Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
August 1980, Ostsee
Unnachgiebig trieben ihre vier Wasserstrahltriebwerke die Time Bandit II durch die Ostsee. Die entfesselte Kraft von neunzigtausend Pferden in ihrem Maschinenraum ließ sie mit dreißig Knoten durch das Wasser jagen, als würde sie jeden Moment abheben und in einen Gleitflug übergehen wollen.
Obwohl auf den besten Schwingungsdämpfern gelagert, die es für Geld zu kaufen gab, waren die Vibrationen der mächtigen Motoren stark genug, dass Albina R. Devereaux sie selbst in ihrer Kapitänskajüte noch spürte, ebenso, wie sie das Pfeifen der beiden Gasturbinen hörte. Noch nie in den letzten zehn Jahren hatte sie die Kraft der Maschinen ihrer einhundertsechzig Meter langen Luxusyacht bis an ihre Leistungsgrenzen ausreizen müssen und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte das auch nie geschehen dürfen. Als der Notruf aus Moskau eingegangen war, hatte sich die Time Bandit im Südatlantik aufgehalten. Doch wegen der Havarie eines Frachters im Nordostseekanal hatte sie den langen Umweg über das Skagerrak in die Ostsee nehmen müssen und dabei zwölf Stunden verloren.
Unruhig tigerte sie in ihrer Kajüte hin und her, warf immer wieder einen Blick aus dem mit kugelsicherem Glas versehenen Fenster auf die vorbeirasenden Wellen und unterdrückte mit aller Macht den Wunsch, vor Nervosität an ihren perlmuttfarbenen Nägeln zu kauen. Drei Stunden lang hatte sie es auf der Brücke in ihrem Sessel nach ihrem Befehl, mit voller Kraft zu fahren, ausgehalten, dann war der Bewegungsdrang in ihr so übermächtig geworden, dass sie in ihre Kabine gegangen war, damit die Besatzung nicht bemerkte, wie nervös sie war.
Sie war eine große schlanke und doch kräftig wirkende Frau mit einem schmalen Gesicht. Falten um Augen und Mundwinkel furchten es, braune Altersflecken an Hals und auf den Wangen verunzierten es und doch zeigte es noch immer die Spuren ihrer einstigen Schönheit. Ihre grünen Augen waren leicht schräggestellt und schmal, als hätte sie asiatische oder mongolische Vorfahren und mit der streitbaren Intelligenz, die aus ihnen leuchtete, und der Art, wie sie sich selbst bei hohem Seegang mit scheinbar schwereloser Eleganz bewegte, hatte sie etwas von einer Katze auf Beutejagd. Das Alter hatte ihr so manche Runzel verpasst, dass Leben so manchen Hieb, aber beugen hatten beide sie nicht können. Nur manchmal, wenn sie allein in ihrer Kapitänskajüte war, gestattete sie sich, die Schultern nach vorn fallen zu lassen, und blicklos auf die vorbeiziehenden Wellen zu starren, um den Mund einen Zug von Bitterkeit.
In ihrem Pass stand der Name Albina R. Devereaux, aber sie hatte schon so viele Namen benutzt, dass sie sich nicht einmal mehr an alle davon erinnerte. Die Besatzung nannte sie nur Skipper und manchmal, wenn sie glaubten, dass sie es nicht hörte, auch Käpt’n Nemo oder den Fliegenden Holländer.
Sie streckte die Hand nach dem Intercom aus, dann zog sie sie wieder zurück. Der erste Offizier würde sie benachrichtigen, wenn es Neuigkeiten gab, ein Anruf auf der Brücke hätte die Crew nur noch nervöser gemacht, als sie ohnehin schon war. Stattdessen rief sie den leitenden Ingenieur im Maschinenraum an. „Können wir mit den Turbinen auf volle Kraft gehen?“
„Hm …“
Sie wusste, dass sich jetzt ein schiefes Verlegenheitsgrinsen in seinem bulligen Gesicht breitmachte und er sich die kahle Schädeldecke kratzte, bevor er ihr die Antwort gab. „Immer noch das, was ich Ihnen damals schon gesagt habe. Klar können die auf voller Kraft laufen. Wozu hat man schließlich seine Pferdchen, wenn man sie sich nicht mal austoben lässt, nicht wahr? Nur zusammen angespannt, sind sie ziemlich zickig. Die Diesel sind mechanisch entkoppelt, stehen auf verschiedenen Grundplatten, aber die Turbinen nicht, Konstruktionsfehler, aber auf mich wollte ja keiner hören. Ich meine, wenn Sie unbedingt wollen, dass wir uns eine sich aufschaukelnde Resonanzschwingung einfangen, können wir das ruhig mal ausprobieren. Allerdings – dass es uns dann die Antriebswellen aus den Lagern gerissen hat, wird danach unser kleinstes Problem sein. Nur, falls sie verstehen, was ich damit meine, Skipper. Dann sieht der Maschinenraum nämlich aus, als wäre da eine Cruise Missile eingeschlagen. Und falls es doch gutgeht, donnern wir mit fünfunddreißig, vielleicht sogar sechsunddreißig Knoten durch die Ostsee, dem am dichtesten mit Radar und Messbojen gespickten Gebiet der Welt. So schnell ist kein ziviles Schiff dieser Größe. Wir werden auf jedem Radarschirm leuchten wie ein Weihnachtsbaum. Im Gehirn von jedem Marineoffizier, der das sieht, sowieso. Die werden uns jagen, als hätten wir die Bank von England ausgenommen und die Ostsee ist eine verdammte Mausefalle. Es ist Ihr Schiff, aber wollen Sie das wirklich riskieren? Bei allem Respekt: Wir fahren jetzt fünfundsiebzig Prozent, bis neunzig bin ich noch bei Ihnen, aber dann …“ Den Rest des Satzes ließ er offen.
