Kapitel 6: Flachgelegt
Your cruel device
Your blood, like ice
One look, could kill
My pain, your thrill
(Alice Cooper)
Sommer 1989, Oslo
Nirgendwo war es einfacher, andere ungestört zu beobachten, ohne selbst aufzufallen, als in einer möglichst großen Ansammlung von Menschen. Das hatte man ihm beigebracht und auch, dass selbst eine gezielte Tötung hier möglich war, weil in der entstehenden Verwirrung niemand mehr wusste, wer sie begangen hatte und der Täter unerkannt in der Masse untertauchen konnte. So wäre Oberst Müller begeistert gewesen von dem um diese Nachmittagszeit hoch frequentierten Kaffee in Oslo, das Sven Oldenburg für sein Treffen gewählt hatte. Der Ausblick auf den Hafen war atemberaubend. Die Fotoapparate schussbereit, wimmelten Sonntagsspaziergänger über die Promenade und hielten die Objektive auf alles, was ein brauchbares Motiv für die Kinder und Enkel abgeben konnte. Niemand von ihnen dachte bei dem strahlenden Sonnenschein an eine Gefahr. Sven schon. Er dachte immer daran. Eine Berufskrankheit.
Die Nachmittagssonne brannte ihm ins Gesicht. Er drehte den gelben Korbstuhl ein wenig mehr zur Seite und musterte durch die dunklen Gläser seiner Brille die Gäste an den anderen Tischen. Nie hielt sich sein Blick dabei lange genug auf einem Gesicht auf, dass es hätte Aufmerksamkeit erregen können. Niemand schien von ihm mehr als nötig Notiz zu nehmen und dass er mit seinen breiten Schultern und seinem wie gemeißelt wirkenden Gesicht des öfteren vor allem von Frauen mit Blicken gestreift wurde, war er gewohnt.
Neben seinem Stuhl stand eine schwarze Aktentasche. Ein in braunes Packpapier eingeschlagenes Buch befand sich darin, Otto Nordenskjölds ‚Antarctic – zwei Jahre in Schnee und Eis am Südpol‘, eine Originalausgabe in norwegischer Sprache. Ein Nachdruck im Militärverlag der DDR war seinem Sohn Christian auf den Fuß gefallen, als er mit fünf Jahren in einem seiner Wutanfälle gegen das Bücherregal seiner Großmutter getreten hatte. Sechs Monate lang hatte er es kaum aus der Hand gegeben und sich damit das Lesen beigebracht. Danach hatte er es nicht mehr gebraucht. Er hatte es im Kopf gehabt, Seite für Seite, Wort für Wort. Wie auch viele der anderen Bücher, die er danach gelesen hatte.
Sven wartete auf Kerstin Wendt. Er hatte sie seit einigen Jahren nicht mehr gesehen. Seine Aufträge erhielt er gewöhnlich mit der Diplomatenpost. Manchmal auch über einen Kurier, wenn sein Auftrag so speziell war, dass er nirgendwo schriftlich niedergelegt werden durfte, nicht einmal hochverschlüsselt. Dass Oberst Müller Kerstin Wendt als Kurier schickte, war so außergewöhnlich, dass Sven seine üblichen Vorsichtsmaßnahmen verdoppelt hatte. Schon eine Stunde vorher war er alle angrenzenden Straßen abgegangen, hatte den Bus- und Straßenbahnfahrplan im Kopf, kannte jede Haltestelle in der Nähe und den kürzesten Weg dahin. Zwanzig Minuten vor der anberaumten Zeit hatte er von einem sicheren Beobachtungspunkt aus das Kaffee observiert und es bis zu dem Moment, in dem er es betrat, nicht mehr aus den Augen gelassen.
Er erwartete keine Aktion von Kerstin Wendt, die gegen ihn gerichtet war, schließlich arbeiteten sie alle für das Ministerium der Staatssicherheit der DDR und so diente seine Vorsicht vor allem ihrer Sicherheit, nicht seiner. Was so wichtig sein konnte, dass Müller sie geschickt hatte, konnte Sven sich nicht vorstellen, doch die Welt befand sich im Umbruch, große Ereignisse standen bevor und er ging davon aus, dass es damit zu tun hatte.
