Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
Stasi-Strukturen (und die) Methoden, mit denen sie gearbeitet haben … All das wird in die falschen Hände geraten. Man wird sie ein wenig adaptieren, damit sie zu einer freien, westlichen Gesellschaft passen. Man wird Störer nicht unbedingt verhaften – es gibt feinere Möglichkeiten, unschädlich zu machen. Aber die geheimen Verbote, das Beobachten, der Argwohn, die Angst, das Isolieren und Ausgrenzen, das Brandmarken und Mundtotmachen wird wiederkommen … Man wird Einrichtungen schaffen, viel effektiver, viel feiner als die Stasi. Auch das ständige Lügen wird wiederkommen, die Desinformation und der Nebel, in dem alles seine Kontur verliert.
(Bärbel Bohley, 1990)
Winfried Gneidsen wusste nicht, dass mit den Wölfen heulen, nicht unbedingt hieß, dass man nicht trotzdem von ihnen gebissen wurde. Er war Durchschnitt, in seinen Studienleistungen, wie auch in seinem Aussehen: nicht groß, nicht klein, nicht gut aussehend, aber auch nicht wirklich hässlich. Die Natur und er selbst rätselten noch, was einmal aus ihm werden könnte: Ein Genie wie Einstein, ein Massenmörder wie Hitler oder einfach nur einer, der seine Arbeit machte, heiratete, Kinder zeugte und in der Masse der anderen Durchschnittlichen unterging.
Sein Vater war Professor für innere Medizin an der Berliner Charité, seine Mutter eine Augenärztin mit zwei Doktortiteln. Mit dem Elternhaus wäre er in jedem anderen Land die Nummer eins auf der Liste der Bewerber für einen Studienplatz Medizin gewesen. Aber um die Gefährlichkeit dynastischer Intelligenz wusste man im Arbeiter- und Bauernstaat DDR nicht erst seit Pol Pot und so war seine Herkunft gleichbedeutend mit dem letzten möglichen Platz auf der Liste der Anwärter. Doch es gab in jedem System Hintertüren und er wusste, dass keine Armee der Welt ohne wenigstens ein paar intelligente Leute auskam, wobei das für ihn schon ein Oxymoron war – Armee und Intelligenz.
Er verpflichtete sich als Berufssoldat, „vergaß“ dabei seinen Cousin jenseits des Eisernen Vorhangs zu erwähnen und bekam sein Medizinstudium. Drei Jahre später schrieb er an seiner Diplomarbeit, trug die Uniform der NVA mit der silbernen Äskulapschlange auf den Schulterstücken und machte ein Praktikum in einem Militärlazarett in der Nähe von Berlin. Wie in jedem zivilen Krankenhaus tummelten sich auch da Chefärzte, Oberärzte, Stationsärzte und medizinisches Personal, die Lauten und die Leisen, die Denker, die Macher und die Wegducker. Es gab die, die auf den Schultern der Patienten und Kollegen vorankommen wollten und die, die Patienten und ihre Leiden schulterten und für die Erfolg bedeutete, wieder ein Leben gerettet zu haben.
Die, die man nicht sah und hörte, die aber selbst alles sahen und hörten, gab es auch und dann noch – natürlich, es war ja ein Militärlazarett – trampelten auch die durch die Gänge, die den weißen Kittel offen trugen, so dass darunter die Uniform zu sehen war und natürlich gab es auch ihre politischen Stellvertreter.
Der Arbeitsplatz von Winfried Gneidsen war wie eine Waschmaschine, randvoll gestopft mit weißen Kitteln, graugrünen Uniformen, Karrierezielen und enttäuschten Hoffnungen und jeden Morgen schalteten im Wechsel entweder der Chefarzt, der Lazarettkommandant oder sein Politstellvertreter in den Schleudergang. Manchmal runzelte seine Mutter bei ihren seltenen abendlichen Gesprächen auf ihrer Datscha am Müggelsee mit hochgeschobener Brille die Stirn und ermahnte ihn: „Pass auf, was du sagst.“ Er war jung und naiv genug, es nicht ernst zu nehmen.
Schmerz ist der beste Lehrmeister. Der von Winfred Gneidsen begann an einem Montagmorgen um neun Uhr. Alle Katastrophen beginnen an einem Montagmorgen um neun. Manchmal brechen sie nur erst später aus. Als er gegen Viertel nach acht auf seiner Station zum Dienst erschien, blickte Dr. Meissner, der Stationsarzt, nur überdeutlich auf seine Uhr. „Wieder mal eine viertel Stunde zu spät. Der Lazarettkommandant will ein Hühnchen mit Ihnen rupfen. Machen Sie, dass Sie, hinkommen, Gneidsen! Warten Sie vor seinem Zimmer, bis die Besprechung vorbei ist.“
Wesentlich forscher, als ihm innerlich zu Mute war, marschierte Winfried Gneidsen mit langen Schritten zum Stabsgebäude. Das Dienstzimmer des Lazarettkommandanten musste er nicht lange suchen. Hätte nicht schon ein Mann in einem weißen Kittel davor gestanden, hätte es ihm die laute Stimme, die sogar durch die geschlossene Tür drang und durch den Flur hallte, verraten. Winfred wusste, dass sich Oberstleutnant Witwer für seine wöchentliche Dienstbesprechung exakt sechzig Minuten nahm, um den militärischen Schlamperladen, wie er es nannte, auf Vordermann zu bringen und die Ärzte im Offiziersrang „einzunorden“. Was nichts anderes bedeutete, als das er in einer Lautstärke, die auch Winfried auf dem Flur jedes Wort verstehen ließ, seinen Unmut darüber zum Ausdruck brachte, dass sich Bakterien, Krankheiten und Verletzungen trotz seines aufopferungsvollen Kampfes immer noch genau so wenig an den Dienstplan hielten wie gewisse Offiziere des medizinischen Personals.
