Eine Million Tropfen Leben
Jede Frau wird als Verführerin geboren. Manche vergessen es irgendwann, einige perfektionieren es und andere machen daraus einen Beruf. Man trifft sich erst zwischen den Beinen, dann auf dem Standesamt, später vor dem Scheidungsrichter und irgendwann kommt das Vergessen. Das ist der Gang der Welt. Möge Gott deiner armen Seele gnädig sein, wenn du die Eine triffst, die dir das Vergessen für immer verwehrt …
Sein Name war Hartwig. Der lange Arbeitstag hatte eine Mischung aus Stresshormonen, Adrenalin und Testosteron in seinem Blut angestaut, die langsam toxische Werte annahm. Der saubere, durchsichtige Glastisch vor ihm flimmerte im Licht der untergehenden Sonne. Er erinnerte ihn an den Schweriner See in Zippendorf. Im Sommer glitten dort weiße Segel wie Schäfchenwolken über das Wasser, blaugrüne Wellen rauschen leise an den Strand und statt Schweiß und Fresstempelmief war der Duft von eingecremter Frauenhaut allgegenwärtig.
„Einen Kaffee?“ Ein kleiner Mittfünfziger mit müden Augen stand neben Hartwigs Tisch. Der Fleck auf dem weißen Hemd und die Müdigkeit im schmalen Gesicht erzählten eine lange Geschichte von übellaunigen Kunden und einer Arbeitszeit jenseits von Gut und Böse zu einem Lohn, dessen Attribut „gesetzlich“ der reine Hohn war.
Der See in Hartwigs Kopf zerplatzte und er murmelte: „Eigentlich nicht. Ich warte nur auf meine Frau.“
Unter der Hakennase und den Stoppeln des grauen Dreitagebartes des Kellners machte sich ein wissendes Lächeln breit. „Kauft sie Schuhe oder Unterwäsche?“
Hartwig zog die Augenbrauen hoch und der Kellner feixte: „Wenn sie Schuhe kauft, bringe ich Ihnen besser gleich eine Kanne. Zeitungen finden Sie zwanzig Schritte weiter im Kiosk rechts und die Toilette ist eine Etage tiefer.“
„Sie haben Erfahrung?“
„Ich war verheiratet …“
Ein Kind schrie. Dem Vater rannen Schweißbäche über das Gesicht und die Mutter presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen. Ihr Stress wehte wie dunkler Rauch aus der Einkaufsmeile zu ihnen herauf und der Kellner verschwand hinter dem Tresen. Fünf Minuten später verwöhnte der Duft von frisch gebrühtem Kaffee Hartwigs Nase. In Gedanken teleportierte ich wieder an den Strand des Schweriner Sees. Mitten zwischen entspannt lächelnde, sonnenüberflutete Bikinischönheiten und das leise Rauschen des Wassers.
Zwei Tische weiter ließ sich eine große, muskulöse Frau in scharlachrotem Bikerleder mit der Grazie eines Raubtiers nieder, kurze schwarze Haare, rubinrot geschminkte Lippen. Ihre dunklen Augen brannten vor Vitalität, als ob sie nicht abwarten könne, wieder hinauszugehen und etwas zu unternehmen.
Der solariumgebräunte Armani-Anzug mit Goldkette und weißem Cashmereschal an ihrem Nebentisch leckte seine schmalen Lippen. Typen wie er lungern in jedem besseren Kaffee herum, Seelenvampire und es sind nicht immer nur Männer. Immer teuer angezogen, scheinbar weltgewandt, wohlriechend und doch bis ins Mark verfault. Sie fühlen keinen Schmerz und merken keinen Einschlag. Wenn sie mit ihrem Gelaber keinen Erfolg haben, suchen sie nach der nächsten Gelegenheit, so lange, bis jemand ihrer Sucht nach Selbstbestätigung erliegt. Dann krallen sie sich, was sie nur bekommen können und lassen eine besudelte Seele zurück. Es gibt nur eine Möglichkeit, mit ihnen fertig zu werden: Don’t feed the Troll.
Als sie ihre Bestellung aufgegeben hatte, klebte er sich ein professionelles Lächeln ins Gesicht und sprang auf. Nach vier gezierten Schritten stand er neben ihrem Tisch, beugte sich vor, sprach auf sie ein und griff nach der Lehne des freien Stuhls neben ihr. Laut genug, dass auch die Gäste an den Nebentischen es hören konnten, fiel sie ihm ins Wort: „Ich will weder, dass Sie jetzt an meinem Tisch Platz nehmen, noch später in meinem Kopf oder zwischen meinen Beinen. Ich ficke nur Männer.“
Goldkette erstarrte mitten in der Bewegung. Er drückte den Rücken durch, ging zu seinem Tisch zurück und versteckte sich hinter einem Männermagazin. Kurze Zeit später zahlte er und verschwand.