Vor ein paar Monaten hatte er die Nachricht nach Berlin geschickt, dass Ruud Ängström eine Antarktisexpedition plante. Das war für Norwegen, das Land der Polarforscher, zwar nichts Ungewöhnliches, aber Spezialisten für hochenergetische Strahlung, für Ultra- und Infraschall und Astrophysiker gehörten gewöhnlich nicht zu einer solchen Expedition, schon gar nicht, wenn sie dazu extra aus den USA eingeflogen wurden. Es stank nach Waffenforschung und Norwegen war Gründungsmitglied der NATO. Ruud Ängström tat nichts, was nicht Profit versprach. Er hatte seine Finger in jedem Geschäft, das nur einigermaßen Geld abwarf: Banken, Rüstung, Erdöl, Pharma, Medien.
Tief atmete Sven aus und ein. Er war nervös. Müller hatte immer einen Plan hinter dem Plan. Kerstin Wendt war alles andere als ein simpler Kurier und wenn er sie schickte, dann nicht nur, um eine Botschaft zu überbringen, sondern sie war selbst ein Teil der Botschaft.
Auf schlanken braunen Beinen und mit schwingenden Hüften schlängelte sich die junge Bedienung zwischen den Tischen zu ihm hindurch, Sven bestellte einen Kaffee mit extra Zucker bei ihr und lächelte ihr mit um eine Winzigkeit nach oben gezogenen Mundwinkeln zu.
Kaum hatte sie die Bestellung aufgenommen, hörte er High Heels in seinem Rücken trippeln, das Geräusch näherte sich, ein Hauch von Kamille wehte ihm in die Nase, zwei Arme schlangen sich von hinten um seinen Hals und weiche Lippen flüsterten an seinem Ohr: „Du schaust anderen Frauen auf den Hintern? Hast du meinen schon vergessen?“
„Auf die Beine. Sie sind schön.“
Der Hauch eines teuren Parfüms streifte ihn, dann küsste Kerstin Wendt ihn auf die Wange. Sie tat, als hätte sie nicht bemerkt, dass er den Kopf zur Seite weggedreht hatte, warf einen verstohlenen Blick an ihm vorbei in die Runde und nahm ihm gegenüber Platz. Sie öffnete ihren hellen Trenchcoat und zupfte das Sommerkleid mit den karmesinroten Kamelien darunter über ihren schmalen Knien zurecht. Sie wog knappe fünfzig Kilogramm und war so feingliedrig wie eine Meißner Porzellanpuppe. Mit ihrer kessen Stupsnase, den himmelblauen Augen mit dem gewissen Etwas darin und den rabenschwarzen, seidig glänzenden Haaren, die ihr in leichten Wellen auf die schmalen Schultern fielen, wirkte sie immer noch wie ein junges Mädchen. Wer genauer hinsah, bemerkte das Grau, dort, wo ihre Haare aus der Kopfhaut wuchsen, und dass sich um ihren Mund winzige Fältchen wanden, gegen die auch Schminke machtlos war.
Sie warf einen Blick in die Karte, Sekunden später schob sie sie mit einer ärgerlichen Bewegung zur Seite.
„Sorgen?“, fragte er.
„Wer hat die nicht?“ Sie winkte ab. „Aber unsere werden von Tag zu Tag größer. Es sieht so aus, als würde sich das mit der DDR und dem Sozialismus gerade erledigen. Nur wem erzähle ich das, du sitzt ja direkt an der Quelle. Der Eiserne Vorhang wird löchrig und es scheint uns nicht unwahrscheinlich, dass er ganz eingerissen wird. Zwar sind wir für gewisse Leute zu wertvoll, als dass uns etwas passieren wird, aber wie es wirklich weitergehen soll, weiß keiner. Wenn du mich fragst, bleibt die Operation ‚Gezeitenwechsel‘ nicht nur bloße Theorie. Deswegen bin ich hier.“
„Ihr wollt mich abziehen?“
„Wir müssen dich schützen. Aber vorher ist noch etwas zu erledigen. Wir lassen unsere Leute nicht hängen. Ich am allerwenigstens. Bei dem, was zwischen uns war …“
Sie ließ ihren Trenchcoat von den Schultern gleiten, hängte ihn nachlässig hinter sich über den Stuhl und legte ihren Kopf in den Nacken, um ihr Gesicht den wärmenden Sonnenstrahlen darzubieten. Wie unabsichtlich spannte sich dabei ihr Kleid deutlich über ihren Brüsten.