Sie sagte: „Danke,“ und ließ sich in einen Sessel fallen, nahm ihren langen grauen Zopf in die Hand und spielte nachdenklich mit der Quaste an seinem Ende. Nicos Venizialos, der Schiffsarzt, neckte sie des Öfteren damit. Mit siebzig trug man seine grauen Haare nicht mehr hüftlang wie ein sechzehnjähriger Backfisch, meinte er.
„Dann wird ihn mir wohl jemand abschneiden müssen,“ hatte sie einmal in einer stillen Stunde geantwortet.
Er hatte gelacht, ihren Zopf berührt und spöttisch gemeint: „Wer würde es wagen, Hand an Euch zu legen, Euer Schaumgeborenheit?“
Er war in die Mythologie seiner griechischen Heimat vernarrt, selbst sein hochmodernes und bestens ausgestattetes Schiffslazarett nannte er manchmal die Höhle des Hephaistos. Zu ihrem siebzigsten Geburtstag hatte er ihr eine kleine Alabasterstatue der sitzenden nackten Aphrodite auf ihren Schreibtisch gestellt, die er mit seinen geschickten Händen selbst angefertigt hatte. Schon beim ersten Blick darauf hatte sie gewusst, wessen Körper er im Kopf gehabt hatte, als er sie modelliert hatte.
Schön wie Aphrodite oder Venus, wie die Römer die griechische Göttin der Liebe genannt hatten – sie streckte die Hand aus, fuhr mit einem Finger die vollkommenen Kurven der Figur nach, schloss die Augen und gestattete sich für einen Moment einen Traum von einer Vergangenheit, die, wenn schon nicht die ihre, dann aber die der alten Griechen gewesen war.
Zeus sollte in jener Zeit von seinem Thron auf dem Stefani, dem dritthöchsten Berg des Olymps, die Geschicke der Menschen gelenkt haben und doch hatte man Uranos den Herrscher der Welt genannt. Dessen Ehe mit Gaia, der Mutter Erde, war nach der Sage nicht mit allzu viel Glück und Liebe gesegnet gewesen. Auf ihr Geheiß hatte ihr Sprössling Kronos seinem Vater Uranos das Gemächt weggeschnippelt und es über seine Schulter in den Ozean geworfen. Nicht nur Uranos war deswegen verständlicherweise fürchterlich aufgewühlt gewesen, sondern auch das Meer selbst. So sehr hatte es geschäumt, dass seine Wogen gen Himmel gestiegen waren. Als es sich nach vielen Tagen endlich wieder beruhigt hatte, war den Wellen am Strand der Insel Zypern eine wunderschöne Frau entstiegen, geschaffen aus der Potenz des Weltenherrschers Uranos und dem wütenden Schaum des Meeres: Aphrodite, die Schaumgeborene.
Ihre strahlenden Augen, ihr bis zur Hüfte wallendes Haar, ihr Liebreiz und ihr unvergleichlich geformter Leib hatten die Göttinnen Hera und Athena wie alte Waschweiber aussehen lassen und Zeus hatte nicht anders gekonnt, als sie an Kindes statt unter seine Obhut zu nehmen und sie zur Hohepriesterin der Liebe zu machen. Ob er sie tatsächlich dann auch nur wie eine Tochter behandelt hatte, darüber stritten sich die Geister bis heute, wie sich die göttliche Hera mit ihrem Mann Zeus gestritten hatte. Doch in einem waren sich alle einig: dass die Göttin der Liebe viel Unheil angerichtet hatte, auch wenn sie vielleicht immer nur gute Absichten gehabt hatte.
Albina wusste nicht, ob es einen Himmel gab und man ihn über gute Taten erreichen konnte. Aber eines wusste sie genau: Die Hölle existierte und der Weg zu ihr war mit guten Absichten gepflastert.
Als hätte sie sich verbrannt, zog sie die Hand von ihrer Skulptur zurück.
<< >>
Christian saß auf seinem Lieblingsstein am Strand von Markgrafenheide und ließ die nackten Füße ins Wasser baumeln. Ziellos schweiften seine Gedanken umher. Mit jedem Atemzug sog er Luft wie süßes Blei mit einer Beimischung von ein wenig Meeressalz in seine Lungen. So bitterherb schmeckte die Luft nur hier an der Ostsee an einigen wenigen, ganz besonderen Abenden im Jahr.
Er zog die Beine an, legte seine Arme um sie und stützte sein Kinn auf die Knie. Der Felsen unter seinem Po hatte die Wärme der Sonnenstrahlen gespeichert und sandte sie als Gefühl über die Nervenbahnen in seinem Rückgrat an sein Gehirn. Bis vor drei Jahren hätte sein Herz sie wieder problemlos in das Licht eines Lächelns auf seinem Gesicht zurückverwandeln können – wenn er diesem Organ noch mehr als nur eine biologische Funktionalität zugestanden hätte. Doch das tat er nicht, nicht mehr. Darum war ihm der leere Strand nur recht. Er liebte die Stille, in der ihn niemand in seinen Gedanken störte, so sehr, wie er den Konjunktiv und das Nachdenken über das, was hätte sein können, hasste. Entgehen konnte er dem trotzdem nicht.
Der Abend war warm und windstill und das Wasser glatt wie ein Spiegel. Kein Windhauch vertrieb den Geruch von Sonnencreme, verfaulendem Tang und totem Fisch. Nach der Hitze des Spätsommertages waren am Nachmittag dicke Wolken aufgezogen und hatten die Wärme konserviert wie in einer Thermoskanne. Nun, kurz vor Sonnenuntergang, trieben sie wieder davon. Doch im Osten waren schon die nächsten zu sehen.
Der Strand leerte sich. Bis eben hatten lärmende Kinder Sandburgen gebaut, sich mit feuchtem Dreck und glibberigen Quallen beworfen und ihre Eltern das Geschrei mit der Musik aus ihren Kofferradios noch zu übertönen versucht. Jetzt machten sie sich auf nach Hause zum Abendbrottisch. Auch in den Ferienhotels war Fütterungszeit und wer dabei zu spät kam, den bestrafte zwar nicht gleich das Leben, aber sein Magen.