Der Mann vor der Tür im weißen Kittel streckte die Hand aus. „Holger Weinberg. Ich bin Arzt im Praktikum in der Chirurgie. Und Zivilist. Sieht ja so aus, als wäre ich nicht der Einzige, der heute standrechtlich erschossen werden soll.“
Winfried reichte ihm die Hand. „Winfried Gneidsen, Seelenklempner.“
„Die Rohrzange werden sie wohl auch brauchen.“ Weinberg schien genau so unruhig, wie Winfried sich fühlte.
„Mir scheint eher den Gummihammer.“ Demonstrativ warf Winfried einen Blick auf die Tür zu Witwers Dienstzimmer.
„Pfff … Ich meinte nicht für den Hausdrachen. Der brüllt nur, aber er beißt nicht allzu heftig. Lazarettkommandant ist genau so ein Karrierehöhepunkt wie Leuchtturmwärter auf Cap Arkona. Genosse Oberstleutnant Wittwer frisst nur sein Gnadenbrot hier. Lassen Sie uns noch eine rauchen gehen. Wir hören ja, wenns vorbei ist.“
„Ich rauche nicht.“
„Ach kommen Sie!“ Weinberg zerrte Winfried an seinem Kittel. Widerwillig folgte Winfried ihm.
Ruckartig wurde die Tür des Chefarztes aufgerissen. Weinberg fuhr der Schreck ins Gesicht, Winfried stoppte sie geistesgegenwärtig mit der Hand, bevor sie ihn treffen konnte. Er machte einen Schritt zur Seite und erblickte eine großgewachsene Frau mit hochgesteckten blonden Haaren und einem offenen weißen Arztkittel. Sie hatte noch die Hand auf der Klinke und zu ihren Füßen lag ein blauer Hefter, aus dem einige Papiere herausgefallen waren.
„Извините меня,“ sagte sie.
„Nein, ich muss mich entschuldigen.“ Er bückte sich und hob den blauen Hefter auf, der ihr aus der Hand gefallen war.
Seine ausgestreckte Hand ignorierend, nahm sie ihm ihre Mappe aus der Hand, warf den Kopf und schritt den Flur entlang davon. Er blieb zurück mit der Erinnerung an den herben Duft eines Frühlingsmorgens, blauen Augen voller distanzierter Kühle und mit seiner Verblüffung.
„Gegen die würde ich auch mal gerne laufen.“ Holger Weinberg schnaufte ihr nach. Er sah blass aus. „Mein lieber Scholli! Göttliche Brüste, enge Bluse, zu viel Make-up, Klamotten wie Anfang der achtziger, aber aufregend. Also Moskau oder Leningrad, jedenfalls Russland. Ein blonder Traum aus tausend und einer russischen Nacht … Haben sie bemerkt, dass sie überhaupt nicht erschrocken aussah? Ein Gesichtsausdruck, kalt wie eine Hundeschnauze. Wow, das …“
„Im Gegensatz zu Ihnen. Sind Sie immer so schreckhaft? Sie hat russisch gesprochen.“ Winfried wollte den Mitteilungsdrang Weinbergs unterbinden. Vergeblich.
„Russisch? Na, da habe ich wohl recht. Da lag gestern so `n Wisch beim Chefarzt auf dem Tisch. Eine Ermakowa. Soll gleich zwei Doktortitel haben, einen als Onkologin, einen in Transfusionsmedizin, heißt, sie kennt wahrscheinlich jedes rote und weiße Blutkörperchen in Ihrem Körper mit Vornamen. Also wegen Fußpilz dürfte sie kaum hier sein. Warum dann?“
Er trat dicht an Winfried heran und senkte die Stimme: „Ich hab da so eine Vermutung. Sie sind noch neu hier. Es gibt hier eine geschlossene Abteilung. Das heißt: Posten vor der Tür, Gitter vor den Fenstern, kein Zutritt ohne Erlaubnis, keine Besucher … Straftäter in Uniform … Mörder, Vergewaltiger, unerlaubter Schusswaffengebrauch, Republikflucht … der ganze Bodensatz des Sozialismus. Lieber würde ich eine Bestrafung nehmen statt eines Patienten von da. Im Moment liegt nur einer auf Station. Der soll ein Doppelmörder sein und eine ungewöhnliche Sepsis haben. Vielleicht ist sie ja seinetwegen hier? Ich meine, was sollte sonst eine Frau Doktor Doktor in unser mickriges Armeelazarett treiben?“
Über alles das wusste Winfried bereits Bescheid, ja mehr noch, er hatte sogar den Versuch unternommen, Christian Oldenburg zu besuchen, war jedoch nicht weiter als bis zum Posten an der Tür gekommen.
Winfried trat einen Schritt zurück. Mundwasser gehörte nicht zu den Dingen, die Holger Weinberg morgens benutzte. Es war wieder einer jener Momente, in denen Winfried sich wünschte, es möge für Leute wie Weinberg eine Pille geben, die dafür sorgte, dass sie Zugriff auf die Areale in ihrem Gehirn bekamen, in denen Mitgefühl, zwischenmenschliche Intelligenz und wenigstens ein bisschen Selbstreflexion ungebraucht vor sich hin schnarchten.
Es war die sich öffnende Tür zum Besprechungsraum, die Weinberg dann doch verstummen ließ. Ärzte strömten auf den Flur und unterhielten sich.