„Schönes Kaffee. Gefällt mir.“ Sie beugte sich zu ihm über den Tisch und in ihrer Stimme war dunkler Rauch: „Ich wollte hierherkommen. Nicht nur mein Hotelzimmer wird dir gefallen, versprochen. Und falls du etwas ertränken möchtest – die Zimmerbar ist gut gefüllt.“ Lasziv fuhr sie sich durchs Haar. „Aber erst hinterher ja?“
Er wusste aus eigener Erfahrung, dass sich zwischen ihren Beinen die heisseste Hölle befand, die sich ein Mann nur wünschen konnte. Aber auch, dass sie von einem eiskalten Verstand bewacht wurde, für den Sex nichts weiter als ein Mittel war, das zu bekommen, was sie wollte: meistens Informationen, selten Geld und nie Liebe. Nur hatte sie es damals nicht für notwendig erachtet, ihn vorher darüber zu informieren. Wer mit dem Teufel tanzt, muss auch irgendwann die Musik bezahlen, dachte Sven. Da hat Christian wohl recht. Er hatte sie vom ersten Moment an durchschaut.
Sven lächelte mit schmalen Lippen. „Wie immer verschwendest du keine Zeit mit Nebensächlichkeiten. Aber danke, nein. Timeo Danaos et dona ferentes.“
Sie lachte. „Wenn du mir Schweinereien sagen willst, heb dir das für nachher auf. Ich will auch meinen Spaß dabei haben.“
„Eine alte Lebensweisheit: Ich fürchte die Danaer, auch wenn sie Geschenke bringen.“
„Du gibst mir einen Korb?“ Ihre Augen weiteten sich.
„Tut mir wirklich leid, aber ich habe in zwei Stunden einen Termin mit dem Botschafter. Wenn du mir etwas zu sagen hast, kannst du es auch hier tun. Das ist dann weniger … emotionsbeladen.“
Für eine Sekunde blendete ihn eine Sonnenspiegelung. Es konnte eine Autoscheibe gewesen sein oder ein Fenster, das geöffnet wurde. Er drehte ein wenig seinen Kopf, nicht so weit, dass er direkt in die Richtung blickte, hob die Kaffeetasse zum Mund und fixierte aus den Augenwinkeln den vielleicht zwanzig Meter entfernt stehenden Mann mit dem hellblonden Bürstenhaarschnitt. Er lehnte an einem Geländer, das einen Anlegesteg von dem Bereich des Kaffees trennte und fotografierte mit einer Kamera mit einem auffallend großen Objektiv zu einer Insel im riesigen Hafenbecken hinüber.
Vielleicht war es nur ein Tourist oder ein Fotograf, der hier nach Motiven für eine Postkartenserie suchte. Möglich, dass er sich gedreht hatte und die Linse des Teleobjektivs die Sonnenstrahlen in dem Sekundenbruchteil gespiegelt hatte, als sie auf ihn gerichtet gewesen war. Nichts weiter als ein Zufall.
