Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald


Fremder Atem stinkt immer. (Sprichwort)

Von irgendwoher fiel Licht herein. Nur gerade genug, dass es ein Muster aus grauen Schatten an die Decke warf. Es erinnerte ihn an ein Schachbrett. So weit er es konnte, folgte er mit seinem Blick den Linien zur Quelle der Helligkeit. Er kam nicht weit genug. Er hätte den Kopf drehen müssen und etwas erinnerte ihn daran, dass er das besser nicht tat. Er machte es trotzdem, Schmerz schoss sein Rückgrat empor, explodierte in seinem Kopf und er dachte: Atmen, erst einmal atmen.
Er wusste nicht, wie lange es dunkel gewesen war. Zeit schien ihm nichts, was ihm von Nutzen sein konnte. Seine Augen waren es, immerhin konnte er sie bewegen und so konzentrierte er sich auf das, was sie ihm zeigten. Das Schachbrettmuster an der Decke war nicht real, es war nur ein Schattenspiel. Irgendwo hinter ihm fiel das Licht von einer Laterne draußen ins Zimmer. Bevor es die Decke erreichte, traf es auf etwas, dass das Muster über ihm erzeugte: Gitterstäbe.
Er unterdrückte den Schrecken. Später, ermahnte er sich, später. Lage beurteilen, für Wertungen und Emotionen war immer noch Zeit. Er sah, dass man ihm in beide Armbeugen Ports gelegt hatte, von dem im Rechten führte ein dünner Schlauch zu einem Ständer und einem durchsichtigen Beutel daran, der mit einer Flüssigkeit gefüllt war. Er war nur noch halbvoll. Die andere Hälfte befand sich bereits in seinem Körper. Die andere Hälfte wovon? Nein, korrigierte er sich. Wogegen?
Mit der Erinnerung kam der Schmerz. Er kniff die Augen zusammen und doch war er machtlos gegen den Film in seinem Kopf. Immer, wenn er halbwegs zu sich gekommen war in den letzten Tagen – oder waren es schon Wochen? – trug die Strömung die leblosen Körper von Andres und Werner davon, schwarze Neoprenpuppen auf dem Weg ins Vergessen, aufblitzend wie in Stroboskoplicht von den durcheinanderwirbelnden Handscheinwerfern, bis auch diese davontrieben und dabei das Blut anleuchteten. Unmengen von Blut, genau so schwarz wie die Körper. Ölige, lautlose Schlieren, die sich wie Krakenarme wanden und immer dünner wurden. Etwas blitzte auf, eine Faust aus Wasser traf ihn, er riss den Kopf herum und der Torpedo hörte einfach auf, zu existieren, als wäre er nie dagewesen. Schmerzen kamen, unglaubliche Schmerzen, aber nicht von außen. Etwas war in seinen Körper eingedrungen und es waren nicht nur die Klingen der Tauchermesser von Andres und Werner gewesen. Er hatte sie abgeschlachtet wie Seekühe und der ganze Ozean färbte sich schwarz von ihrem Blut …. schwarze, tote Körper … atmen … atmen …

<< >>

Als er die Augen das nächste Mal aufschlug, wusste er sofort, wo er sich befand. Was er nicht wusste, war, ob Stunden oder Tage seit seinem letzten Aufwachen vergangen waren. Er verzichtete darauf, herauszufinden, inwieweit ihm sein Körper gehorchte, zu gut hatte er noch sein letztes Experiment in Erinnerung. Er schickte ein paar Gedanken durch seinen Kopf, sie kehrten ohne die schwarzen Körper zurück und es schien ihm, als könnte er wieder klar denken.
Er nahm nicht an, dass man ihn in ein ziviles Krankenhaus gebracht hatte. Zum einen war er Militärangehöriger, zum anderen ging er nicht davon aus, dass es in einem zivilen Krankenhaus Zimmer mit Gittern vor den Fenstern gab. Vielleicht in der Psychiatrie, aber danach sah sein Zimmer nicht aus. Ganz ausklammern wollte er es aber auch nicht, schließlich hatte er keine Vorstellung davon, wie ein solches Zimmer beschaffen sein könnte.