Unauffällig, so dachte Hartwig, warf er ihr aus dem Augenwinkel einen Blick zu. Ihr Kopf fuhr herum zu ihm und in ihren Augen loderte die Höllenglut eines Vulkans auf …
Nackte Steinwände, irgendwo flackert eine einsame Kerze. Ihr Licht weckt einen Schatten und er hört seinen Atem. Er will sich umdrehen, doch etwas hält ihn fest. Er will sich bewegen, irgendwie, doch der Befehl kommt nie bei seinen Muskeln an. Gefesselt schwebt er in einem eisigen Nichts, nackt bis hinunter zum Grund seiner Seele. Klack – Metall trifft auf Stein. Noch einmal. So geht nur eine Frau. Sein Herz hämmert in der Brust. Eine Hand berührt ihn dort, weich ist sie und wunderbar warm. Augen erscheinen vor ihm, unstillbarer Hunger brennt darin und blasses Zungenrosa befeuchtet zu dunkel geschminkte Lippen. Es sind die gleichen, nach denen Leonardo da Vinci das Lächeln Mona Lisas gemalt hat. Er kennt die Frau. Jeder kennt sie. Sie ist Hure und Heilige, Sünde und Unschuld, Katharina die Große und Jean d‘ Arc, Hera und Aphrodite, aber auch Medusa, Persephone und Pandora. Sie ist Gaija, unser aller Mutter.
Ihr Finger streicht über seine Lippen und Zeit wird zu einem Wort ohne Sinn. Nur noch diese Frau, ihr Moschusgeruch und die Berührung ihrer Hand existieren in seiner Welt. Dann dringt sie in ihn ein, Sterne explodieren hinter seinen Augen, am Horizont seines Seins türmt sich eine Welle auf, unaufhaltsam rollt sie auf ihn zu, jeder Stoß treibt sie voran und als sie über ihm zusammenbricht, kann er nur noch schreien. Er zerbirst in Millionen und Abermillionen von Tropfen, jeder von ihnen gefüllt mit dem Samen eines neuen Lebens; mit all seinen Sehnsüchten, Hoffnungen und Träumen. Er ist Lust und Schmerz, Freude und Trauer und unendliches Glück. Zusammengerollt wie ein Baby im Mutterleib, kann ihn nichts und niemand mehr erreichen, nicht in dieser Welt und auch nicht in der Nächsten. Denn Gaija beschützt ihn. Wie alle ihre Kinder.
„Du hast dich bekleckert!“ Sabrina stand neben ihm und er schreckte aus seinem Tagtraum auf. Auf seiner Jeans breitete sich in Höhe des Oberschenkels ein feuchter Fleck aus. Er blickte erst auf seine leere Kaffeetasse, dann zu der fremden Frau hinüber. Sie sah ihn mit einem undeutbaren Ausdruck im Gesicht an, stand auf und kam mit wiegenden Schritten, als sei sie gerade nach einem langen Ritt vom Pferd gestiegen, zu ihnen herüber. Wahrscheinlich eine schlechte Idee – die Zornfalte auf der Stirn seiner Frau sprach Bände.
Beide schauten sich eine Sekunde in die Augen, dann flüsterte die Fremde Sabrina fünf Worte ins Ohr. Er verstand nur das Letzte, es fing mit A an, den Rest nach der Lippenbewegung zu deuten, war nicht so schwer. Schamesröte schoss ihm ins Gesicht.
„Wir haben zu reden!“, sagte Sabrina und es klang wie das Grollen einer hungrigen Tigerin.
Das war keine schlechte Idee, fand er. Weil „reden“ bei ihr auch immer zuhören und verstehen wollen bedeutete. Das hatten sie schon lange nicht mehr getan, der Alltag hatte sie verschlissen. Sie hatten vergessen, wie es war, als sie zwanzig gewesen waren und aus jedem Tag einen Sonntag gemacht hatten. Sie blickte der Frau einen Moment hinterher, dann fasste sie nach seinem Kinn, bog es nach oben und ein sardonisches Lächeln spielte dabei um den Mund seiner sanften Frau, wie er es noch nie bei ihr gesehen hatte.
Er wollte etwas sagen, doch sie gab ihm vor allen Leuten einen nicht gerade sanften Klaps auf die Wange und fuhr dann genüsslich langsam mit einem Fingernagel darüber, dass es schmerzte. „Rühr dich nicht vom Fleck!“
Sie eilte davon und als sie nach nur wenigen Minuten zurückkehrte, wippte in ihrer Hand im Gleichklang mit ihren zornigen Schritten eine schwarze Plastetüte, wie es sie bei Orion gibt. Sie packte ihn am Oberarm, ihre Nägel bohrten sich in seine Haut und sie zischte: „Diese Nacht wirst du nie vergessen!“
RHCSo, Januar 2022