Abend, zahlte und postierte sich damit vor dem Gesicht in der Bushaltestelle, in der er vor einer Stunde auf Helmut Franke gewartet hatte.
Es waren allerhöchstens zehn Minuten verstrichen, als Martha Franke aus der Haustür trat. Sie trug ein graues Kopftuch – welche Farbe hätte sie sonst wählen sollen – und einen Einkaufskorb über dem Arm. Ohne nach links und rechts zu schauen, marschierte sie los, die Straße entlang, würdigte die Telefonzelle, an der sie vorbeikam, nicht eines Blickes und verschwand schließlich um die Straßenecke. Nach gut einer halben Stunde kehrte sie mit einem sichtlich vollen Einkaufskorb zurück.
Der, auf den Christian wartete, kam nicht. Er hatte gehofft, dass er Helmut Franke genug nervös gemacht hatte, dass der jemanden anrufen würde. Auch, wenn Christian das Gespräch nicht hätte mithören können, wäre es zumindest ein Indiz dafür gewesen, dass Christian mit seiner Vermutung richtig lag, dass jemand Franke unter Druck gesetzt oder geschmiert hatte.
Christian wartete eine weitere Stunde, in der er mehrmals seine Position wechselte, um nicht aufzufallen, doch Helmut Franke zeigte sich nicht mehr.
So war es Christian, der selbst die Telefonzelle benutzte. Er musste ein wenig warten, bevor abgenommen wurde. „Ja?“
„Ich denke, ich sollte mich entschuldigen.“
„Ich denke … nein. Du warst nur du selbst.“
„Ich wollte …“ Ein Auto mit kaputtem Auspuff fuhr vorbei, das Stottern des Motors machte jede Verständigung unmöglich. Christian zog die Tür der Telefonzelle zu und brüllte: „Danke!“
Ihr silberhelles Lachen klang aus dem Hörer, als stünde sie neben ihm. „Du musst mich nicht anschreien. Dafür ist immer noch Zeit, wenn wir …“ Sie unterbrach sich, dann stellte sie fest: „Du würdest mich nie anschreien.“
„Nein,“ stellte er fest und wusste plötzlich nicht, wie er das Gespräch fortsetzen sollte.
Sie half ihm: „Du bist gar nicht so weit entfernt. Irgendwie …“
„Ja. Ich wünschte, du wärst eine ganz normale Frau und nicht …“ Eine Spionin, Agentin oder was auch immer. Doch das dachte er nur. Er hatte ‚einfach‘ statt ‚normal‘ sagen wollen, aber sein Unterbewusstsein hatte dazwischengefunkt. Er wollte sie nicht verletzen und so schwieg er lieber.
„Das wünschte ich mir auch, sehr sogar, gerade jetzt. Aber es war nicht meine Entscheidung, weißt du? Nicht, wie ich … geboren wurde und auch nichts von dem, was danach kam. Aber es ist, wie es ist, und irgendwie bin ich jetzt glücklich deswegen.“ Wieder war ihr Lachen im Hörer.
Er mochte es und auch diesen leisen Hauch von Traurigkeit, den er darin wahrnahm, auch wenn er nicht wusste, woher er kam. Er brummte: „Gute Nacht. Freitag Abend bin ich wieder da.“
„Sag meinen Namen, Braunauge.“
„Larissa.“
„Und, ist es jetzt hell?“
„Ein bisschen.“
„Dann schlaf gut, Braunauge. Hab schöne Träume.“