Es blieb noch die Möglichkeit, dass er sich auf der Krankenstation eines Gefängnisses befand. Dann war es wahrscheinlich das der Militärstrafanstalt in Schwedt. Es hing davon ab, ob er nur verletzt war oder ob sein Gefühl, das etwas in seinem Körper wütete, dass da nicht hingehörte, den Tatsachen entsprach. Das würde man kaum in einem Gefängnis behandeln, wenn man es denn überhaupt wollte. Wollte man es überhaupt, fragte er sich. Etwas sagte ihm, dass er Grund zu der Annahme hatte, dass sein Tod nicht ungelegen käme.
Er kannte so gut wie jede Unterwasserwaffe, ihre Ladung, Reichweite, Sprengkraft und ihre taktischen Einsatzparameter. Ein Torpedo, dessen Gefechtskopf eine Ladung trug, die Menschen zu wütenden Bestien machte, gehörte nicht dazu. Seine Logik zwang ihn, anzunehmen, dass es nur ein Kampfstoff gewesen sein konnte. Ein chemisches Gift, das so aggressiv war, dass es weder das Wasser hatte schnell genug neutralisieren können, noch das die Neoprenanzüge hatten aufhalten können. Überlebt hatte er nur, weil er abseits der Strömung gesichert hatte. Aber er hatte nicht alle Stiche abwehren können und so schien es ihm wahrscheinlich, dass das, was in ihm wütete, durch die Klingen der Tauchermesser von Andres und Werner eingedrungen war. Schlussfolgerung: In seinem Körper befand sich ein Gift. Schlussfolgerung zwei: Er hatte zwei Männer getötet, ohne beweisen zu können, dass sie es gewesen waren, die ihn zuerst hatten töten wollen. Es sei denn, das Gift und seine Wirkung wären bekannt. War es das?
Er blickte sinnend auf das Schachbrettmuster an der Decke. Er fühlte sich so schwach, dass es der Gitter vor seinem Fenster nicht bedurft hätte, um ihn am Ausbrechen zu hindern. Trotzdem waren sie da. Musste er sich also fragen, ob er irgendwann, wenn der Prozess in seinem Körper weit genug fortgeschritten war, auch so reagieren würde wie Andres und Werner? Deswegen die Gitter? Damit er nicht noch mehr umbrachte?
Atmen … Keine Spekulationen … Metaphysik … Er kämpfte die Panik in seinem Inneren nieder. Atmen … Metaphysik betreiben heißt, mit verbunden Augen in einem dunklen Zimmer eine schwarze Katze suchen, die gar nicht darin ist. Wie an einem Rettungsfloß verankerte er seine Gedanken an diesem Satz. Ob die schwarze Katze im Zimmer war, wusste er erst, wenn sie ihn gebissen hatte und noch schien es nicht so weit. Bis dahin brauchte er etwas, an dem er sich festhalten konnte, einen festen Punkt für sein Denken, einen unbestreitbaren Fakt, zu dem er zurückkehren konnte, wenn er ins Reich der Spekulation davontrieb. Sonst würde er wahnsinnig werden.
Warum lebte er noch, fragte er sich. Hätte der Torpedo einen echten Gefechtskopf besessen, der dafür ausgelegt gewesen war, Schiffswände zu zertrümmern, hätte die Explosion ihn zerfetzen müssen. Also war die Detonation, die er gespürt hatte, nur eine Selbstvernichtungsladung gewesen, eine die jede Spur beseitigt hatte. Doch wovon? Der 53-65m war in der Sowjetunion entwickelt worden, das wusste er. Sie besaß Kernwaffen, hatte jedoch immer den Besitz von chemischen und biologischen Waffen vehement abgestritten. Wenn es stimmte, hatte er nur sich selbst zu fürchten und das, was aus ihm werden würde. Wenn es nicht stimmte, dann war er auf eine verbotene Waffe gestoßen und hatte sie überlebt. Noch …
Er stöhnte leise. Der KGB war die eiserne Faust des großen Bruders, wie man die Sowjetunion in der DDR nannte, was implizierte, dass sein eigenes Land der kleine Bruder war, und die Familien-Bande wusste ihre Geheimnisse sehr wohl zu schützen.