Der Strand hätte sich auch geleert, wenn statt der Finsternis die Schönheiten des Fernsehballetts eine Stripteaseshow im Sand dargeboten hätten. Jeder Urlauber wurde über das Nachtbadeverbot an der Ostseeküste belehrt, sobald er im Ferienhotel seinen Personalausweis zur Anmeldung auf den Tisch des Empfangs legte. Die Freiheit war für DDR-Bürger nur drei Seemeilen entfernt, vorausgesetzt, sie erreichten ein Schiff außerhalb der Hoheitsgewässer, bevor sie in der Ostsee ertranken. Trotzdem versuchten es immer wieder Wagemutige. Sehr weit kamen sie nie. Entlang der ganzen Ostseeküste der DDR standen Wachtürme und die Soldaten der Grenzbrigade Küste sorgten mit regelmäßigen Strandpatrouillen dafür, dass jeder Versuch, schwimmend aus dem Land zu flüchten, schon in seinem Anfangsstadium zunichtegemacht wurde.
Es waren Ferien und seit er sich erinnern konnte, hatte er sie hier bei seiner Großmutter verbracht. Sein Großvater war jeden Tag mit dem Boot zum Fischen hinausgefahren und seitdem er nicht mehr war, sammelte sie nach jedem Sturm Bernsteine am Strand. Wenn die Abende lang wurden, schliff sie daraus Schmuckstücke, fädelte sie mit ihren zittrigen Händen mühsam auf Ketten und verkaufte sie an die Urlauber. Zusammen mit ihrer Rente reichte das für sie zum Leben und auch dazu, ihre Hütte so weit instand zu halten, dass sie nicht über ihr zusammenbrach. Sie war sehr belesen und trotzdem abergläubisch. An manchen Abenden im August und November verschloss sie mit besonderer Sorgfalt das Haus, klappte noch beim letzten Tageslicht die hölzernen Fensterläden zu und überprüfte penibel, dass alle Riegel in ihren Halterungen eingerastet waren, als hätte sie Angst, dass etwas Böses dem Meer entsteigen und in ihr Haus eindringen könnte. Wenn die Luft dir schwer wie Blei auf die Brust drückt und die Sonne blutrot das Wasser berührt, darfst du niemals an den Strand gehen, hatte sie Christian gesagt. Warum, das hatte sie nie erklärt.
Tatsächlich zeigte der Rand der Sonne, der eben begann in den Fluten der Ostsee zu verschwinden, ein so intensives Blutrot, wie er es noch nie gesehen hatte, und er fragte sich, vor welcher uralten Legende seine Großmutter wohl Angst haben mochte. Er war fünfzehn, hatte in den letzten zehn Jahren mehr Bücher gelesen, als die meisten Menschen es in ihrem ganzen Leben schafften, und so wusste er, dass in den Nächten im Jahr, in denen sie sich so seltsam verhielt, große Meteoritenströme die Umlaufbahn der Erde kreuzten, von denen einige glühende Spuren im nächtlichen Himmel der Erde hinterließen.
Eine erster, feuriger Vorbote des mächtigen Stroms der Perseiden zog über den Himmel. Mittlerweile war es merklich dunkler geworden, auch weil neue Wolkenbänke über den Himmel zogen. Außer einer Frau, die in seine Richtung ging, sah er keine Menschenseele mehr am Strand. Alle Fischerboote waren vom Fang heimgekehrt, selbst auf der Reede vor Warnemünde lag kein Schiff mehr vor Anker. Das Meer war glatt wie ein Teich, das Wasser glänzte wie blutrotes Silber und selbst das allgegenwärtige Rauschen der Wellen schien verschwunden. Eine einzelne Möwe flatterte direkt über seinem Kopf und ihr Geschrei war der einzige Laut, den er noch hörte. Etwas schien in der Luft zu liegen, undefinierbar, nicht greifbar und doch so präsent, dass ihm ein Schauder den Rücken hinunter rann.
Immer weiter versank die Sonne im Meer. Dämmerung zog herauf, mit ihr kam eine Brise kalter Luft, und die einsame Frau auf ihrem Strandspaziergang. Bis zur Hüfte wallten ihr lockige und Haare trotz des fußlangen Wickelrocks schien sie sich in dem tiefen und weichen Sand nicht einmal quälen zu müssen, fast so, als würde sie schweben. Etwas sagte ihm, dass sie nicht hierhergehörte, weder hier wohnte, noch eine Urlauberin war. Direkt hinter ihr ging die Sonne unter, ihre Strahlen schienen durch sie hindurch zu gehen und und sie in ein unwirkliches Licht zu hüllen. Ein unerklärliches Schaudern rann ihm den Rücken herab und die Härchen auf seinen Unterarmen stellten sich steil auf. Plötzlich war ihm, als hörte er seine Großmutter rufen: Flieh, lauf weg, bevor es zu spät ist!
Mit einem bitteren Auflachen verjagte er den Schauder. Es waren nicht die Geister und nicht die Legenden, die ihm angst machten. Eine Frau vielleicht, aber das lag an der blöden Pubertät, die seine Hormone und damit sein Fühlen und sein Denken aus dem Gleichgewicht brachte. Auch, wenn er alles darüber gelesen hatte, was er in die Finger bekommen hatte und seine Großmutter es ihm erklärt hatte, änderte es nichts an dem, was das Erwachsenwerden allen fünfzehnjährigen Jungen antat. Er hasste seinen Körper, der ihm auf einmal vorkam, als wäre es gar nicht seiner und seinen Kopf dafür, dass er damit nicht zurechtkam.