„Gneidsen!!!! Weinberg!!!!“ Mühelos übertönte die Stimme von Oberstleutnant Witwer den Lärm auf dem Flur. Köpfe wandten sich ihnen zu und Weinberg wurde blass.
„Ach kommen Sie! Sagten Sie nicht selbst, er bellt nur, aber beißt nicht?“ Winfried zog ihn am Arm.
„Ich hab empfindliche Trommelfelle.“
„In dem Laden hier gibts bestimmt auch einen Ohrenarzt?“ Winfried grinste. „Kommen Sie! Bringen wir es hinter uns.“
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„Genosse Gneidsen!“ Die sonore Stimme Witwers klang viel zu freundlich. Aus seinem Gesicht konnte Winfried nichts ablesen – Witwer sah ruhig und sicher aus, und vielleicht sogar ein wenig gelangweilt: ein großer, grauhaariger Mann in einer perfekt sitzenden Uniform mit Bügelfalten zum Brotschneiden, den eine so unbedeutende Sache wie ein Diplomand von wichtigen Aufgaben abhielt.
„Ja, bitte?“, erwiderte Winfried und Weinberg neben ihm stöhnte leise auf. Die korrekte Erwiderung hätte lauten müssen: Hier Genosse Oberstleutnant!
Witwer kam hinter seinem Schreibtisch hervor und goss über Winfried sein bestes kaltes, professionelles Lächeln aus „Sie haben also ein Problem mit Autorität, Genosse Gneidsen. Das ist nicht nur mir aufgefallen.“ Jetzt klang er wie ein hungriger Wolf. „Wir sind hier eine militärische Einheit. Nur, falls Sie das immer noch nicht begriffen haben und unterliegen damit wie jede andere auch der Gefechtsbereitschaft. Ich bin dafür verantwortlich. Wenn für die Regimenter und Bataillone rund um Berlin Alarm ausgelöst wird, verlegen sie in ihre Wechselkonzentrierungsräume, Verletzte sind dabei vorprogrammiert, bevor auch nur ein Schuss gefallen ist. Menschen, deren Leben davon abhängt, dass wir hier an jedem Tag des Jahres, egal ob Wochenende, Ostern oder Weihnachten, innerhalb von zwei Stunden mit fünfundachtzig Prozent unseres Personalbestandes bereit sind, Leben zu retten. Das, Genosse Gneidsen, nennt man in der NVA Gefechtsbereitschaft!“
Wort für Wort hatte seine Stimme einen sauberen Steigerungslauf hingelegt. Jetzt kam das Finale furioso mit allem, was eine Offizierslunge so hergab: „Haben Sie je darüber nachgedacht, dass wir gar nicht mehr hier sein könnten, wenn Sie wiederholt eine Stunde zu spät zum Dienst erscheinen? Eine Stunde, in der bereits Menschen gestorben sein können, die Sie hätten retten können, wenn Sie pünktlich gewesen wären? Menschen, die die gleiche Uniform tragen, auf die auch Sie geschworen haben!“
Seine dunklen Augen schleuderten Blitze, gegen die ein Ultraviolettlaser eine Streichholzflamme war und Winfried ging innerlich in Deckung. Wenn Witwer das so aufzog, drohte Winfried tatsächlich Ärger. Gefechtsbereitschaft war der Fetisch der NVA, der Heilige Gral und der weltweite Sieg des Kommunismus in einem. Was nach Meinung Winfrieds völliger Blödsinn war. Auf der anderen Seite des Eisernen Vorhangs, bei der Bundeswehr, klappte man am Freitag um siebzehn Uhr die Bürgersteige für das ganze Wochenende hoch und am Montag vor acht Uhr nicht wieder herunter. Kein Rad drehte sich da mehr, weil keiner da war, der hätte auch nur die Waffenkammer aufschließen können. Wenn die NVA an einem Wochenende losgeschlagen hätte, hätte man sich drüben am Montag gewundert, dass eine Fahne mit Hammer und Sichel im Ährenkranz über dem Kasernentor flatterte – der schnellste und unblutigste Krieg der Menschheitsgeschichte hätte nur ein Wochenende gedauert. Gefechtsbereitschaft – einfach lachhaft im Zeitalter der Satellitenaufklärung, fand er. Diese Erkenntnis lag jedoch für eingefleischte Militaristen wie Oberstleutnant Witwer außerhalb ihres kognitiven Horizontes und damit kam auf Winfried ein Problem zu.
Ruhiger sagte Witwer: „Ich habe mich mit dem Politoffizier beraten. Er ist der Meinung, dass es für eine aktenkundige Bestrafung noch zu früh ist, und ich stimme ihm da zu. Schließlich wollen wir nicht gleich Ihre ärztliche Karriere in unserem Staat ruinieren, sondern einen guten Offizier aus Ihnen machen.“
Unauffällig atmete Winfried aus. Der Korb schien noch einmal an ihm vorbeigegangen zu sein. Dass er kein guter Offizier, sondern ein guter Arzt werden wollte und dass das eine das andere für Winfried ausschloss, begriff Wittwer nicht. „Heute Mittag melden Sie sich beim Stationsarzt Major Braun in der geschlossenen Abteilung“, fuhr der fort. „Am Freitag um fünfzehn Uhr erwarte ich einen Bericht von Ihnen über den Patienten, den er Ihnen zuweisen wird, nebst einem fundierten Therapieansatz. Sie werden Hilfe dabei haben. Dazu werden Sie nach dieser Besprechung nebenan, im Zimmer 201, erwartet. Genosse Weinberg?“
„Äh … hier, Genosse Oberstleutnant.“
Die Augenbrauen Witwers zuckten in die Höhe. „Betrachten Sie das als Warnung. Noch ein Verstoß Ihrerseits, dann sind Sie bei mir auch mode. Auch wenn Sie keine Uniform tragen.“ Er blies die Wangen auf. „Wegtreten!“
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Auf das „Kommen Sie ruhig herein“, von drinnen drückte Winfried die Tür auf. Er sah einen großen Mann mit breiten Schultern, Stirnglatze und einem weißen Baumwollhemd an der Längsseite des großen Konferenztisches sitzen und in einem Aktenordner blättern. Vor ihm stand eine Tasse, die Untertasse daneben, eine zweite Tasse auf dem Platz gegenüber und in der Mitte des Tisches eine Thermoskanne. Ein graues Sakko hing halb heruntergerutscht von der Stuhllehne hinter ihm. Wittwer hätte einen Wutanfall bekommen, hätte er das Chaos gesehen.