Es waren zu viele Fragezeichen. Sein Denken war ein Pfeifen im dunklen Wald, um böse Geister zu verjagen. Wieder sah er Andres und Werner in die Schwärze davontreiben und er ahnte, dass er sie bis ans Ende seines Lebens sehen würde. Sollte er je in die Welt zurückkehren, würde sie für ihn nicht mehr dieselbe sein. Kein Vertun.

<< >>

„Seine Genesung … hm … verläuft nicht so, wie wir uns das wünschen. Äh, gar nicht so, eher im Gegenteil, wissen Sie, also ich meine wir sollten da vielleicht einen Spezialisten hinzuziehen, die Messerstiche haben nicht so einen Schaden verursacht, bei seiner Konstitution hätte er schon längst wieder …“
Doktor Braun trippelte über den Stationsflur und bei jedem Komma in seinem an Oberst Müller gerichteten Wortschwall wippte sein kahler Kopf auf und nieder. „Also ich meine, dass sein Blutbild uns Sorgen macht, genau wie seine Psyche und wir wollen da einen ursächlichen Zusammenhang nicht ausschließen, nicht wahr, schließlich ist so etwas ein traumatisches Erlebnis, immer noch wissen wir viel zu wenig über … über … äh … eine Verunreinigung der Tatwaffen ist ebenfalls im Rahmen des Möglichen … das sollten wir auch nicht … aber eine Entzündungsreaktion sieht anders aus … könnte eine Hämolyse sein … hm, innere Prozesse sind immer schwierig zu beurteilen, zumal hier auch noch eine psychische Komponente hinzukommt und die Kommunikationsbereitschaft des Patienten … äh … zu wünschen übrig lässt, so zu sagen, unsere Laborausrüstung ist nicht für derartige Fälle … wir brauchten … Die Gerinnungsstörung macht mir Sorgen …“
„Doktor Braun!“ Müller stoppte mitten im Schritt.
„Ja?“ Ganz in seine Erklärungen vertieft, war der Stationsarzt einfach weitergegangen. Er zeigte auf die Zimmertür, vor der er stand. „Wir sind da, ich meine, Sie wollten doch …“
„Einfach, verständlich, ohne medizinisches Kauderwelsch, ohne Blick in die Glaskugel. Das will ich!“
„Äh …“ Der Stationsarzt nahm seine Brille ab, reinigte sie mit einer Ecke seines Kittels und antworte, scheinbar mit nichts anderem beschäftigt als dem Putzen seiner Brille: „Die Verletzungen waren nicht lebensbedrohlich und hätten bereits wieder verheilt sein müssen. Er hat eine Blutgerinnungsstörung, mindestens. Um die Ursache herauszufinden, ist unsere Laborausrüstung nicht gut genug. Der Patient ist schwach, kann sich kaum aus eigener Kraft bewegen. Ursachen kommen viele in Betracht: Entzündung durch Bakterien, die sich an den Waffen befanden und so in den Blutkreislauf gelangt sind; eine unbekannte Infektion, die schon länger im Körper vorhanden war und nun ausgebrochen ist. Nicht einmal eine Folge des Traumas, das er zweifelsohne erlitten hat – auch, wenn er es vehement abstreitet bis auf seine Amnesie natürlich – können wir ausschließen, ebenso wenig wie die Möglichkeit einer psychischen Kompensation desselben. Ein Trauma hat auch immer körperliche Folgen. Ich vermute eine Kombination mehrerer Ursachen. Wir wissen viel zu wenig über die Prozesse, die in unserem Gehirn vorgehen und wie sie die Körperfunktionen steuern.“ Er hob den Kopf und setzte seine Brille wieder auf. „Aber wir haben ja Sie und das Ministerium für Staatssicherheit, Genosse Oberst. Ihr Patient!“ Er öffnete die Tür.