„Ist es nicht langweilig so alleine? Warum gehst du nicht dahin, wo alle sind?“
Sie blieb vor ihm stehen. Wahrscheinlich meinte sie ‚alle anderen‘, doch ihr Akzent verriet ihm, dass Deutsch nicht ihre Muttersprache war, sondern offensichtlich Russisch. Sie trug ein schulterfreies Wickelkleid in Dunkelblau, unter dem kleine Füße in Riemchensandalen hervorlugten und eine große rote Umhängetasche aus Stoff. Ihre straffe, aber für den langen Sommer zu weiße Haut hatte Sommersprossen und zeigte Spuren eines beginnenden Sonnenbrandes. Ihre Augen leuchteten in einem herrlichen Grün, ihre langen Locken hatten das satte Rot des Weines, den seine Großmutter so gerne trank und sie roch nicht nach Sonnencreme, die er nicht mochte, sondern duftete wie eine Frühlingswiese, wenn die Sonne aufgeht und die Blüten sich öffnen. Sie war … wunderbar.
Scheiß Pubertät, krieg dich wieder in den Griff! Wütend meldete sich der nicht in Hormonen ertrunkene Teil seines Gehirns. Er straffte sich, ließ die Beine wieder ins Wasser baumeln und versuchte, seinen Verstand zur Arbeit bewegen. Sie war mindestens doppelt so alt wie er, ihr Blick war nicht klar, sondern wirkte gehetzt, ihr Gesicht zeigte Müdigkeit und ein verbissener Ausdruck lag darauf. Den gleichen Ausdruck hatte seine Großmutter immer im Gesicht, wenn sich eine Perle partout nicht auf die Kette fädeln lassen wollte. Sie wehrte dann jede Hilfe ab von ihm und kämpfte verbissenen solange mit ihren vor Altersschwäche zittrigen Fingern, bis sie es geschafft hatte. Aufgeben kam für sie nie Frage und er fürchtete den Tag, an dem es passierte.
Er erhob sich von seinem Sitz. Etwas in ihm verlangte, dass er auf Augenhöhe mit ihr war, wenn er antwortete und es musste etwas Kluges sein, etwas, das sie nicht erwartete. Wie jedes Schulkind der DDR lernte er seit der fünften Klasse auch Russisch. Er wusste, dass sich seine Aussprache zwar grausam anhörte, weil ihm die Übung fehlte, aber auch, dass er keine Fehler machen würde, weil sich bei jedem deutschen Wort, an das er dachte, die russische Entsprechung in seinem Kopf finden würde und die russische Grammatik im Gegensatz zur deutschen eine Autobahn war, die er nur entlang fahren musste.
Er räusperte sich, dann antwortete er auf Russisch: „Das ist unlogisch. Wenn alle da sind, muss ich ja auch schon da sein. Und Sie auch. Sonst wären es ja nicht alle. Dann wären wir uns hier aber nicht begegnet.“
Es waren zwei holprige Sätze geworden und er ärgerte sich darüber. Doch die erstaunt hochgezogene Augenbraue in ihrem schönen Gesicht tröstete ihn.
Mit einer unfassbar weiblichen Bewegung warf sie ihre Haare über eine Schulter, neigte den Kopf zur anderen Seite und betrachtete ihn. Für einen winzigen Moment blieb ihr Blick an seiner Badehose hängen, dann schaute sie schnell in den dunklen Himmel.
„Ein junger Philosoph unter den Tränen des Laurentius, der wahrscheinlich zum ersten Mal mit einer Russin spricht.“ Mit einem leisen Lachen fügte sie hinzu: „Danke für das wahrscheinlich ungewollte Kompliment.“
Nur zu deutlich spürte er, was sie meinte. Zusammen mit einem plötzlichen Engegefühl, das von seiner Hose ausging, stieg Hitze in ihm auf und er wusste, dass sein Gesicht jetzt rot wurde.
„Es muss dir nicht peinlich sein. Du wirst ein Mann.“ Sie wies mit dem Finger nach oben. „Eine Laurentiusträne. Schau!“ Kindliche Freude vibrierte in ihrer Stimme ebenso wie die Sinnlichkeit der erfahrenen Frau.
„Das da oben sind keine Tränen von irgendwem,“ entgegnete er barsch. „Nur Mikrometeoriten, die sich durch die Reibung an der Luft erhitzen, dann glühen und schließlich zerspringen. Im November und August gibt es besonders viele davon. Leoniden und Perseiden nennen die Astronomen diese Ströme. Einen Zusammenhang zwischen ihnen und einem römischen Märtyrer herzustellen, der am zehnten August 258 nach Christi von Kaiser Valerian auf einem Rost mit glühenden Kohlen gefoltert worden sein soll, fällt nur den dummen Menschen ein.“
„Es ist immerhin eine schöne Geschichte.“
„Von Folter und Mord.“
„Von Aufopferung für andere. Ist das nicht etwas Wunderbares?“
„Nur für die anderen. Was in der logischen Konsequenz dazu führt, dass sie immer darauf warten, dass sich jemand für sie aufopfert, statt selbst etwas zu tun. Ich würde mich nie für jemanden opfern. Tut ja für mich auch keiner.“
Sie faste ihre Tasche fester und es schien, als wollte sie gehen. Dann fiel ihr noch etwas ein. „Man sagt, dass demjenigen, der das Glück hat, eine solche Sternschnuppe zu erblicken, sein geheimster Wunsch erfüllt wird. Aber nur, wenn er ganz fest daran glaubt.“
Er lachte bitter. Es brach einfach aus ihm heraus. „Würde Glück alleine nicht schon genügen? Ein winziges bisschen, an das man sich, wenn man es schon nicht festhalten kann, wenigstens erinnern kann?“
Wieder sah sie ihn mit diesem nachdenklichen Blick an, bewegte den Arm, er versteifte sich und sie stoppte die Bewegung, Millimeter, bevor sie ihn berührte. „Du bist einsam,“ stellte sie fest.