„Guten Tag.“ Winfried trat ein und lehnte die Tür so an, wie er sie vorgefunden hatte.
Ohne den Kopf von seinen Papieren zu heben, wies Bernhard Müller mit der linken Hand auf den Platz am Tisch ihm gegenüber. „Ich bin gleich für Sie da, Genosse Gneidsen. Machen Sie bitte die Tür richtig zu und gießen Sie sich eine Tasse Kaffee ein. Man weiß ja nie, wer auf dem Flur noch mithört. Ich bin Bernard Müller.“ Er sprach leise, nicht allzu schnell, sehr deutlich und verschluckte keine Endungen. Er war ein Mann, der Wert darauf legte, dass man ihn verstand.
Winfried goss sich Kaffee ein, lauschte dem leisen Gluckern in diesem Raum, neben dem vorhin noch die verbalen Fetzen geflogen waren und dachte, dass sich das mit der Stille sehr schnell erledigt haben würde, wenn Witwer hier hereinkäme. Unwillkürlich drehte er den Kopf in Richtung Tür.
„Er wird nicht kommen. Sie müssen mit mir vorliebnehmen. Was Ihnen wahrscheinlich auch lieber sein dürfte. Subtilität gehört nicht zu den Stärken von Oberstleutnant Witwer. Er hat andere.“ Müller klappte den Aktenordner zu. „Die Akte Ihres Patienten. Faszinierende Lektüre. Aber vorher sollte ich wohl noch etwas klären.“
Das war eine gute Idee, fand Winfried. Zum Beispiel, was Müller hier machte. Er trug weder eine Uniform, noch wirkte er wie ein Angehöriger des medizinischen Dienstes. Die Hand hatte er Winfried ebenfalls nicht gereicht, stattdessen in der Akte geblättert. Winfried glaubte nicht, dass er es einfach nur vergessen hatte. Ein Händedruck bricht Eis, schafft Vertrauen und manchmal sogar zwischenmenschliche Wärme, mehr, als ein freundliches Gesicht wie seines es konnte, auch wenn ihm das Lächeln durchaus stand. Es wirkte nur ein kleines bisschen zu professionell. Wenn er es nicht getan hatte, gab es einen Grund dafür und so gepflegt, wie er aussah, konnten das kaum Läuse sein. Oder etwa doch? Nicht die Krabbeltierchen, eher die, die sich am liebsten in Telefonleitungen einnisteten.
„Wie geht es Ihrer Familie?“ Unschuldig schaute Müller mit seinen pflastersteingrauen, eng beieinanderliegenden Augen Winfried an.
„Meine Eltern würden es mir kaum sagen, wenn es ihnen schlecht ginge“, antworte Winfried und ging innerlich in Deckung.
Durchaus freundlich wippte Müller mit dem Kopf auf und nieder. „Natürlich. So sind sie, die Eltern. Kümmern sich immer um ihre Kinder. Ich dachte übrigens eher an ihre entferntere Verwandtschaft.“
„Ich habe keine.“ Ein EKG hätte jetzt eine leicht erhöhte Herzfrequenz gezeigt bei Winfried.
„Von der Sie wissen … wollen.“
Winfried presste die Lippen zusammen. Nun war ihm klar, warum Müller sich so einfach hier einquartieren konnte. Leute wie er konnten sich überall, wo sie wollten, einquartieren und taten es auch.
Müller kniff sein linkes Auge ein wenig zusammen, als zielte er über einen Gewehrlauf. „Ja, Sie denken richtig. Ich bin ein Teil von jener Kraft, die stets das Gute schafft.“ Er lachte auf. „Mein ‚Faust‘ ist ein bisschen eingerostet. Im Gegensatz zu Ihnen habe ich nie studiert.“
„Scheint mir eher ein generelles Verständnisproblem für Goethe zu sein.“
„Es scheint mir ein generelles Verständnisproblem bei Ihnen zu sein, junger Mann. Mich interessiert nicht, mit welchen Tricks Sie sich Ihr Studium trotz Ihrer Verwandtschaft im Westen erschlichen haben. Mich interessiert nur, dass Sie wissen, wo Sie stehen, und das tun Sie doch jetzt, oder?“
Er nickte dazu und es animierte zum Mitmachen. Leute wie er hatten eine Ausbildung in so etwas bekommen, eine, die nicht Bestandteil einer Psychologievorlesung für Normalsterbliche wie Winfried war. Winfried nickte auch und so waren sie nichts weiter als zwei Männer, die sich freundlich zunickten, als sei alles in bester Ordnung. Nur, dass Müller den Knüppel der Macht in der Hand hatte und er alles dafür tat, ihn nie wieder hergeben zu müssen. Das hat sie so an sich, die Macht. Sie bringt auch die Besten dazu, ihre Menschlichkeit im Klo zu versenken. Bei Müller war dieser Moment schon so lange her, dass er sich nicht einmal mehr daran erinnerte.