Verblüfft blickte Müller den kleinen Arzt an und fragte sich, ob der tatsächlich eben gesagt hatte, was er gesagt hatte. Doch die Tür stand offen und jedes Wort, das jetzt gesprochen wurde, konnte im Zimmer gehört werden. Müller trat ein, schloss die Tür hinter sich und machte sich einen geistigen Vermerk betreffs eines gewissen Doktor Braun.
Christian Oldenburg lag auf dem Rücken. Sein Blick war zur Decke gerichtet. Durch nichts gab er zu erkennen, dass er wahrnahm, was um ihn herum geschah. Er atmete tief und gleichmäßig, aber sehr langsam. In beide Armbeugen hatte man ihm Zugänge gelegt, in den Rechten lief eine Flüssigkeit aus einem Tropf, der Port in seiner linken Armbeuge war verschlossen. Wie in jedem Krankenzimmer, das auf sich hielt, roch es nach einer Mischung aus Desinfektionsmitteln, kaltem Kantinenessen und Urin. Aus einer Armatur tropfte Wasser in das zerkratzte Waschbecken aus Emaille; der weiß gestrichene Stahlblechschrank daneben sah aus, als hätte er schon ein Leben als Soldatenspind hinter sich und die zerkratzte grüne Sprelakatoberfläche des Nachtschranks neben dem Stahlrohrbett war so leergefegt wie das Südfrüchteregal im Konsum zu Weihnachten. Keine Vase mit einem Blumenstrauß zur Erinnerung an die Liebste und keine Pralinenschachtel von Angehörigen verdeckte die gelben Altersflecken darauf. Daneben stand ein Stuhl, auf dem weder Sachen lagen, noch standen Schuhe darunter.
„Guten Morgen,“ begann der Oberst. „Wie geht es Ihnen? Ich bin Bernard Müller. Derjenige, der Ihren Vater damals gestoppt hat, als er auf eigene Faust den Mörder Ihrer Mutter finden wollte. Er hat sich damit eine Menge Feinde gemacht. Aber Sie kennen ihn ja. Nicht, dass ihn das in irgendeiner Weise tendiert hätte.“
Es gab viele mögliche Reaktionen auf diesen Eröffnungszug. Für jede hatte Müller eine Strategie im Kopf. Auch für die, die er bekam: keine Reaktion. Er fuhr fort: „Man hat mir bereits gesagt, dass Sie kein Volksredner sind. Ich übernehme das. Ich rede, Sie hören zu – dass Sie das tun, weiß ich – und am Ende unseres Gesprächs fassen Sie einen Entschluss, der mir hilft, Sie hier herauszubringen. Das bin ich Ihrem Vater schuldig und auch Ihrer Mutter.“
Christian lag da, starrte die Decke an und rührte sich nicht. Obwohl seine Gesichtshaut totenblass über spitz hervorstehenden Wangenknochen spannte und eine Narbe in frischem Rot auf der linken Wange das Gesicht verunstaltete, spürte Müller den eisernen Willen in diesem Mann. Doch worauf ist er gerichtet, fragte sich Müller. Was treibt ihn an, selbst jetzt noch?