Blödsinn, sagte sein Verstand und der Held, der in jedem jungen Mann schläft, wollte, dass er sich aufrichtete, ihr in die Augen blickte, um ihr genau dieses Wort ins Gesicht zu schleudern. Doch die drei Worte hatten nicht nach Mitleid geklungen, sondern sich wie eine simple Feststellung angehört. Und sie war korrekt. Er las, wenn andere seines Alters versuchten, sich in die Disco zu schleichen. Wenn er etwas sagte, war es das, was er dachte und wenn er etwas tat, dann hatte er zuvor darüber nachgedacht. Nichts davon schaffte Kumpel, Freunde noch viel weniger. Die einzigen beiden Menschen, die ihn verstanden, waren seine Großmutter, deren Hände und Stimme immer zittriger wurden und sein Vater, der nie zu Hause war.
Er winkte ab: „Das ist nur was Schlimmes für Schafe, die ihren Leithammel verloren habe.“
„Und du brauchst keinen.“
„Ich will keinen. Ich denke, Gesellschaft wird überbewertet. Wahrscheinlich.“
„Jeder andere hätte gesagt: Ich glaube …“
Er lehnte sich mit seinem Po gegen den Stein und wühlte mit den Zehen kleine Löcher in den feuchten Sand. „Mein Gehirn hat nur ein bestimmtes Fassungsvermögen. Je mehr Glaube ich hineinlasse, um so weniger Platz bleibt mir für Wissen. Und ich will viel wissen. Außerdem: Hört sich das nicht viel besser an? Ich denke, statt: Ich glaube? Schließt das eine nicht das andere aus?“
„Aber Glaube, kleiner Philosoph, ist Hoffnung. Wissen ist Zweifel.“
Das mit dem kleinen Philosophen ärgerte ihn. Sie machte sich lustig über ihn. Mit einem Blick auf seine Zehen grummelte er: „Sie haben da zwei Axiome gesetzt, wie es die Kirche seit zweitausend Jahren tut. Das ist ziemlich unfair.“ Er kratzte sich an der Nase. „Aber schauen wir doch mal, ob ich nicht wenigstens eins davon ad absurdum führen kann, auch wenn ich nicht Galilei bin. Also, wenn ich weiß, wie viel Menschen es auf der Erde gibt, wie groß ihre Oberfläche ist und noch ein paar andere Fakten, die mir jetzt noch nicht klar sind, aber die man ganz sicher messen kann, dann kann ich irgendwann berechnen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, dass ich Sie zu einem Zeitpunkt wiedersehe, an dem ich groß genug bin, dass Sie nicht mehr über mich lachen. Sie mag zwar klein sein, vielleicht sogar nahe null, aber nicht ganz. Offensichtlich, da ich weiß, wie Sie aussehen, wo Sie herkommen etc., lassen sich einige dieser Fakten beeinflussen und damit die Wahrscheinlichkeit noch erhöhen. Es ist nur eine Frage des Wissens. Ergo: Wissen ist nicht Zweifel, sondern Hoffnung.“
„Warum willst du mich wiedersehen?“
Er wurde wieder rot, weil er erst jetzt begriff, was er eben von sich gegeben hatte.
Sie legte ihre Fingerspitzen an die Lippen, ließ ein paar Sekunden verstreichen, dann stellte sie fest: „Du bist wirklich ungewöhnlich.“
Ein paar Atemzüge lang schwieg sie, als wüsste sie nicht, was sie als Nächstes tun oder sagen sollte. Dann sagte sie: „Damit ein Wunsch in Erfüllung gehen kann, muss man ihn aussprechen, dann wird ein Ziel daraus. Um es zu erreichen, braucht man einen Plan und die Kraft, ihn auch auszuführen. Daran scheitern die meisten Wünsche und nicht, weil es nicht genug Sternschnuppen gibt.“ Sie wies zum Himmel. „Schau hin, da ist wieder eine!“
Er blickte hoch, und als die Träne des Laurentius verglühte, war sie schon ein paar Schritte weitergegangen.
„Ich kenne nicht einmal Ihren Namen!“, rief er ihr hinterher.
Ihr Lachen klang wie das silberhelle Läuten eines Glöckchens im Nebel. „Finde ihn heraus! Ein Fakt mehr für deine Berechnung! Ich bin eine Nymphe, die die Geliebte von Göttervater Zeus werden sollte. Doch stattdessen stürzte ich mich von einer Klippe ins Meer. Poseidon hat mich gerettet und so werde ich die Unbesiegbare genannt. Wenn du nichts als Finsternis um dich spürst, dann rufe mich bei meinem wahren Namen und ich komme und erhelle sie dir.“
Er schrie: „Sie nehmen mich auf den Arm!“
„Habe ich nicht gerade ein Licht ange…“
Den Rest des Satzes verstand er nicht mehr, sie war schon zu weit weg. Er schaute ihr so lange nach, bis eine Biegung des Ufers und ein paar Strandkörbe sie seinem Blick entzogen, dann setzte er sich wieder auf seinen Stein und ließ die kleinen Wellen seine Füße umspülen. Er hätte gerne die Sterne gesehen, doch der Himmel war so schwarz, dass er nicht einmal die Wolken sehen konnte, die ihn erneut verdunkelten.
<< >>
Sie ging noch eine Viertelstunde weiter, bis die letzten Strandkörbe weit hinter ihr lagen und sie wusste, dass sie in einer Uferzone war, die tagsüber nur von wenigen Spaziergängern besucht wurde. Mehrere Reihen von Sanddünen hatten sich hier über tausende von Jahren gebildet, hoch genug, dass jemand, der sich zwischen ihnen und dem auf ihnen wachsenden Strandhafer befand, vom Strand aus nicht mehr gesehen werden konnte. Sie schaute sich noch einmal gründlich um und huschte, als sie nichts sah und hörte, zwischen die Dünen und setzte sich mit einem leisen Stöhnen.
