Kein schöner Land

Es ist schon ein paar Jahre her, da fuhr ich mit dem Motorrad mehr als zweitausend Kilometer in sechs Tagen durch den Osten, durch Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Sachsen; den Harz, das Vogtland, das Erzgebirge und die Sächsische Schweiz; nur über Landstraßen und Feldwege, selten Bundesstraßen, nie die Autobahn. Was blieb nach dieser Tour durch ein Land, das nach Meinung derer, die es nicht kennen, der dunkelste Teil Deutschlands ist; voll von Rechten, von Nazis und AfD-Wählern?

Um es vorwegzunehmen – ich habe sie nicht getroffen, sondern nur Menschen. Auf dem Fichtelberg, in 1215 Metern Höhe, brachte meine Frau es nach einem langen Rundblick mit sechs Worten auf den Punkt: „Mein Gott, ist dieses Land schön.“

Noch heute ist in mir nichts weiter als Staunen über die Erlebnisse dieser Tage:
– über den Mann an der Kreuzung in Oelsnitz, ein Ort, an dem sich Fuchs und Hase auch am Tage gute Nacht sagen. Er schaute uns lächelnd ein paar Minuten bei unseren erfolglosen Versuchen zu, das Navi zu überzeugen, uns zu sagen, in welche Richtung wir fahren müssen. Dann wies er uns den Weg, obwohl wir ihn nicht gefragt hatten;

– über die Putzfrau in der Pension in Wernigerode, die das Trinkgeld nicht wollte und sich, als ich es ihr in die Schürzentasche steckte, mit einem altertümlichen Knicks und einem Lächeln dafür bedankte;

– über den Wirt des Gästehauses in Schöna, der uns ohne Aufpreis und mit einem breiten Grinsen ein Zimmer mit Terrasse und der besten Aussicht auf das Elbsandsteingebirge gab. Der außerdem vergaß, unser Essen und die Getränke auf die Rechnung zu setzen und als wir ihn daran erinnerten, mit einem halb nach oben und halb nach wahrscheinlich Berlin gerichteten Zeigefinger erwiderte: „Nehmen Sie es als Geschenk zu Pfingsten. Es treibt mich nicht in den Ruin. Das tun andere. Gute Heimreise.“;

– über das junge Mädchen am Rand des Gigaswing an der Rappbodetalsperre und ihr Lächeln, mit dem sie mich alten Mann 85 Meter senkrecht in die Tiefe stürzen ließ. 3,5 Sekunden freier Fall und noch heute habe ich den Schrei in den Ohren, den ich ausstieß, als die Seile griffen und aus dem Sturz ein sanftes Schwingen wurde. Nachdem sie mich wieder hochgezogen und das Geschirr entfernt hatte, sah sie mich einen kurzen Moment an, dann nahm sie mich in die Arme, einfach so. „Sie hatten so viel Glück in den Augen“, sagte sie, „Ich möchte etwas davon abhaben.“

Es ist das Land, in dem ich geboren wurde. Unsere Mütter und Väter und deren Mütter und Väter haben es aufgebaut, mit Blut, Schweiß und Tränen und sie haben dafür gesorgt, dass es kein „mieses Stück Scheiße“ ist, sondern Heimat und das Land, dass ich liebe. Es hat tiefe Wunden davongetragen und die Narben sind geblieben. Immer neue kommen hinzu und die, die sie ihm schlagen, wissen weder etwas von seiner Schönheit noch von den Herzen der Menschen, die in ihm leben. Sie haben es nie kennenlernen wollen, denn sonst könnten sie es niemals tun.

Das alles hört sich nach Vaterlandsliebe an? Tatsächlich ist es das. Immer noch, und das dieser Begriff heute mit aller Macht negativ belegt wird und jeder, der ihn verwendet, zum Nazi gestempelt wird, geht mir zehn Meter am Allerwertesten vorbei. Ich kann damit leben, genau wie es auch dieses Land kann. Es ist mehr als Grund und Boden; mehr als Häuser, Dörfer und Städte. Dieses Land sind Menschen mit einer Idee von Deutschland im Kopf, die ein wenig anders aussieht, als die in den Köpfen derer, die es regieren. Es ist ein Traum und er ist einfach nicht auszurotten. Das Land kann man zerstören, zerstückeln, ruinieren; die Menschen kann man fortjagen, stigmatisieren als Ossi und Ewiggestrige, doch die Idee „Deutschland“ in ihren Köpfen wird auch dann noch leben, wenn jeden Tag bezahlte Demonstrationen mit „Deutschland verrecke“ – Plakaten und der versammelten Politprominenz dahinter durch die Straßen ziehen.

So bleibt eigentlich nur Mitleid in mir für die, die von diesem Land nur den Kreißsaal kennen, in dem sie geboren wurden; den Hörsaal, in dem sie nicht einmal einen Abschluss geschafft haben und den Plenarsaal, in dem sie alles tun, um den Menschen dieses Landes diese Idee mit „Europa ist die Antwort“ auszutreiben. Tatsächlich tun sie mir sogar leid, denn sie werden diese beiden Gefühle niemals kennenlernen: dieses Staunen und die Liebe.

Aber wir. Wir tragen sie in uns und davon handelt dieses Blog.

 

RHCSo, Juni 2016

Hinweis: Dieser Artikel kann frei verlinkt, kopiert und geteilt werden.