Sven stellte die Kaffeetasse wieder ab. „Oder ist der neue Auftrag so … schwierig, dass du ihn mir nur mit vollem Körpereinsatz schmackhaft machen kannst? Wen soll ich liquidieren?“
Sie ordnete mit beiden Händen ihre Haare, obwohl es da nichts zu ordnen gab. Sie saßen perfekt. Mit klirrender Stimme sagte sie: „Dir entgeht etwas.“
„Ganz bestimmt. Das, was wirklich hinter deiner Engelslarve vorgeht.“
„Du trägst ja auch eine Sonnenbrille.“
Er nahm sie ab. Sie studierte ein paar Sekunden sein Gesicht, dann zog sie einen Schmollmund. „Du bist mir also immer noch böse. Dabei hatte ich dir gesagt, es ist nicht für die Ewigkeit.“
„Vielleicht hättest du sagen sollen: Es ist für die Katz.“
„Fang bitte nicht wieder damit an, ja?! Ich war es, die dir nach dem Tod deiner Frau Halt gegeben hat. Mehr war es nie und das wusstest du. Ich eigne mich schlecht als Mutter und schon gar nicht für einen Jungen, bei dem niemand weiß, was er als Nächstes tun wird: Goethes Faust fehlerfrei zitieren oder sie dir ins Gesicht schlagen.“
Sie legte ihre Hand auf seine und der Zorn über die Kränkung verschwand aus ihrem Gesicht. Es wurde weich und wenn je ein zerknirschter Engel Sven angeblickt hatte, dann war es jetzt. „Es tut mir leid, ich wollte dich nicht verletzen, aber so war es.“
„Was genau tut dir leid?“ Ärgerlich registrierte er, dass ihm ihre Berührung immer noch angenehm war.
Die Kellnerin kam vorbei. Kerstin bestellte einen offenen Merlot, Sven winkte ab.
„Schwerer Rotwein bei der Wärme? Kopfschmerzen kennst du wohl nicht, oder?“
„`S gibt wenig, was mir Kopfschmerzen macht. Rotwein gehört jedenfalls nicht dazu.“
„Ich erinnere mich. Manche Korsetts sind sehr dehnbar, vor allem die Moralischen.“
Sie legte den Kopf schräg und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Eine Spur in der Sonne glänzende Feuchtigkeit blieb drauf zurück. „Ach? Als ich das letzte Mal ein Korsett angezogen habe, war es aus schwarzem Leder, schweineeng und alles andere als dehnbar. Ich glaube, ich habe immer noch blaue Flecke davon unter meinen Titten. Aber der Typ in meinem Bett war hin und weg. Ich glaube, er hieß Sven und der konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Jetzt macht er auf den hypermoralischen Parteisoldaten.“
„Ich mache es nicht, ich bin es. Ich spiele meine Überzeugung nicht. Du weißt genau, was ich meine.“
„Sagt ausgerechnet der Mann, der Ansgar Hellwigs umgebracht hat und es wie einen Selbstmord aussehen lassen hat.“
„Das war etwas ganz anderes!“
„Aber hatte die Partei dir nicht etwas anderes befohlen? Solltest du ihn nicht umdrehen? Erpressen? Ihn mit Beweisen konfrontieren? Wir hätten einen hohen Regierungsbeamten als Informanten gehabt, einen ganz hohen! Aber nein, nur weil er hier ein paar Frauen ein bisschen härter angefasst hat, musstest du den einsamen Rächer spielen. Überkompensieren nennt man so etwas.“
„Er war ein Schwein.“
„Ich mache auch Schweinereien. Manchmal ziehe ich mir dafür sogar ein Korsett an. Wieso hast du mich dann nicht auch umgebracht? Oder wenigstens ein bisschen gewürgt, nur so zum Spaß? Der Unterschied zwischen ihm und mir ist doch nur, dass dir meine Schweinereien gefallen haben.“ Wieder fuhr sie sich mit der Zunge über die Lippen.
„Lass das!“
„Mache ich dich nervös? Immer noch? Das tut mir leid, wirklich. Ich will dich nicht nervös machen, ich will dich …“
Ihr Wein kam. Sie kostete mit spitzen Lippen, trank einen Schluck und stellte das Glas ab. „Es war unser Fehler. Wir hätten wissen müssen, dass du in Hellwig den gleichen Typ Mann siehst, wie den, der deine Frau umgebracht hat. Wir hatten das nicht bedacht, sonst hätten wir die nie diesen Auftrag gegeben. Auch die Partei besteht eben nur aus Menschen.“ Als sei sie in Gedanken, fuhr sie langsam mit Daumen und Zeigefinger am Stiel des Glases hoch und wieder herunter, als wollte sie das Glas streicheln … oder etwas anderes.
