Kapitel 11: Gezeitenwechsel


„Ich liebe … ich liebe doch alle … alle Menschen … na ich liebe doch … ich setzte mich doch dafür ein!“
(Erich Mielke am 13. November 1989 vor der DDR-Volkskammer)

Ostberlin, Normannenstraße, Herbst 1989

Oberst Müller hatte Sorgen. Er stand an seinem Lieblingsplatz am Fenster, blickte auf den wenigen Verkehr in der Straße unter ihm und hörte nur mit halbem Ohr dem Rapport von Kerstin Wendt hinter ihm zu. Bis morgen hatte er dem General die endgültige Liste der Operation Gezeitenwechsel vorzulegen und das bedeutete, dass Müller entscheiden musste, welche seiner langjährigen Mitarbeiter der westdeutschen Justiz ausgeliefert werden mussten, damit die anderen geschützt werden konnten. Die Akten Letzterer würde man „bereinigen“ oder gleich ganz verschwinden lassen, je nachdem, ob sie für einen Ruhestand vorgesehen waren oder in einem neuen Netz unter dem neuen System weiter ihrem Beruf nachgehen sollten. Dabei musste er auch berücksichtigen, welche Mitarbeiter bereits durch den CIA und den BND identifiziert und damit kompromittiert sein konnten und welche die westlichen Geheimdienste für sich ‚auf Eis‘ legen wollten.
Er drehte sich zurück ins Zimmer und unterbrach den Redefluss von Kerstin Wendt. „Ist er beschnitten?“
„Nein.“ Ihre Antwort kam ohne jedes Zögern.
Er nickte. „Sie haben einen Blick für Details. Jetzt möchte ich wissen, was nicht in ihrem Bericht steht. Reden Sie über Ihre Eindrücke und Vermutungen.“
Schnell schaltete sie um. „Meine Frage nach dem Generalsekretär schien ihn überrascht zu haben. Das konnte ich deutlich spüren, jedoch nicht negativ, sie schien keine große Bedeutung für ihn zu haben. Hingegen wirkte sein Agieren im Fall der von ihm gewünschten Information über den Unfall in der Ostsee verbissen, so, als würde diese Information von eminenter Wichtigkeit für ihn sein.“
„Hatten sie das Gefühl, dass er tatsächlich eine diplomatische Note zu Stande gebracht hätte?“
Sie überlegte einige Sekunden, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich denke nicht.“
„Warum nicht?“
„Er erschien mir … hm … persönlich engagiert. Das steht im Gegensatz zu seinen sonstigen Reaktionen. Ihm scheint das alles Spaß zu machen, nicht nur, dass er mit mir schlafen kann, auch das Feilschen um Information. Doch vorgestern war er wirklich verbissen.“
Müller speicherte diesen Eindruck ab. So deutlich war das nicht aus ihrem Bericht herauszulesen gewesen. Das konnte erklären, warum sie den Fehler gemacht hatte. Aber er wollte, dass sie ihn selbst herausfand. „Was ist eine Information?“, fragte er.
Wie aus der Pistole geschossen kam ihre Antwort: „Eine überprüfbare Tatsache.“
Er nickte. „Und was ist in unserem Beruf eine nicht notwendige Erklärung oder Begründung einer Information?“
Mit fester Stimme antwortete sie: „Korrekt ausgeführt der Versuch, dem Gegner eine, wenn nötig, auch falsche Zusatzinformation unterzuschieben, die ihn die eigentliche Information in einem anderen, von uns gewünschten Licht bewerten lässt.“
„Beispiel?“
Sie überlegte einen Moment. „Das Foto eines kleinen Mädchens in einem schwarzen Bikini in einem Familienalbum. Das gleiche Foto in einer Sammlung pornographischer Bilder wirkt vollkommen anders. Es kommt immer auf den Kontext an.“
Er nickte. So hatte sie vor einigen Jahren Alois Hinterzarter umgedreht. Während er geduscht hatte, hatte sie das Foto seiner kleinen Tochter aus seiner Brieftasche kopiert. Danach hatten sie es in der Sammlung sehr freizügiger Fotos seines Abteilungsleiters untergebracht und sie dann Hinterzarter zugespielt. Seitdem hatten sie einen verlässlichen Informanten in der Entwicklungsabteilung eines der größten bundesdeutschen Rüstungskonzerne.
Er knurrte: „Und?“
„Falsch ausgeführt ein Hinweis für den Gegner, dass wir den Wert einer Information verschleiern wollen.“
Ein kurzes Zucken seiner Augenbrauen und sie verbesserte sich: „Verschleiern müssen.“
Ein paar Atemzüge lang ließ er sie in ihren Gedanken schmoren und das sie das tat, sah er daran, wie sie ihr Hände knetete. Dann fragte er: „Aber was werden wir niemals tun? Unter gar keinen Umständen?“
Monoton wie ein Roboter antwortete sie: „Eine Information preisgeben, wenn nicht nach ihr gefragt wurde.“
„Im Kontext Ihrer vorherigen Ausführungen?“
„Wir werden niemals eine nicht notwendige Erklärung oder Begründung geben.“
„Warum nicht?“ Seine Stimme war wie das Grollen eines Tigers.