Er sagte: „Ich kümmere mich ein wenig darum, dass hier im Lazarett alles seinen geordneten Gang geht. Deshalb muss ich mich auch mit der Frage beschäftigen, warum Sie sich vor ein paar Tagen für einen Patienten von Dr. Braun interessiert haben. Warum?“
Daher wehte der Wind. Winfried hatte sich schon gefragt, ob es ein Zufall war, dass er sich genau in der Station melden sollte, in der Christian Oldenburg lag. Aber es gab für Winfried keinen Grund, ein schlechtes Gewissen zu haben. „Meinen Sie den Patienten Oldenburg? Reine Neugier. Ich habe ihn vor ein paar Jahren getroffen. Bei einem Wettkampf. Wir waren fast noch Kinder. Unsere Begegnung dauerte nicht lange.“
„Zwölf Sekunden.“ Müller lachte. „Uchi-Mata und aus.“
Winfried verkniff die Lippen.
„Sonst war weiter nichts?“ Etwas Lauerndes war in Müllers Augen.
„Wir haben noch ein bisschen gefachsimpelt hinterher. Wir sind ja schon am Nachmittag gleich nach dem Finale zurückgefahren. Er verlor es. Wenn Sie mich fragen, absichtlich.“
„Kein normales Kind in dem Alter verliert mit Absicht den Kampf um den DDR-Meistertitel.“
„Wenn Sie es sagen.“
„Erinnert er sich noch an Sie?“
„Wohl kaum.“
„Warum interessieren Sie sich dann für ihn?“
Weil Winfried noch immer sauer war. Es war bei den Jugend-DDR-Meisterschaften gewesen und er hatte sich Hoffnungen auf eine Goldmedaille gemacht. Mit einem Hüftschenkel-Wurf hatte Christian Oldenburg diese Träume in der ersten Runde beendet. Mit der ersten Aktion des Kampfes überhaupt und dann hatte er die Goldmedaille weggeworfen, indem er im Finale sich hatte einfach umhauen lassen. Winfried fühlte sich betrogen. Er hätte den Finalkampf gewonnen, war er sich immer noch sicher.
„Warum ist das wichtig für Sie?“ Winfried ging die Fragerei auf den Nerv. „Hat er irgendetwas getan, was mich schuldig macht, ihn zu kennen?“
„Vielleicht?“ Müller schob den Aktenordner über den Tisch. „Sie sind mir wichtig, Genosse Gneidsen. Deswegen habe ich mir sogar seine Akte aus Berlin kommen lassen. Seien Sie bitte so nett, und werfen Sie einen Blick hinein. Leider kann ich sie Ihnen nicht überlassen und was Sie darin lesen, werden Sie für sich behalten müssen.“
Es dauerte etwas, bis Winfried sich zurechtfand. Handschriftliche Einträge wechselten sich nicht immer chronologisch ab mit maschinengeschriebenen Blättern. Es war keine Patientenakte mit medizinischen Daten, eher ein Lebenslauf, geschrieben von anderen über jemanden, dessen Name überall entweder sorgfältig geschwärzt oder durch ‚die Person‘ ersetzt worden war. Seit ihrem vierzehnten Lebensjahr war ‚die Person‘ beobachtet worden, selbst intimste Familiendetails waren aufgelistet. Auch der Kampf in Frankfurt/Oder war darin aufgeführt wie auch alle anderen, die Christian Oldenburg auf dem Weg bis zur Silbermedaille geführt hatte.
Mit jedem Wort, das er las, fühlte Winfried sich in einem Sumpf versinken, von dem er niemals geglaubt hätte, dass er in seinem Land existierte.
Er blätterte noch einmal zurück. Auch der Tod von Christians Mutter war aufgeführt und das, was danach geschehen war. Er hatte sich neben die Leiche auf den kalten Boden gesetzt, ihren Kopf auf seine Knie gebettet und ihr seine Jacke übergelegt. Nie hatte er über das gesprochen, was in den zwei Stunden geschehen war, bis der erste Frühaufsteher vorbeigekommen war. Er hatte nicht um Hilfe gerufen, nicht geschrien, gar nichts. Er hatte nur dagesessen, den Kopf seiner Mutter auf dem Schoss und geschwiegen. Nicht einmal geweint hatte er.
Winfried legte die Akte so vorsichtig auf den Tisch zurück, als sei sie Nitroglycerin. Nur weil er sie gelesen hatte, fühlte er sich genau so schuldig, wie es diejenigen waren, die das Leben von Christian Oldenburg beobachtet hatten.
Müller hatte sich Kaffee eingegossen, war dann aufgestanden und im Raum hin und her gegangen, aber Winfried hatte gespürt, dass er ihn keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Jetzt nahm Müller wieder Platz, stützte die Ellenbogen auf den Tisch, stieß die Fingerkuppen von linker und rechter Hand gegeneinander und blickte Winfried mit einem Ausdruck von Mitgefühl an.
