Der Tag, an dem der Wind stillstand

Für seine zehn Jahre war Ralph ein kluges Kerlchen. Selten brachte er einmal eine Zwei oder Drei von der Schule nach Hause, meistens waren es Einsen. Trotzdem gehörte er nicht unbedingt zu den Lieblingsschülern seiner Lehrer und das lag daran, dass er zu viele und manchmal auch die falschen Fragen stellte. Die, die er jetzt seinem Großvater stellte, war das Thema eines Klassenaufsatzes: „Großvater, wofür brauchen wir den Wind?“
Ralph hätte den Aufsatz auch ohne die Antworten seines Großvaters schreiben können, schließlich besuchte er ja eine deutsche Schule. Er wusste, dass Luftbewegungen Windkraftwerke antreiben, die grünen Strom erzeugen und damit Atom- und Kohlekraftwerke unnötig machen, weil sie schmutzigen Strom erzeugen. Schmutziger Strom ist schuld am Klimawandel und an der Zerstörung unserer Umwelt. Das wusste Ralph, schließlich sagten das nicht nur seine Lehrer. Jeden Tag stand es in der Zeitung, kam im Fernsehen und auch die Regierung sagte das und da waren überall nur kluge Leute. Sonst wären sie ja nicht da, wo sie waren.
Er wusste sogar, dass es Kipppunkte gibt – winzige Veränderungen, die wie ein Tropfen ein ganzes Fass zum Überlaufen bringt, das Klima der Erde für immer zerstören konnten. Manchmal wunderte er sich zwar, dass bei den vielen Kipppunkten, die schon überschritten worden sein sollten, immer noch nichts passiert war, aber es wurde jeden Tag im Fernsehen gesagt und er war ein kleiner Junge, wie konnte er da zweifeln?
Ein bisschen schwieriger zu verstehen war da schon für ihn, dass diese Windkraftwerke Platz brauchten, für den man den Wald roden musste und auch, dass sie Vögel und Insekten kaputt machten. Er erklärte es sich so, dass der Wald, die Vögel und die Insekten nicht so wichtig für die Umwelt und das Klima waren. Das funktionierte auch ganz gut, denn schließlich lebte er in einer großen Stadt und kannte Bäume nur aus den Parks. Die wurden regelmäßig durch die Stadtverwaltung gegossen und gepflegt und sahen schön aus. Genau wie die bunten Spielzeuge in der Sexualerziehung. Marie hatte ihm mal gesagt, dass auch da Wind ganz gut war, weil er die erhitzte Haut kühlte, wenn man sie benutzte. Sie war zwar nicht so gut wie Ralph in der Schule, aber in Sexualerziehung bekam sie immer Einsen von Frau Divers und das, obwohl sie oft alleine mit ihr nachsitzen musste.
Sein Großvater schmunzelte. „Der Wind treibt die Meeresströmungen, lässt die Felder grün werden, Wasser verdunsten, das dann wieder als Regen fällt. Das erzeugt dann wieder neuen Wind und der Kreislauf beginnt von vorne. Ohne Wind gäbe es kein Leben auf der Erde. Wir würden alle vor Hitze umkommen oder verdursten.“

Ralph dachte nach. „Gibt es denn unendlich viel von dem Wind?“
„Natürlich nicht. Es ist viel davon da, aber nicht unendlich viel. Warum fragst du das?“
„Also, wir haben heute in Physik den Energieerhaltungssatz gehabt.“ Ralph fasste sich an die Nase. Das tat er immer, wenn er nachdachte. „Energie kann nicht verloren gehen oder geschaffen werden. Sie ist immer da und kann nur in eine andere Form umgewandelt werden. Ein Windrad bekommt seine Energie doch vom Wind. Damit müsste doch die Energie des Windes um so viel weniger werden, wie das Windrad Strom erzeugt?“
Lange schwieg sein Großvater. Insgeheim war er sehr, sehr stolz auf seinen Enkel. Der sah den Elefanten im Raum, den die Erwachsenen nicht sehen mochten. Nicht sehen durften. Doch wenn er über ihn sprach, würde es seinen Enkel zu einem Ausgestoßenen machen. Zu jemandem, der nicht studieren durfte, keine Arbeit fand, vielleicht sogar in einem Lager landen würde. Das wollte der Großvater um nichts in der Welt, und so fragte er: „Wenn du recht hättest, was wäre denn die Folge davon?“
Jetzt bohrte Ralph sogar mit dem Finger in der Nase. „Vielleicht weniger Regen? Vielleicht werden die Meeresströmungen langsamer? Hm, also wenn es weniger regnet, würden auch die Felder weniger grün. Dann würde ja auch der Wind im nächsten Jahr noch weniger, und dann weniger Regen … es würde immer wärmer werden …“ Ralph starrte seinen Großvater an. „Aber dann wären ja überall Wüsten, irgendwann! Und die Windräder würden auch nicht mehr funktionieren, weil gar kein Wind mehr da ist?“
„Und? Siehst du davon etwas im Fernsehen? Reden deine Lehrer*Innen darüber? Findest du etwas bei Facebook, Twitter, Google oder Youtube darüber? Denn nur was da steht, ist Wahrheit und was da nicht steht, ist falsch. Das lernst du doch in der Schule, oder?“

„… ja schon … stimmt das denn alles nicht?“
„Natürlich nicht“, kollerte sein Großvater. „Mathematik und Physik sind alte Wissenschaften. Sie passen nicht mehr in unserer Zeit, sie sind unmodern und deshalb interessieren sich die Erwachsenen auch nicht mehr dafür. Die meisten kennen sie nicht einmal mehr.“
Er stand auf und zündete eine Kerze an. Es dunkelte und er wollte wenigstens das Gesicht von seinem zu klugen, aber in dieser Gesellschaft nicht überlebensfähigem Enkel sehen, und die elektrische Beleuchtung durften sie nur für eine Stunde am Abend einschalten. „Hast du schon etwas getrunken heute?“
„Wir müssen sparen, sagt Mama. Wir haben nur noch zwei Liter …“
„Ist schon gut.“ Er maß zweihundert Milliliter Wasser ab und reichte Ralph das Glas. „Ich brauche nicht mehr so viel …“

RHCSo, Februar 2022

 

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Nachbemerkung
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