„Weil er damit eine unverlangte Information … oh, verfickte Scheiße!“ Ihr Kopf ruckte hoch. Ihr Mund war halb geöffnet und für einen Moment stellte er sich diese schwellenden Lippen vor, wie ihnen die gleichen Worte unter anderen Umständen und in einem anderen Ton entschlüpften. Es rettete sie vor einem seiner seltenen Zornausbrüche, aber die Wut glühte dennoch in seinen Augen.
„Er ist der Sohn von einem unserer Diplomaten,“ zitierte er sie aus ihrem Bericht. „Mortensen weiß, dass Sie und ich für Skandinavien zuständig sind. Der Teil der Diplomaten, der da für uns arbeitet, ist nicht so groß, damit auch nicht der Teil, über dessen Schicksal sie informiert sind. Wenn Mortensen nur halb so gut ist, wie ich denke, haben Sie ihn auf Major Oldenburg aufmerksam gemacht. Wie konnte Ihnen das passieren? Gerade Ihnen?“
Mit einem Ruck setzte sie sich aufrecht hin, machte ihren Rücken gerade und drückte ihn gegen die Sessellehne. Deutlich pressten sich ihre Brüste gegen die Kostümjacke und er traute ihr zu, dass das Absicht war. Sie benutzte gerne ihre Weiblichkeit als Schild. Eben so war er sich sicher, dass der deutlich sichtbare Ärger in ihrem Gesicht nicht dem galt, dass der Fehler geschehen war, sondern dass er ihr geschehen war.
„Es tut mir leid, Genosse Oberst,“ sagte sie. Aus ihrer Stimme klang ein genau dosiertes Maß an Schuldbewusstsein, aber auch der Willen, den Schaden zu begrenzen.
Das reichte ihm. Er wusste, dass ihr so etwas kein zweites Mal passieren würde, aber deswegen ließ er sie noch lange nicht damit davonkommen. Er akzeptierte es, vorerst, aber nur, wenn sie den Kelch bis zur Neige austrank. „Analyse!“, forderte er.
Sie räusperte sich. „Er hatte mich bei einer Lüge ertappt. Das wäre nichts Schlimmes gewesen, entsprechend meiner eigenen Einschätzung seiner Person wäre er spielerisch darüber hinweggegangen und hätte mir genau das bewiesen: Dass ich gelogen habe. Hätte ich das zugegeben, hätte ich sein Ego gestärkt, ihn vielleicht so ein wenig leichtsinniger machen können, weil er seine Einschätzung meiner Fähigkeiten nach unten korrigiert hätte.“
„Das ist alles?“
„Ja.“
„Sie sind gerade dabei, mich zu enttäuschen. Die Frage ist, warum Sie es getan haben.“
Aus unschuldigen Augen in reinstem Himmelsblau sah sie ihn an.
Er grollte: „Sie haben sich nicht deswegen verteidigt, weil sie mit der Lüge unserer Sache geschadet haben, obwohl Sie das natürlich getan haben, denn Mortensen braucht keinen Rechenschieber, um einen Zusammenhang zwischen ihre Nachfrage nach den Expeditionsteilnehmern und dem Abzug von Major Oldenburg aus der Botschaft herzustellen. Nein, sie haben es deswegen getan, weil Sie in seinen Augen besser dastehen wollten. Es war ihr Ego, das Sie hat diesen Fehler machen lassen. Sie haben es für wichtiger gehalten als unsere Sache. Das war ihr Fehler und ich weiß nicht, ob ich auf Dauer damit leben will! Sie sind nicht so kompetent wie Sie scheinen, Genossin Wendt! Nicht einmal ansatzweise! Sie haben Ihren eigenen Genossen verraten. Sie haben mich verraten und damit unser Land und das alles wegen Ihrer Eitelkeit.“
Ihr Gesicht wurde weiß. Sie bemühte sich sichtlich, ihre Haltung zu wahren, aber ihre Lippen zitterten. Er drückte den Knopf auf seiner Sprechanlage.