„Ich kann wirklich verstehen, was Sie jetzt denken,“ begann er. „Man fühlt sich besudelt, nahezu mitschuldig, weil man in einem Land lebt, in dem so etwas möglich ist. Aber manchmal ist es notwendig, damit Kinder unbeschwert lachen und Menschen wie Sie in Ruhe studieren können. Schon sein Vater ist viel klüger, als gut für ihn ist und wenn auch für unser Land sehr nützlich, so doch kaum zu kontrollieren. Aber sein Sohn …“
Er ballte seine Hände zu Fäusten und legte sie vor sich auf den Tisch. „Der Mann hat ein Computergehirn und wäre für Größeres gut, als in der Ostsee herum zu plantschen. Er hätte auf eine Eliteuniversität gehört, aber so etwas haben wir hier nicht. Man hat Tests mit ihm gemacht – die Ergebnisse sprengen jede Skala. Er vergisst nichts, kann sich den Inhalt ganzer Bücher merken, die er nur einmal gelesen hat, Wort für Wort und auch noch Verknüpfungen herstellen und Schlussfolgerungen ziehen, auf die kein normaler Mensch kommen würde. Sie können sich absolut sicher sein, dass er sich sehr genau an Sie erinnert und an das, was damals geschah.“
Auflachend ließ er sich wieder in seinen Stuhl fallen und knetete seine Hände. „Wissen Sie, was er so treibt, wenn seine Genossen Ausgang haben? Er geht in die Bibliothek und bringt die zehn Bücher zurück, die er sich eine Woche zuvor geliehen hat. Dann sucht er sich ein neues – nur eines – gezielt aus. Die anderen neun findet er, indem er sich mit geschlossen Augen an den Regalen entlang tastet und aufs Geratewohl zugreift. Jede Woche macht er das, seit über drei Jahren.“ Er schüttelte den Kopf. „Man hat ihn nach Kühlungsborn geschickt und das Einzige, was man damit erreicht hat, ist, dass er jetzt auch noch über eine nahezu perfekte Selbstkontrolle verfügt und niemand mehr weiß, was er in seinem Gehirn ausbrütet. Seien Sie also auf einiges gefasst, wenn Sie mit ihm reden und vor allem – unterschätzen Sie ihn nicht. Er spricht nicht, wie man es von einem wandelnden Lexikon erwarten sollte.“
„Sie haben Angst vor ihm.“
„Vor ihm? Nein. Ich fürchte Dinge, die ich nicht verstehe, von denen ich nicht weiß, warum sie geschehen und welche Absicht dahintersteckt. Vor allem dann, wenn ich mir sicher bin, dass tatsächlich eine Absicht dahintersteckt. Nach landläufiger Definition sehen Menschen wie Sie in ihm wahrscheinlich nichts weiter als einen Soziopathen und vielleicht haben Sie damit sogar recht. Wenn Sie das Attribut ‚hochfunktional‘ noch hinzufügen. Er ist nur glücklich, wenn er seine Nase in Bücher oder in Akten vergraben kann, andere Leute sind ihm ein Gräuel. Der Mann war als Kind unbeherrscht bis zur Selbstzerstörung, jede Form von Autorität hat er abgelehnt. Seine Mutter war die Einzige, die ihn einigermaßen kontrollieren konnte. Ihr Tod hat ihn vollkommen verändert. Er wirkt wie Zeitbombe, die man nicht einmal mehr ticken hört. Er trägt eine ständige Wut gegen alles und jeden in sich, die er aber eisern unter Kontrolle hält, wenigstens meistens. Die Male, an denen sie stärker war als seine Kontrolle, waren spektakulär.“
Müller lachte kurz auf. „Wissen Sie, was eine Schildkröte ist?“
„Natürlich.“
„Ich glaube, eher nicht.“
„Klären Sie mich auf.“
Müller entkrampfte seine Hände und legte sie flach vor sich auf den Tisch. „Ein Kompanieflur, einhundert Meter lang, drei Meter breit, komplett gefliest. Es ist abends gegen neun, die Offiziere sind zu Hause und es gilt nicht mehr die offizielle militärische Hierarchie, sondern die nicht auszurottende inoffizielle: Die EKs, die Entlassungskandidaten, haben das Sagen, die, die nur noch wenige Wochen zu dienen haben. Sie lassen das Frischfleisch auf dem Flur antreten und dann bekommt jeder von ihnen nacheinander fünf Stahlhelme verpasst für Ellenbogen, Knie und Kopf. Die EKs wollen schließlich den gleichen Spaß haben, den andere anderthalb Jahre vor ihnen auch mit ihnen hatten. Dann werden die Frischlinge über den Flur gestoßen, auf den Knien natürlich, hübsch nacheinander und derjenige, der dabei am lautesten gegen die Wände scheppert, bekommt den nächsten Vierundzwanzigstundendienst. Haben Sie eine Ahnung, wie sich das anfühlt, hilflos, auf Stahlhelmen an Knien und Ellenbogen? Sie können nicht steuern, nicht bremsen, jeder, an dem sie vorbeirutschen, verpasst Ihnen noch einen Tritt und der Kompanieflur hallt wieder vom Lachen der EKs über ihr dämliches, von Angst verzerrtes Gesicht. Der Mann, der zwölf Sekunden gebraucht hat, um Sie umzuhauen, war als Letzter dran.“
Winfried versuchte, sich das vorzustellen, aber er war sofort zum Studium eingezogen worden und hatte nur eine sechswöchige Grundausbildung mitmachen müssen, damit er wenigsten wusste, an welchem Ende man die Kalaschnikow hielt.
Müller fuhr fort: „Sie haben fünf Leute gebraucht, um ihn überhaupt zu Boden zu bringen, und deswegen haben sie ihn dann zur Strafe auch noch die Treppen hinunter getreten. Sechsunddreißig Steinstufen. Unten blieb er genau zu Füßen des Offiziers vom Dienst liegen, der dem Krawall nachgehen wollte. Als der OvD den Kompanieflur betrat, fand er nichts mehr vor, der Buschfunk hatte die EKs rechtzeitig gewarnt. Christian Oldenburg wurde im medizinischen Punkt die Schulter eingerenkt, dann wurde er wieder auf die Kompanie geschickt. Um zweiundzwanzig Uhr dreißig meldete er sich beim Unteroffizier vom Dienst zurück. Danach ging er seelenruhig in das Zimmer der vier Soldaten, die ihn die Treppe hinuntergeschubst hatten. Drei Minuten später rief der UvD die Wache und den Notarzt.“
Winfried zog die Augenbrauen hoch.