Sie legte ihre Tasche neben sich, zog die Sandalen von den Füßen, ließ sich auf den Rücken sinken und schloss vor Erschöpfung die Augen. Mit der letzten Fähre hatte sie in Warnemünde über die Warnow übergesetzt und war von da zu Fuß den Strand entlangmarschiert. In ihrem sowjetischen Pass stand der Name Larissa Gromkowa und noch vor ein paar Tagen war sie trotz ihrer scheinbaren erst dreißig Jahre wegen ihres Wissens eine hochangesehene Onkologin und wegen ihrer Schönheit eine begehrte Frau gewesen. Beides hatte sie eingesetzt, um sich den Zugang zu einem geheimen Biowaffenprogramm in einem Laborkomplex in der Nähe von Leningrad zu verschaffen. Drei Jahre lang hatte ihre Tarnung gehalten, doch sie war Wissenschaftlerin, keine Expertin in verdeckter Kriegsführung, die Leute des KGB, die den Laborkomplex und die Wissenschaftler überwacht hatten, schon.
Als sie begriffen hatte, dass ihre Tarnung kurz davor war, aufzufliegen, hatte sie einen Notruf abgesetzt, das Labor sabotiert, ebenso den Test mit dem Prototyp eines neuartigen Kampfstoffs und war mit dem Zug über Brest nach Berlin geflohen. Viel Hoffnung hatte sie nicht gehabt, dass sie den KGB lange genug an der Nase herumführen konnte, aber zwei Tage hätten ihr genügt, um die in Warnemünde wartende Time Bandit zu erreichen.
Doch das Schiff war nicht da gewesen. In einem kleinen Kaffee auf der Warnemünder Hafenpromenade hatte sie ausgeharrt, Stunde um Stunde, doch statt die Time Bandit einlaufen zu sehen, hatte sie einen Mann erkannt, der zur Wachmannschaft des Laborkomplexes in der Nähe von Leningrad gehört hatte. Offenbar hatte sie trotz ihrer falschen Papiere eine Spur hinterlassen und das bedeutete auch, dass sie, selbst wenn die Time Bandit noch einlaufen würde, keine Chance mehr hatte, die Hafenkontrollen mit diesen falschen Papieren zu passieren. Ihr war nichts anderes übriggeblieben, als die Ausweichvariante zu wählen, von der sie schon während der Planung gewusst hatte, dass die Chance, dabei umzukommen, wesentlich höher war, als die, zu überleben.
Der Lichtschein einer starken Lampe geisterte über den Strand. Sie machte sich so klein im Strandhafer, wie sie nur konnte, und zwang sich, ruhig zu atmen trotz ihres wild pochenden Herzens. Nach einigen Minuten verschwand der Lichtkegel und sie schätzte, dass sie jetzt mindestens eine halbe Stunde hatte, bis die nächste Patrouille kam.
Sie fragte sich, ob sie den Jungen in Gefahr gebracht hatte, weil sie ihn angesprochen hatte. Sie wusste nicht einmal zu sagen, warum sie es überhaupt getan hatte, schließlich war er so in seine Gedanken versunken gewesen, dass sie wahrscheinlich sogar unbemerkt an ihm hätte vorbeigehen können. Doch etwas war von ihm ausgegangen, dass sie neugierig gemacht hatte. Etwas, dass sie selbst jetzt noch spürte und was sie auch veranlasst hatte, ihm den Ursprung ihres Namens zuzurufen.
Ohne dass sie es bemerkte, spielte sie mit ihren Haaren. Ob er sich die Mühe machen würde, ihn herauszufinden? Ein normaler junger Mann in seinem Alter würde sich vielleicht noch eine Weile an ihren Körper, ihr Gesicht und seine Reaktion darauf erinnern, doch dann hätte er sie schnell vergessen. Mit beidem war sie sich bei ihm jedoch nicht sicher: dass er in die Kategorie ‚normal‘ fiel und dass er sie vergessen würde. Welcher junge Mann suchte freiwillig die Einsamkeit, konnte aus seinem Kopf eine Passage aus dem Lexikon zitieren und sie dann auch noch mit der Realität verknüpfen? Und er konnte nicht mehr glauben, dachte, Wissen wäre ein Ersatz …
Das Weib in ihr fragte sich, wie er wohl sein würde, wenn er ein Mann in der vollen Blüte seiner Kraft war. Dass er sie besitzen würde, dessen war sie sich sicher. Nicht nur einen schönen, kraftvollen Körper, der sich bereits jetzt abzeichnete, sondern auch einen starken Geist. Das hatte sie gefühlt … Er könnte ein Löwe unter Hyänen sein, ein Alphatier …
Sie schnaubte leise und bitter durch die Nase. Wahrscheinlicher war, dass man ihn auf die eine oder die andere Art in das System integrieren würde. Entweder, man korrumpierte ihn, indem man sich um sein Fortkommen kümmerte, ihm verlockende Angebote machte, ihm sagte, dass er etwas Besonderes sei. Es wäre der leichteste Weg für ihn, er müsste nur zustimmen und seine Karriere wäre besiegelt. Blieb er stur, würde man ihn brechen und zu einem Rädchen des Systems machen. Es gab nur diese beiden Möglichkeiten. Funktionierte keine, würde er ein Aussätziger sein, den alle mieden, als hätte er die Pest, würde nicht studieren können und von der Stasi beobachtet wurde.
Sie zuckte die Schultern. Das Gespräch mit ihm war eine willkommene Ablenkung von ihren Sorgen gewesen, eine Winzigkeit Normalität, aber jetzt gab es Wichtigeres, an das sie zu denken hatte. Mit immer noch klopfendem Herzen zog sie hastig ihren Rock aus, richtete sich auf die Knie auf und warf einen schnellen Blick über die Dünen. Alles schien ruhig und sie ließ sich wieder auf ihre Fersen und ihr Gesäß sinken.