Sie konnte nicht anders, er wusste es. Es lag ihr im Blut. Mit ihr war der DEFA eine große Schauspielerin verlorengegangen. Jedem Schmachtschinken hätte sie ein unverwechselbares Gesicht gegeben.
Er beugte sich ein wenig nach vorn, damit er nicht so laut sprechen musste. „Du führst Befehle aus. Welchen sollst du mir übermitteln?“
Sie fuhr sich wieder durchs Haar, schlug die Beine übereinander und lehnte sich zurück. Spöttisch lächelnd sagte sie: „Zuckerbrot abgelehnt. Nun, wie du willst. Dann kommt jetzt zwar nicht die Peitsche, aber der Ernst des Lebens. Ja, ich führe Befehle aus, und zwar wörtlich und das macht den Unterschied zwischen uns. Im Unterschied zu dir muss ich mir nicht einreden, dass ich die ganze Drecksarbeit, wie du es nennst, für die gute Sache mache. Es ist Arbeit, jemand muss sie machen und da ich sie gut kann, bin ich die Richtige dafür. Du wärst das auch, wenn du nicht vor jedem Auftrag erstmal dein Parteibuch studieren und dann deine Skrupel ersäufen müsstest. Himmel, ein Killer mit Skrupeln! Herrlich!“
Sie lachte glucksend und selbst das hatte etwas Aufregendes. Es war das Kleinmädchenhafte, das sie so perfekt spielen konnte, mit der kleinen, vor den Mund gelegten Hand wie ein Teenager, der zu früh nach Hause kommt und seine Eltern beim Sex auf dem Küchentisch erwischt. „Bist du sicher, dass du nicht willst? Ich würde es auch nicht als Arbeit sehen, versprochen!“
Er knurrte etwas nicht Druckreifes und sie schob mit einem Zucken der schmalen Schultern eine zusammengefaltete Tageszeitung über den Tisch. „Dann eben nicht. Bist du kältefest?“
„Ich habe dich überlebt. Kältefester geht wohl kaum.“
„Gott, bist du nachtragend.“ Indigniert verzog sie das Gesicht. „Aber egal. Wir werden dich in der Botschaft als Kulturattachée ablösen. Du fliegst von Westberlin nach Toronto und von da nach Reykjavik. Dort triffst du Jochen Detjen, einen westdeutschen Seismologen. Er träumt von einer Rinderzucht in Argentinien. Wir verschaffen sie ihm. Er sieht dir gar nicht mal so unähnlich. Er hat sich für die Expedition beworben und nach unseren Informationen kennt ihn niemand der anderen Expeditionsmitglieder persönlich. Alles, was wir über ihn haben, seine Veröffentlichungen, Lebenslauf, Fotos, Namen von Freunden und so weiter findest du hier drin. Du hast drei Monate mit ihm, um dein Wissen aufzufrischen und alles über ihn zu lernen. Hast du noch Fragen, mein Lieber?“
Er ließ sich seine Verblüffung nicht anmerken. Mit allem hatte er gerechnet, aber nicht damit. Einen Moment spielte er mit dem Gedanken, die Frage, die ihm wirklich auf der Zunge brannte, zu stellen. Aber dann sah er ihr Gesicht, erinnerte sich an ihre phänomenale Selbstbeherrschung und wusste im gleichen Moment, dass sie nichts preisgeben würde. Alles, was sie über die Operation Gezeitenwechsel gesagt hatte – wenigstens der Teil, der ihn betraf – war eine Lüge. Das war offensichtlich. Sie stellten ihn kalt.