Trocken fügte Müller hinzu: „Zweien hat er die Nase gebrochen, Einer hatte ein Loch im Kopf und eine Unterkieferfraktur und das Gesicht von Oldenburg sah aus wie ein Fußball, den man blau angemalt und die Luft abgelassen hat. Drei Wochen Lazarett.“
„Ist das ein Wunder, nachdem, was passiert ist? Der Junge hat zwei Stunden mit dem Kopf seiner halbnackten toten Mutter im Schoss alleine in der Bushaltestelle gesessen, ohne um Hilfe zu rufen. Ist Ihnen nicht klar, was das bedeutet? Er hat mit den Menschen gebrochen! Er vertraut keinem Menschen mehr, Hilfe wird er von niemandem annehmen, denn jeder ist für ihn der Mörder seiner Mutter. Und trotzdem …“ Winfried wischte sich den Schweiß von der Stirn. „Er ist ein gemütskranker Mensch, der es selbst nicht weiß, weil er alle anderen für krank hält.“
„Was hat man euch jungen Leuten bloß für Flausen in den Kopf gesetzt. Jeder erlebt in seinem Leben Dinge, die ihn aus der Bahn werfen können. Deswegen ist man noch lange nicht krank. Es kommt darauf an, wie man damit umgeht und vor allem, dass man es überwindet. Wozu er offenbar nie in der Lage war, aber immerhin hat es gereicht, uns zu täuschen und dazu gehört eine ganze Menge.“
Müller schnaubte. „Schnallen Sie sich an, jetzt kommt die Realität. Ein Trupp Taucher ging vor drei Wochen ins Wasser, er und zwei der Soldaten, die er drei Jahre zuvor zusammengeschlagen hatte. Sie hatten ihren Dienst verlängert und waren diejenigen, die seinen Prüfungstauchgang beurteilen sollten. Nur er tauchte wieder auf. Blutend aus mehreren Messerstichen, wurde er aus der Ostsee gefischt. Die anderen beiden fand man später, tot, wie man toter nicht sein kann. Ursache: Stichverletzungen mit einem Tauchermesser. Er behauptet, sich an nichts erinnern zu können, aber die Fakten sind für die Militärstaatsanwaltschaft eindeutig: Er hatte noch eine Rechnung mit ihnen offen und hat sie eiskalt abgeschlachtet, als er die Gelegenheit dazu hatte. Hass ist, bei seiner Vorgeschichte, ein schwer zu schlagendes Motiv. Aber für mich nicht. Er verfällt von Tag zu Tag mehr und die Verletzungen heilen nicht. Wenn der Prozess fortschreitet und den Ärzten nicht ein Wunder gelingt, wird er sterben. Sie wissen nicht, woran es liegt, schließen aber nicht aus, dass es tatsächlich eine Auswirkung der extremen Ausbildungsbelastungen sein kann, der die Männer über Jahre ausgesetzt waren. Doch mein Instinkt sagt mir, dass da noch mehr ist. Ich bin mir sicher, dass er ein entscheidendes Detail unterschlagen hat, und ich will wissen, welches.“
„Warum?“
„Weil es mein Beruf ist, so etwas zu wissen.“ Mit einem Ruck schob Müller seinen Stuhl zurück, ging zum Fenster und blickte hinaus.
Winfried ahnte, was Müller von ihm wollte. Entrüstet fragte er: „Warum führen wir eigentlich dieses Gespräch? Ich bin Psychologe, kein Verhörspezialist. Suchen Sie in Ihrer eigenen Jauchegrube.“
Ohne das Winfried Gneidsen es sehen konnte, lächelte Müller. Er hielt nicht viel davon, Menschen zur Mitarbeit zu zwingen. Solche Leute neigten dazu, nur die Hälfte der Informationen weiterzugeben, sie zu filtern oder zu lügen. Man musste immer wieder erneut Druck ausüben, um brauchbare Informationen zu bekommen, und da sie Amateure waren, verschlissen sie viel zu schnell, weil sie sich früher oder später verrieten. Winfried Gneidsen hingegen hatte sich bereits emotional engagiert, ohne dass es ihm bewusst war, und zwar für Christian Oldenburg. Er würde versuchen, ihm bis zur letzten Sekunde zu helfen, weil er in ihm das Opfer sah und mit dieser Haltung würde es ihm leicht fallen, dessen Vertrauen zu gewinnen. Winfried Gneidsen hatte sich gegen Müller entschieden, genau wie Müller es gewollt hatte. Der Rest war dann nur eine Frage der entsprechenden Abhörtechnik im Krankenzimmer, in Gneidsens Unterkunft und wenn es sein musste, auch in der Datscha seiner Eltern.