Er nahm sich einen der beiden Stühle und setzte sich neben das Bett. „Ihr Vater hat dabei so viel Staub aufgewirbelt, dass sich der Täter schließlich verraten hat. Sie haben recht. Es war einer aus unseren eigenen Reihen. Wir haben das intern geklärt. Er hat Staatsgeheimnisse verraten, Ihre Mutter kam ihm auf die Schliche und deshalb musste sie sterben. Sie war seine Geliebte. Aber das wissen Sie ja, nicht wahr? Vielleicht haben Sie es damals nicht verstanden, aber irgendwann muss Ihnen der Verdacht gekommen sein. Warum haben Sie es Ihrem Vater nie erzählt?“
Noch immer bekam Müller keine Reaktion. Er lächelte mit schmalen Lippen. „Ihre Beherrschung ist phänomenal. Nur mindert das Ihre Aussichten, dass der Staatsanwalt Ihnen Ihre Amnesie abkauft. Dazu gehört der Eindruck eines … hm … gewissen emotionalen Ringens um den verlorenen Gedächtnisinhalt. Das konnte er bei Ihnen nicht erkennen. Reue, die sich strafmindernd auswirken könnte, auch nicht. Die Gerichtsverhandlung wird entsprechend kurz sein und Sie für lange Jahre im Gefängnis verschwinden. Wollen Sie das?“
„Sie … wissen … viel … über uns.“ Christians Stimme war ein fast unverständliches Flüstern.
„Leider offenbar nicht genug.“ Müller schlug leger die Beine übereinander. „Ich betrachte Ihren Vater als einen der wenigen Freunde, die ich habe und ich weiß, dass er das gleiche für mich empfindet. Deshalb will ich Sie auch nicht belügen: Es ist mein Beruf, viel zu wissen. Nur so kann ich die schützen, die mir wichtig sind. Sie und Ihr Vater gehören dazu, Genosse Oldenburg. Das kann ich aber nur, wenn Sie mit mir reden. Was ist wirklich da unten passiert? Was wollte später das sowjetische Minenräumboot an der Stelle?“
Etwas im Gesicht Christian Oldenburgs veränderte sich und Müller fragte: „Ach, das wussten Sie nicht?“
„Wie …“ Die Stimme von Christian Oldenburg klang brüchig und krächzend. „Wie geklärt? Den Mord …“
„Sie meinen den an Ihrer Mutter?“ Müller ließ sich Zeit mit der Antwort. „Das ist geheime Verschlusssache. Allerdings bin ich bereit, für Sie eine Ausnahme zu machen. Sagen Sie mir, an was Sie sich wirklich noch von da unten erinnern.“
„Erst Sie …“ Christian Oldenburg drehte den Kopf herum und Müller unterdrückte das zufriedene Lächeln, dass ihm ins Gesicht springen wollte.
Er beugte sich ein wenig vor. Nicht zu viel, jede Form von Vertraulichkeit war ihm zuwider, aber genug, um es als solche erscheinen zu lassen. „Es war ein sehr hoher Offizier. Er und seine Frau hatten Daten gesammelt und an den Feind weitergegeben. Wir hatten genug Beweise.“ Er senkte seine Stimme. „Beide wurden verhaftet, abgeurteilt und in aller Stille erschossen. Ihr Vater wusste das, durfte es Ihnen aber nicht sagen. Er könnte es Ihnen bestätigen, glauben Sie mir. Also: Was ist da unten wirklich geschehen? An was von da unten erinnern Sie sich?“
Lange blickte Christian Oldenburg den Oberst an und er tat es auf eine Art und Weise, die Müller nachdenklich werden ließ. Es war, als wollte sich Christian Oldenburg die Gesichtszüge seines Gegenübers so fest einprägen, dass er sie nie mehr vergaß.