Als hätte sie seine Gedanken erraten, setzte sie hinzu: „Du hast viel für unsere Sache getan, aber das hat dich auch exponiert. Wir können es uns jetzt wirklich nicht leisten, wenn du mitten in dem Wirbel den falschen Leuten die richtigen Fragen beantwortest, oder schlimmer noch, beim Großreinemachen jemand auf die Idee kommt, dich zur Fahndung auszuschreiben. Geh in die Kälte, und wenn du in einem oder zwei Jahren mit Ergebnissen wiederkommst, haben wir deine Akten beseitigt, dir eine neue Identität beschafft und ein Nest gebaut.“
Er schüttelte leicht den Kopf. „Tut mir leid, aber das kann ich nicht. Nicht in dieser Zeit. Nehmt mich hier heraus, gerne. Ich kann Euch auch zu Hause nutzen. Aber wenn ich zurückkehre und es gibt unser Land nicht mehr, oder nicht mehr so, wem nutzen dann noch meine Informationen?“
„Jetzt enttäuschst du mich aber wirklich. Die freie Marktwirtschaft wartet auf uns, Informationen sind Macht und nichts sonst zählt. Wir bauen da auf dich.“
„Aber nur wenn ich mit einem Druckmittel zurückkomme, mit dem ihr Ängström erpressen könnt, meinst du. Und wenn nicht?“
„So gut, wie du bist, wird das kein Problem sein, über das wir uns Gedanken machen müssen. Schon gar nicht darüber, dass du es nicht tun könntest, weil du die Seiten gewechselt und unsere Sache verraten hast. Täusch dich nicht, wir arbeiten immer noch an einer besseren Welt. Die momentane Entwicklung ist nur ein kleiner Rückschlag. Die Partei überlebt immer. Vielleicht wird sie einen anderen Namen tragen oder sogar in den Untergrund gehen, aber sie wird überleben und wir mit ihr.“ Sie blickte ihn scharf an. „Oder sollten wir deine Akten lieber doch noch ein wenig aufheben für die westlichen Strafverfolgungsbehörden? Mord verjährt da nicht so schnell.“
Ein oder vielleicht sogar zwei Jahre, bis er zurückkehrte. Wenn er zurückkam, denn eine Expedition in die Antarktis war alles Mögliche, aber ganz sicher nicht ungefährlich. Dass zu einem Zeitpunkt, in dem sich die Welt auf den Kopf stellte und der einzige Mensch, der Sven wirklich etwas bedeutete …
In seine Gedanken hinein erhob sie sich und reckte sich theatralisch. „Ach, was für ein herrlicher Nachmittag. Na, willst du nicht doch mitkommen?“
Ein Gentleman wäre jetzt aufgestanden und hätte ihr höflich zum Abschied die Hand gereicht. Weder rührte sich Sven, noch würdigte er sie einer Antwort. In ihm war pures Eis.
„Schade.“ Sie knöpfte ihren Mantel zu. „Das war die Botschaft von Müller. Du kennst ihn ja, er hat sie natürlich viel sachlicher und auch offizieller formuliert, so mit Sozialismus, Partei und Kampf um die Freiheit und so. Aber du wolltest ja die harte Tour, deswegen habe ich sie ein wenig … hm … mit Erläuterungen versehen, damit du sie auch wirklich verstehst.“
Mit einem zuckersüßen Lächeln beugte sie sich zu ihm herab. „Das jetzt ist meine Botschaft, Müller weiß davon nichts, aber er wäre bestimmt begeistert davon: Bei jeder Entscheidung, die du triffst, solltest du daran denken, dass ich deine Schwachstelle kenne, und wir wollen doch nicht, dass die Kinder für die Sünden ihrer Väter büßen müssen, oder?“
Das Einzige, was sich an Sven bewegte, waren seine Lippen: „Du verfickte Drecksau.“
„Du hättest mir keinen Korb geben dürfen, mein Lieber.“ Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Wange, wie er zärtlicher nicht sein konnte. „Damit kann ich ganz schlecht umgehen, wirklich.“
- Anfang
- Kapitel 1: Der vierte Schlüssel
- Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
- Kapitel 3: Die Unbesiegbare
- Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
- Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf
- Kapitel 6: Flachgelegt
- Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies
- Kapitel 8: Kaltes Herz
- Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald
- Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht
- Kapitel 11: Gezeitenwechsel
- Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
- Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz
- Kapitel 14: Der im Regen tanzt
- ...
- Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge
- ...
- Kapitel 32: Das Herz der Sterne
- ...
- Nachwort