„Einen Dreck sind Sie, wenn ich es will!“
Müller fuhr herum und blanke Wut schien plötzlich in seinen Augen zu glühen. „Zuerst sind Sie Mitglied der Partei, als Zweites zukünftiger Offizier der Nationalen Volksarmee, dann kommt eine Weile gar nichts und erst dann alles andere. Und das mit der Jauchegrube, junger Mann, habe ich überhört. In Ihrem Interesse. Sie wollen doch, dass Ihre Kinder später einmal studieren dürfen und Ihre Eltern noch lange und erfolgreich forschen können, oder? Dann sollten Sie etwas kooperativer sein. In jedem System macht die Seite, auf die man sich stellt, den Unterschied aus. Sie können mit den Wölfen heulen, gegen sie ankläffen oder sich vor ihnen verstecken und sich selbst jeden Tag die Hucke volllügen. Aber nicht uns! Nicht mich! Gut und Böse sind nur eine Frage des Standpunktes, der wiederum abhängig ist von dem Anteil an Macht, den wir Ihnen zugestehen. Das Sein bestimmt das Bewusstsein, hat Marx gesagt. Ich sage Ihnen etwas anderes: Gut und Böse sind weder taugliche Kategorien zur Bewertung der objektiven Realität, noch Ihres Lebens, Genosse Gneidsen. In dem ist nur eines wirklich und das mit absoluter Sicherheit: Täter und Opfer. Also überlegen Sie genau, sehr genau, wer davon Sie sein wollen. Ich bin nicht wegen Christian Oldenburg hier, sondern wegen Ihnen. Sie haben Potential, Genosse Gneidsen und ich möchte nicht, dass Sie es durch unbedachte Handlungen verschleudern.“
Er warf sich das Sakko über und raffte die Akte zusammen. „Meine Arbeit wartet nicht und Sie sind ganz gewiss nicht das wichtigste Problem auf meinem Schreibtisch.“
Er warf Winfried einen prüfenden Blick zu, dann ging er ein wenig gebeugt mit leisen Schritten zur Tür. Ein Beamter, selbstlos, nur das Beste für sein Land wollend und niedergedrückt unter der Last seiner Verantwortung für das Wohlergehen des Staates und seiner Bürger.
Und die Erde war eine Scheibe. Winfried sagte leise: „Da könnte man doch glatt auf den Gedanken kommen, dass es das Beste für alle wäre, wenn er einfach so einschläft, ohne noch einmal die Augen zu öffnen.“
Müller hatte Ohren wie ein Luchs. Eine Berufskrankheit. „Könnte man annehmen“, sagte er bedächtig. „Wenn es mir egal wäre, was da unten wirklich passiert ist. Wenn es mir egal wäre, ob er nur ein Opfer der Umstände geworden ist oder ob wir mit unserer Ausbildung aus dem traumatisierten Kind einen zwar hochfunktionalen, aber psychopathischen und letztendlich nicht mehr kontrollierbaren Killer gemacht haben, den wir besser für immer wegsperren sollten. Was meinen Sie, Genosse Gneidsen? Ist es mir egal?“
Er wippte in seinen schwarzen Lederschuhen vor und zurück, schaute auf den dicken Ordner unter seinem Arm, dann Winfried in die Augen. „Achten Sie auf Ihre Gedanken. Menschen wie Sie sind die Zukunft unseres Landes. Aber nur dann, wenn ihre Akten bei uns nicht auch so dick sind wie die hier unter meinem Arm. Zwar hat jede Gittertür zwei Seiten, aber der Schlüssel passt nur auf einer. Verlieren Sie das so wenig aus den Augen wie wir Sie.“ Geräuschlos schloss er die Tür hinter sich.
Ein paar Minuten grübelte Winfried noch über das Gespräch nach. Er hielt Müller für einen der Apparatschiks, wie es sie überall gab, einen Bürokraten, der seine Felle davonschwimmen sah und sich noch einmal wichtig tun wollte.
Die Sowjetunion wankte und die Geier kreisten auch über den anderen Staaten des Ostblocks. Vor vier Jahren war Michael Gorbatschow Generalsekretär der KPdSU geworden und hatte dem Begriff ‚sozialistische Demokratie‘ eine neue Bedeutung verliehen. Seine Denkweise und seine Reden verstießen so sehr gegen das politische Bild des realen Sozialismus, dass in der DDR der Sputnik, ein sowjetisches Publikationsorgan, verboten worden war. Polnische Gewerkschafter hatten ihre Regierung an den Verhandlungstisch gezwungen und in Ungarn hatte der Regierungschef, Janos Kadar, abdanken müssen. Selbst in der DDR gewann eine ‚Initiative Frieden und Menschenrechte‘ an Bedeutung und jeden Montag marschierten mehr Menschen, nach Freiheit rufend, durch die Straßen der Städte der DDR.
Etwas lag in der Luft, und wer die politische Entwicklung verfolgte, wusste, dass sich der Sozialismus auf seinem Totenbett in den letzten Zuckungen wand. Niemand wagte vorauszusagen, wohin sich das Rad der Geschichte drehen würde. Nur eines war gewiss – es würde sich drehen und Männer und Frauen wie Müller sahen dann einer mehr als ungewissen Zukunft entgegen.
Winfried war sich sicher, dass in Ostberlin in der Normannenstraße, dem Hauptquartier des Ministeriums für Staatssicherheit, schon die Akten herausgesucht wurden, die zuerst vernichtet werden mussten. Es erschien ihm nur logisch, dass man versuchte, die Spuren dessen, was man angerichtet hatte, zu beseitigen, und er fragte sich, ob Christian Oldenburg eine solche Spur war oder ob der in der Dunkelheit der Tiefe vielleicht auf eine solche gestoßen war.
- Anfang
- Kapitel 1: Der vierte Schlüssel
- Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
- Kapitel 3: Die Unbesiegbare
- Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
- Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf
- Kapitel 6: Flachgelegt
- Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies
- Kapitel 8: Kaltes Herz
- Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald
- Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht
- Kapitel 11: Gezeitenwechsel
- Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
- Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz
- Kapitel 14: Der im Regen tanzt
- ...
- Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge
- ...
- Kapitel 32: Das Herz der Sterne
- ...
- Nachwort