Müller hakte nach: „Genosse Oldenburg? Woran erinnern Sie sich?“
„An nichts.“
Der Oberst sah den harten Glanz in Christians Augen und der sagte ihm zwei Dinge: Dass dessen Antwort eine Lüge war und das Christian wusste, dass Müller es wusste. Trotzdem hakte er noch einmal nach: „Sind Sie ganz sicher?“
„Ich würde … Sie … genauso wenig … belügen … wie Sie … mich.“
„Wenn Sie einen hinreichend starken Grund dafür hätten, würden Sie es vielleicht versuchen wollen. Aber welcher das auch immer sein sollte: Ich kann Ihnen helfen! Wahrscheinlich sogar nur ich.“
„Wie Sie … meinem Vater helfen, seitdem … Sie sein Leben an sich gerissen …. haben.“
Ein paar Sekunden machte der Oberst nichts weiter, als atmen und die Wut in sich unter Kontrolle zu bringen. Dann stand er auf. Er wusste, wann er verloren hatte, auch wenn es nur die erste Runde war. „Des Menschen Wille ist sein Himmelreich. Ob das auf das Militärgefängnis Schwedt zutrifft, bezweifle ich. Sie benehmen sich wie ein trotziges Kind und Ihr Vater tut mir leid. Ich hätte Sie zu einem Helden machen können. Jetzt werden Sie ein Verbrecher sein.“
„Ist da … ein Unterschied?“
„Noch ein Grund mehr, Sie wegzusperren. In Ihrem Kopf stimmt etwas nicht.“
„Die Welt ist eine andere, wenn man getötet hat.“
Müller schüttelte den Kopf. „Nein. Ist sie nicht. Nur ihre Interpretation im Gehirn. Man bekommt dann entweder Schuldgefühle oder einen Orden, je nachdem, auf welcher Seite man steht. Manchmal auch beides. Ich hätte Sie gerne für einen Orden vorgeschlagen, wie ihn Ihr Vater trägt und für Ihre Freiheit gesorgt. Offenbar wollen Sie das nicht.“
Er packte Christian am Oberarm. „Sie sind ein Nichts, ein Niemand!“, stieß er hervor und presste Christians Arm, dass der aufstöhnte. „Sie sind eine Ratte, die hinterrücks zubeißt und sich dann schnell wieder im Dunkeln verkriecht. Sie hätten ein Wolf sein können vor zehn Jahren, aber sie haben sich entschieden, eine Ratte zu sein.“
Müller holte tief Luft, ließ Christians Arm los und strich ihm sogar die Bettdecke glatt. „Und so werden Sie auch enden: wie eine kleine, miese, völlig unbedeutende Ratte! Ich habe den Untersuchungsbericht studiert, mit allen gesprochen, mir den Tatort angesehen und Ihre Aussage gelesen. Sie haben Ihre Mutter kommen gehört, nicht wahr? Sie hatte Stöckelschuhe an und in der Stille der Nacht mussten ihre Schritte weit zu hören gewesen sein. Sie mussten sogar die Kampfgeräusche gehört haben, denn Ihr Fenster war halb geöffnet, die Nacht still und ihre Todesschreie müssen Ihnen in den Ohren gegellt haben. Wie lebt es sich mit dem Wissen, dass sie nur nach draußen hätten laufen müssen, um den Mord zu verhindern, weil der Täter dann wahrscheinlich davongelaufen wäre? Vielleicht hätte es sogar gereicht, wenn sie Ihren Kopf aus dem Fenster gereckt und um Hilfe geschrien hätten, statt sich unter der Bettdecke zu verstecken. Wie lebt es sich damit, zu wissen, dass auch Ihr Vater das weiß und dasselbe von Ihnen denken muss wie ich: Dass sein Sohn schon immer eine feige Ratte war?“
Er ging zur Tür, griff nach der Klinke und sagte: „Falls Sie sich doch noch entscheiden, ein Wolf zu sein, lassen Sie es mich wissen. Damals waren Sie noch ein Kind. Heute sind Sie erwachsen und Erwachsene reden sich nicht mit einer Amnesie heraus, sie stehen für ihre Taten gerade. Jeder macht mal einen Fehler und ich wäre der Letzte, der Ihnen dabei im Wege stehen würde, ihn zu korrigieren.“
Einen Moment wartete er noch auf eine Reaktion. Als sie nicht kam, nickte er Christian nicht einmal unfreundlich zu und ging hinaus.