So, wie sie da jetzt saß, mit vollendeten weiblichen Kurven, die Haare in der satten roten Farbe eines guten Burgunders dicht wie ein Mantel bis zur Hüfte herabfallend, mit straffen Brüsten und sinnlichen roten Lippen, hätte sie das Modell sein können, nach der Nicos die Statue Aphrodites auf Albinas Schreibtisch geformt hatte. Doch davon wusste Larissa nichts, auch nicht, dass sie nicht nur mit ihrer Schönheit jener sagenhaften Aphrodite hätte Konkurrenz machen können, sondern auch mit dem Schaden, den sie angerichtet hatte. Sie hatte es so gewollt, auch wenn sie nicht stolz auf das war, was sie es getan hatte. Stolz war ein Gefühl, das sie nicht kannte, ebenso wenig wie Schuldbewusstsein, weil sie den Befehl zu töten, nicht ausgeführt hatte.
Kein Licht leuchtete auf dem Meer und das bedeutete, dass auch kein Schiff auf Reede vor Anker lag, das sie vielleicht hätte aufnehmen können, wenn sie es denn bis zu ihm schaffte. Es hätte ihr auch nicht geholfen, denn wenn es eines gewesen wäre, auf dem die sowjetische Flagge geweht hätte, wäre ihre Flucht genau in dem Moment beendet gewesen. Man würde sie ausliefern und dann hätte sie auch gleich am Strand sitzen bleiben und auf die Häscher des KGB warten konnte. Ihr blieb nur die Hoffnung, dass die Time Bandit sich aus irgendwelchen Gründen verspätet hatte und sie aus dem Wasser fischen würde, wenn sie es nur weit genug hinaus schaffte.
Sie zitterte am ganzen Körper. Wie ein Klumpen verfaulender Seetang lag ihr die Angst im Magen. Mit hämmerndem Herzen hob sie den Kopf aus dem Strandhafer. Der Strand schien noch immer menschenleer. Sie hockte sich wieder hin und steckte ihre Haare hoch und so fest, wie sie nur konnte. Die wasserdichte Hülle mit Dokumenten schob sie unter ihren Badeanzug, dann befestigte sie noch den Notsender an ihrem Oberarm. Es hatte keinen Sinn, ihn jetzt bereits einzuschalten. Sein Signal konnte von jeder Amateurfunkstation aufgefangen werden und es würde nicht nur der Time Bandit ihre Position verraten, sondern auch ihren Verfolgern. Erst wenn sie weit genug draußen war, würde sie das tun in der Hoffnung, dass die Time Bandit sie schneller aus dem Wasser fischte, als jemand an Land ein Boot zu ihrer Position schicken konnte.
Flockiger Schaum schwamm auf dem Wasser am Ufer. Ohne zu zögern, trat sie hinein und warf noch einen letzten Blick auf die Lichter des Neptunhotels in Warnemünde und den Leuchtturm. Sein rotierender Lichtstrahl reichte weit auf das Meer hinaus, aber nicht herab bis auf die Wasserfläche. Von ihm drohte ihr die geringste Gefahr.
Sie wendete sich um und ging tiefer ins Wasser. Als es ihr bis zum Bauchnabel reichte, ließ sie sich ganz hineingleiten und schwamm mit ruhigen, gleichmäßigen Bewegungen los.
<< >>
Er fühlte, wie ihn jemand derb am Oberarm packte und riss die Augen auf. Grelles Licht blendete seine Augen. Instinktiv spannte er die Oberschenkelmuskeln und drückte sich mit einem heftigen Ruck hoch. Der über ihn gebeugte Mann verlor sein Gleichgewicht, Christian drehte sich blitzschnell mit der Schulter in ihn hinein und setzte einen Armhebel an. Erst jetzt wurde er vollends wach, begriff, dass vor ihm zwei Soldaten der Grenzbrigade Küste standen … und ließ los.
Der Größere, der Christian gerade noch gepackt hatte, taumelte verblüfft zurück, der Kleinere riss seine Kalaschnikow von der Schulter.
Schnell hob Christian die Hände und machte einen Schritt am Stein vorbei rückwärts. „Entschuldigung, ich … war eingeschlafen und dachte … es wären meine Kumpel, die mich ins Wasser schmeißen wollen.“
„Um diese Zeit? Nach Sonnenuntergang habt ihr nichts mehr zu suchen!“ Der kleine Soldat hatte eine erstaunlich tiefe Stimme. „Du bist aber ganz schön aggressiv, Junge.“
„I wo, ich hab mich nur erschreckt. Könnten Sie vielleicht …“ Christian deutete auf die auf ihn gerichtete Maschinenpistole.
Der Kleine grinste. „Hast Schiss was? Dann treib dich nicht bei Nacht am Strand herum.“ Er hängte sich die Waffe wieder über die Schulter und Christian atmete auf.
Der Größere streckte seine Hand aus. „Ausweis!“, bellte er.
Christian grinste, wies auf seine Badehose und lachte. Sie war sein einziges Kleidungsstück. „Fass mal `n nackten Mann in die Tasche, Kumpel. Ich wohne gleich hier um die Ecke.“
„Pass auf, was du redest! Ich bin nicht dein Kumpel! Nach Sonnenuntergang am Strand und ohne Papiere. Mach ruhig weiter so.“ Der Soldat nestelte eine Tasche seiner Uniform auf und zog ein kleines Notizbuch hervor. „Name, Wohnadresse?“
Christian sagte es ihm und setzte hinzu: „Sind Ferien. Da wohne ich hier bei meiner Oma.“
Der Soldat schrieb die Angaben auf und klappte das Notizbuch zu. Kalt sagte er: „Du bist hiermit belehrt, dass du dich nach Sonnenuntergang nicht am Strand aufzuhalten hast. Morgen früh überprüfen wir deine Adresse und wenn sie nicht stimmt …“ Er grinste hämisch und klatschte das Notizbuch in seine Handfläche. Es war ein hässliches Geräusch. „Bekommt deine Oma Besuch und dann wirst du gesucht. Wir schreiben nachher den Wachbericht und jeder Name, der darin auftaucht, wird zu einer Akte. Du hast jetzt auch eine. Fängst früh mit Auffallen an, du kleiner Köter. Vielleicht hast du ja sogar schon eine. Und jetzt mach dich vom Acker, hast hier nichts mehr verloren.“
Christian wusste, von welcher Art Akte der Soldat sprach. Er wünschte sich, er hätte den Seoi Nage vorhin durchgezogen. Von seinem eigenen Schmerz getrieben, wäre der Soldat wie eine Rakete über ihn hinweg geflogen und auf den Rücken gekracht. Zwar hätte er sich im weichen Sand nicht das Rückgrat gebrochen, aber die Waffe auf seinem Rücken hätte für anständige blaue Flecke gesorgt.
