Von Tapetenkritzlern und Papierballwerfern
Jedes Weihnachten meiner Kindheit feierte ich bei meinen Großeltern. Sie hatten sich nach dem Krieg zu Fuß mit Sack und Pack von Elbing nach Rostock durchgeschlagen und dabei so ziemlich jede miese Lektion mitgenommen, die das Leben auf Lager hat.
Einen Monat vor jedem Fest mussten wir unseren Wunschzettel bei Großvater abgeben. Damals, mit acht Jahren, war ich klüger, als gut für mich war und wusste zwei Dinge: Dass es den Weihnachtsmann nicht gibt und dass mir mein Großvater die Ohren langziehen würde – im wahrsten Sinne des Wortes – wenn er auch nur einen Schreibfehler oder Fleck auf dem Zettel fand. Beides waren damals Spezialitäten von mir.
Ich hätte meine Onkel und Tanten, die nicht so viel älter waren als ich, um Hilfe bitten können, aber dann hätten sie gewusst, was ich mir wünsche und hätten es sich selbst wünschen können. Das wollte ich auf keinen Fall. Also schrieb ich keinen Wunschzettel. Ich war mir sicher, dass meine Mutter und meine Großeltern mich nicht vergessen würden.
Als am Nachmittag des Heiligabend das Glöckchen hinter der Tür zum Herrenzimmer klingelte, dem Refugium meines Großvaters, stürmten wir jauchzend hinein. Die eingepackten Geschenke stapelten sich unter dem Weihnachtsbaum, doch bevor wir Kinder uns darauf stürzen durften, mussten wir noch Geduld üben. Oma spielte auf dem Klavier Weihnachtslieder, wir sangen aus voller Kehle und zum Schluss musste noch jeder ein Gedicht aufsagen. Dann endlich durften wir uns auf die Geschenke stürzen. An jedem war ein Namensschild befestigt und wir scherzten, lachten, jauchzten und reichten es reihum, bis vor jedem ein Haufen Geschenke lag. Vor jedem, nur nicht vor mir.
Nicht einmal das verschmitzte Lächeln um den Mund meiner Mutter konnte mich trösten. Ich verkroch mich in mein Bett und habe in dieser Nacht fürchterlich geweint. Es war eine der bittersten Lektionen meines Lebens.
Am nächsten Morgen brachte meine Großmutter mir Frühstück ans Bett und setzte sich zu mir. Das hatte sie noch nie getan, immer hatte sie ihre Liebe hinter Strenge verborgen und ich, so schien es mir damals, bekam davon am wenigsten ab. Sie lächelte ihr Omalächeln, das ich so sehr liebte, vielleicht, weil ich es so selten sah, und strich mir über den Kopf. „Alle Menschen wollen in ihrem Leben zwei Dinge“, sagte sie. „Aufmerksamkeit und Liebe. Und sie wollen ganz viel davon. Doch man bekommt sie nicht umsonst, weißt Du? Man muss sagen: Ich will, dass Du mich beachtest. Man muss sagen: Ich will Liebe. Aber je lauter man das sagt, umso mehr schauen andere auf Dich. Vielleicht nutzen sie es sogar gegen dich aus. Deshalb duckst Du Dich und flüsterst nur noch: Hab mich lieb, guck mal, ich bin auch noch da. Ich tu doch nichts, hab mich lieb, nur weil ich geboren wurde, weil ich atme. Du willst Aufmerksamkeit und Liebe, ohne etwas dafür zu tun. Aber so funktioniert das nicht, mein Enkel. Du verdienst die Aufmerksamkeit nur, wenn du selbst aufmerksam bist. Du verdienst dir Liebe nur, wenn Du Liebe gibst. Wenn Du das nicht verstehst, wirst du ein Tapetenkritzler und ein Papierballwerfer oder noch schlimmer, ein böser Troll.“
Ich muss sie ziemlich verständnislos angesehen haben. Sie schmunzelte. „Tapetenkritzler sind Kinder, die glauben, dass sie von ihren Eltern nicht genug Aufmerksamkeit bekommen. Sie bekritzeln dann die Tapeten zu Hause. Die Schelte, die sie dafür bekommen, ist für sie immer noch besser, als gar keine Aufmerksamkeit. Na ja, und Papierballwerfer sind die Kinder in Deiner Klasse, die den Unterricht stören, weil sie denken, dass sie nicht genug Aufmerksamkeit vom Lehrer bekommen.“
Sie stupste mir mit dem Zeigefinger auf die Nase und stand auf. „Deine Weihnachtsgeschenke haben Großvater und ich heute Morgen unter den Baum gelegt.“
Sie wollte hinaus gehen, aber ich hielt sie fest. „Oma, und was sind die bösen Trolle?“
„Tja, weißt Du …“, sie blieb in der Tür stehen und senkte die Stimme. „Das sind die bösen Ungeheuer aus den Märchen wie der Eisenhans. Sie machen nichts selbst; sie ducken sich vor allem weg und sind neidisch auf die, die den Mut haben, das nicht zu tun. Aber sie denken, dass die anderen die Aufmerksamkeit und Liebe bekommen haben, die eigentlich Ihnen zusteht und darum wollen sie diese in das gleiche schwarze Loch zerren, wo sie selber hausen. Und sie wohnen da, weil sie zu feige sind, sich auf ehrliche Art und aufrecht das zu erkämpfen, was sie wollen.“
„Kann man denn nichts dagegen tun?“ Ich stellte mir große, uralte Monster vor, mit Krallen an den Händen, schuppiger Haut und schiefen, verfaulten Zähnen und eine Gänsehaut lief mir den Rücken herunter.
Meine Großmutter lächelte. „Aber ja doch. Rede nicht mit ihnen, denn sonst gibst du ihnen genau das, was sie wollen. Du fütterst sie mit Deiner Aufmerksamkeit und zum Dank dafür entziehen sie Dir alle Deine Kräfte, nehmen dir Deine Stärke und du wirst klein und hässlich wie sie. Geh ihnen einfach aus dem Weg.“
„Aber warum kann man denn nicht mit ihnen reden?“
Großmutter schüttelte den Kopf und irgendwie sah sie ein bisschen traurig aus dabei. „Solche Menschen schauen immer nur in den Spiegel von Schneewittchens Stiefmutter.“
Sie ging und ich lief ihr noch im Schlafanzug hinterher, packte meine Geschenke aus und rannte dann vor Freude jauchzend wie ein Indianerhäuptling nicht um den Totempfahl, sondern um den Weihnachtsbaum.
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