„Ja, Genosse Oberst?“
„Zwei große Kaffee, Stabsfeldwebel.“
„Jawohl, Genosse Oberst.“
Bis der Kaffee lautlos serviert wurde, ließ er ihr Zeit, zu sich zu kommen und ihre Situation zu analysieren. Kaum war der Stabsfeldwebel aus der Tür, sagte er: „Ihr Fehler erleichtert mir eine Entscheidung. Während Ihrer Abwesenheit hatte ich ein Gespräch mit seinem Sohn und wie es scheint, ist den Genossen, die für ihn zuständig waren, ein Fehler unterlaufen. Sie haben den Mann vollkommen falsch eingeschätzt.“
Müller stand auf, zog sein Sakko aus und warf es achtlos über die Stuhllehne. Dann reckte er sich, dass seine Gelenke knackten. „Bis jetzt hatte ich neben Ihnen auch Major Oldenburg für die Operation Gezeitenwechsel für unverzichtbar gehalten. Er ist hervorragend ausgebildet, ungebunden und wie Sie bereits sagten: Er erfüllt jede Aufgabe. Die aktuellen Entwicklungen wecken jedoch alte Zweifel in mir und ich frage mich, ob ich diese Entscheidung noch aufrecht erhalten kann.“
„Das verstehe ich.“ In ihrem Gesicht war nichts als konzentrierte Aufmerksamkeit. Was sie dachte, zeigte sich nicht darauf.
„Wir werden diesen Raum heute nicht eher verlassen, als bis wir eine Strategie haben. Drei Fragen sind zu beantworten: Können wir Major Oldenburg auch unter den zukünftig sehr wahrscheinlich veränderten Bedingungen vertrauen und zweitens: Was sind praktikable Optionen, wenn wir es nicht mehr können? Drittens: Kann das, was seinem Sohn in der Ostsee widerfahren ist, unsere Pläne gefährden, indem es zum Beispiel Auswirkungen auf die Beantwortung meiner Frage eins hat?“ Er legte die Fingerspitzen gegeneinander. „Ich habe angewiesen, dass der Zugang zu Christian Oldenburg eingeschränkt, das Krankenzimmer bewacht und jeder, der ihn besucht, registriert wird. Ich gehe davon aus, dass Sie diesmal keinen Fehler machen werden, auch wenn es um Sven und Christian Oldenburg geht. Ist das korrekt?“
Ruhig, fast freundlich blickte er sie an, doch er ließ sich auch nicht das geringste Zucken in ihrem Gesicht entgehen, als sie antwortete: „Jawohl, Genosse Oberst. Das ist es.“
„Gut.“ Der Oberst knackte mit den Fingerknöcheln. „Er hat keine Freunde. Ich denke, diesen Zustand sollten wir ändern.“
Eines seiner Telefone klingelte. Er nahm ab und sagte: „Müller.“ Weder nannte er seinen Dienstgrad noch die Abteilung. Wer auf diesem Apparat anrief, wusste, mit wem er es zu tun hatte.
Aus dem Hörer klang die knarzige Kälte sibirischer Winternächte: „Yuri Максимов. Как ваше здоровье, товарищ Мюллер?“
Müller versteifte sich. Der Name Maximow war in der Sowjetunion etwa so selten wie in Deutschland Meier, Müller und Schmidt. Allerdings gab es nur einen, der die Nummer von Müllers Telefon kannte und der residierte in der Zieseler Straße in Karlshorst zusammen mit einigen einhundert weiteren KGB-Leuten.
Ohne dass es ihm wirklich bewusst wurde, wechselte Müller ins Russische. „Danke der Nachfrage. Warum machen Sie sich Sorgen um meine Gesundheit, Genosse Maximow?“
„Wenn Sie unangekündigt einen Besuch in einem Militärlazarett machen, tun wir das.“
„Der Sohn eines Freundes hatte einen schweren Unfall.“
„Ist bekannt. Wir können helfen?“
„Ich wüsste nicht wie. Wir haben gute Ärzte.“
„Für morgen hat eine unserer besten Blutspezialistinnen, Natalja Ermakowa, einen Flug nach Berlin gebucht. Eine private Angelegenheit, aber sie wird die Zeit finden, sich den Fall einmal anzuschauen.“
In Müllers Kopf rasten die Gedanken. Was, zum Teufel … Blutspezialistin? Er sagte: „Das wird nicht nötig sein. Wir tun …“
„Ist es,“ fiel ihm der General ins Wort. „Der Chefarzt ist bereits informiert worden.“
„Nur, wenn ich weiß, worum es hier eigentlich geht!“
„Um die Sicherheit unseres Landes.“
„Geht es etwas detaillierter?“
„До свидания.“
Ergrimmt stützte Müller die Ellenbogen auf den Tisch, legte die Handflächen gegeneinander, das Kinn auf die Daumen und dachte nach. Lange tat er das. Dann drückte er einen Knopf auf der Sprechanlage. „Ich brauche eine Kopie der Akte von Christian Oldenburg. Sie muss genau so aussehen wie das Original. Nehmen sie einen möglichst alten Ordner, in den sie die Blätter einheften.“
Mit zornig zusammengezogenen Brauen blickte er auf Kerstin Wendt. „Wo waren wir?“
„Bei Freunden, Genosse Müller. Bei Freunden.“