„Stimmt,“ knurrte er wütend. „Habs schon gefunden, bevor ihr Zinnsoldaten hier aufgetaucht seid.“
Er wollte gehen, da sagte der Kleine mit der tiefen Stimme:
„Werd nicht pampig, sonst kassieren wir dich ein! Ist hier eine Frau vorbeigekommen?“
Deshalb der gehetzte Ausdruck in ihrem Gesicht, begriff Christian. Sie suchen sie! Einen Moment überlegte er, dann fasste er einen Entschluss und antwortete: „Klar doch, jede Menge. Große, kleine, dicke, dünne, alte, junge, hübsche, hässliche …“
„In der letzten halben Stunde, du Idiot! Groß, schlank, aber trotzdem kräftig, lange rote Locken, vielleicht auch hochgesteckt, so um die dreißig?“
Er nickte heftig. „Sie hat sogar mit mir gesprochen.“
Die beiden Soldaten sahen sich an. „Ich werd verrückt,“ sagte der Größere von beiden. Er fuhr Christian an: „In welche Richtung ist sie gegangen?“
„Nicht gegangen.“ Christian wies zum Wasser. „Wieder weggeschwommen. Leider.“
„Wieder? Was soll das heißen?“
„Na, da ist sie doch auch hergekommen. Aus dem Meer. Sie hat gesagt, dass Poseidon ihr das Leben gerettet hat. Bestimmt ist sie wieder zu ihm geschwommen.“
„Poseidon, ja? Hat der ein Boot oder was?“
„Braucht er nicht. Aber echt jetzt? Du kennst Poseidon nicht?“
„Ich kenn nicht jeden Fischer in dem Nest hier.“ Der große Soldat schüttelte den Kopf und nestelte an seiner Brusttasche, in der das Notizbuch steckte. „Die genaue Adresse und der volle Name?“
Wenn sie ihn mitnahmen, konnten sie den Strand nicht weiter entlang gehen … Christian pochte das Herz bis zum Hals, aber in seiner Stimme war nichts davon zu hören: „Na dann zum Mitmeißeln für dich Steinzeitmenschen: Poseidon ist der griechische Gott des Meeres, bei den Römern hieß er Neptun. Der Typ mit dem Dreizack. Er ist eine Legende, nichts weiter. Genau wie die Frau. Sie ist eine Nymphe: zur oberen Hälfte Mensch mit wunderschönen Haaren und einem Gesicht wie Milch und Honig, die untere Hälfte ein Fisch mit silbern glänzenden Schuppen und einer Perlenkette um den Schwanz. Ihre Adresse? Hier drinnen.“ Er tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
Es dauerte einen Moment, dann machte der Größere einen drohenden Schritt auf Christian zu. „Du hast uns verarscht!“
Christian lachte böse. „Und musste mich dazu nicht mal anstrengen, obwohl ihr die dicken Knarren habt und ich nur ein in Testosteron ersoffenes Gehirn, in dem Meerjungfrauen umherschwimmen. Scheint da eine Proportionalität bei dir zu geben. Vermutlich indirekt. Muss ich mal die Wahrscheinlichkeit berechnen.“
„Hältst du mich für einen Idioten?“
„Das würde ich niemals sagen, nicht mal, wenn es wahr wäre. Vielleicht hat deine Mutti dich ein bisschen zu heiß gebadet, aber sonst … Jedenfalls denke ich, je größer die Knarre, umso kleiner das Gehirn und du hast eine echt große Knarre, man.“
„Ich auch.“ Der Kleine nahm seine Kalaschnikow von der Schulter und entsicherte sie. Hart klang das metallische Klicken durch die Nacht. Hämisch sagte er: „Du willst es ja nicht anders. In der Zelle kannst du jede Wahrscheinlichkeit der Welt berechnen, du Freak. Los! Abmarsch!“
Christian seufzte und setzte sich in Richtung Markgrafenheide in Bewegung, die Gegenrichtung zu der, in der Larissa gegangen war.
Freak nennt er mich, dachte er, dann hätte sie wohl gut zu mir gepasst. Aber Meerjungfrauen küssen nicht. Schade eigentlich, ich wäre ihr gefolgt bis ans Ende der Welt. Aber ich habe ihr wenigstens ein paar Minuten verschafft. Vielleicht hilft es ihr ja.
- Anfang
- Kapitel 1: Der vierte Schlüssel
- Kapitel 2: Meerjungfrauen küssen nicht
- Kapitel 3: Die Unbesiegbare
- Kapitel 4: Erinnerung an die Zukunft
- Kapitel 5: Der junge und der alte Wolf
- Kapitel 6: Flachgelegt
- Kapitel 7: Vertrieben aus dem Paradies
- Kapitel 8: Kaltes Herz
- Kapitel 9: Pfeifen im dunklen Wald
- Kapitel 10: Eine Frau schenkt Leben, sie nimmt es nicht
- Kapitel 11: Gezeitenwechsel
- Kapitel 12: Kommen Sie zu uns, bevor wir zu Ihnen kommen
- Kapitel 13: Der Duft von Sandelholz
- Kapitel 14: Der im Regen tanzt
- ...
- Kapitel 26: Schlaf gut, Braunauge
- ...
- Kapitel 32: Das Herz der Sterne
- ...
- Nachwort