Playlist-Update
Fünf Grad, es ist Samstagmorgen, die Sonne kitzelt dich wach und du weißt, es ist Zeit für schwarzes Leder. Aber der Kühlschrank mault: Du musst Essen bestellen! Deine Wohnung meckert: Mach mich gefälligst sauber! Doch draußen wartet die Maschine, also die Beats in die Ohren und die Klamotten an. Du bist undiszipliniert, schreit dir jemand hinterher und du fragst dich, seit wann die Stimme deines Gewissens weiblich klingt.
Früher nannten wir das ‚spontan‘. Du beißt die Zähne zusammen, damit du nicht auch schreist, zeigst allen drei den Finger, schmeißt die Tür hinter dir zu und die Playlist an, Zufallsmodus. Das erste Lied, Wolfgang Ziegler: Und dann stehst du im Regen. Aus deinem Grinsen wird eine Grimasse: Ja nee, iss klar, immer dahin, wo es weh tut.
Die Handschuhe an. Fällt schwer, die Hände sind geschwollen vom Ballen der Fäuste in den Taschen, aber irgendwie geht es dann doch und ab in die City, Icona Pop plärren: I crushed my car into a Bridge und du denkst: wenn es mal so einfach wäre. Die ganze Woche hast du dir die Seele aus dem Leib geschuftet für ein bisschen Kohle und obwohl todmüde, in den Nächten die beste Geschichte geschrieben, die dir jemals eingefallen ist. Nein, nicht geschrieben, herausgeblutet ist sie aus dir, Tropfen für Tropfen, Wort für Wort. Es war ein Brief wie in alten Zeiten mit der Post, der das bewirkt hat, vier engbeschriebene Seiten. Jetzt bist du auf dem Weg zu ihr, weil sie auf deine Flügel aus Fantasie gezeigt und geflüstert hat: Warum fliegst Du nicht mehr? Mit mir?
Diese alten Dinger, ganz hinten in der Schrankecke haben sie vor sich hingemodert. Du hattest sie eingetauscht gegen die Krücken Disziplin und Berechenbarkeit und dir auch noch das Korsett Verlässlichkeit angezogen, bis du dich keinen Millimeter mehr bewegen konntest außer mit gesenktem Kopf in der vorgezeichneten Richtung, in der auch alle anderen marschiert sind. Die Vielen können nicht irren, dachte das Schaf und folgte der Herde auf dem Weg zur Schlachtbank. Du hattest dich angepasst. Jetzt bist du angepisst. Von dir selbst. Dabei fliegen Adler immer allein.
Die erste Kurzgeschichte nach so langer Zeit war ein Flugtest. Ob sie dich noch trugen, die eingestaubten Dinger. Größer und schwerer waren sie geworden und es hatte viel mehr Kraft gekostet als früher, mit ihnen abzuheben, weil die Wirklichkeit wie ein Betonklotz an deinen Füßen hing. Doch sie trugen dich wie den Albatros seine Schwingen über das endlose Meer, aber Karat hast du nicht auf deiner Playlist, das solltest du vielleicht ändern. Oder hör Eagle von Abba. Damit kannst du sogar so dreckig fliegen, wie du dich seit Monaten fühlst.
Natürlich hast du geduscht, sogar gebadet jeden Abend, was du sonst nur am Wochenende gemacht hast. Doch der Dreck ging nicht ab. Weil er innen sitzt, da, wo kein Wasser hinkommt. Weil du gelächelt hast, wo du hättest die Zähne zeigen müssen; die Hand gereicht hast, wo du sie hättest ballen müssen und dich an der Tischplatte festgekrallt hast, als du hättest zuschlagen sollen. Du hast dich von der Angst um dich herum infizieren lassen und sie war es, die dich krank gemacht hat, schlimmer, als es jedes Virus könnte. Das tötet nur deinen Körper, aber die Angst besudelt erst deine Seele und dann nimmt sie dir deine Menschlichkeit. Du hast das zugelassen und deswegen fühlst du dich so dreckig.
Endlich freie Fahrt. Es ist die Straße nach Wismar. Winterkahle Bäume rauschen vorbei, die in ein paar Monaten wieder grün sein werden wie auch links und rechts gelb der Raps leuchten wird. Fast kannst du den Duft schon riechen. Vor dir ist ein LKW. Links raus … Lichthupe von vorne … uups … das wird knapp … Gas! Und sie ist da, die Maschine unter dir. Kurz lüftet sie das Vorderrad, zieht an und schert wieder ein. Sie ist immer da, wenn du sie brauchst, und lässt dich nicht hängen, wenn es eng wird. Das hat sie noch nie getan, sie ist kein Mensch. Der Opa im vorbeirauschenden Mercedes zeigt dir einen Vogel, Kai Tracid in den Beats und du fährst langsamer, damit du den Text verstehst: Life is too short, as precious as gold, it’s full of surprises, so i am told.
Du bleibst langsam. Ein See links der Straße, zwei Angler wollen den Fischen ein Schnippchen schlagen und irgendwie stiehlt sich ein Lächeln auf deine Lippen. Noch traut es sich nicht so richtig heraus, aber du weißt, wo es kommen wird, oder?
Der große Kreisverkehr in Wismar. Kein Auto drin? Geil! Zweiter Gang und Gas, noch mehr Gas, Anschlag! Faster von Within Tempation lässt deine Helmschale dröhnen: I’m alive, I’m breaking out, die Fußraste schlägt Funken auf dem Asphalt, wie ein Westernreiter hängst du links neben der Maschine und der Knieschoner fängt sich neue Schrammen ein. Eine volle Runde und dann noch eine und irgendetwas in dir schreit: Mann, du bist fast sechzig! „Und was?!“, brüllst du zurück.
Wenig später sind sie da, die schönste Straße des Nordens und dein Lachen. Von Wismar nach Neubukow, am Salzhaff entlang, voller Kurven und sonnendurchfluteter Alleen. Malerische Dörfer fliegen an dir vorbei, du erreichst das Meer und jetzt endlich kannst du atmen … atmen … atmen … Jetzt endlich bist du frei!
Es ist dieser Platz, an dem den Helm abzunehmen schon fast eine so heilige Handlung ist wie das Bekreuzigen beim Gang durch ein Kirchenportal. Das hier ist deine Kirche. Die Handschuhe aus und die Beats aus den Ohren, die Musik, die du jetzt hören willst, ist eine andere.
Nur ein paar Schritte sind es bis ans Wasser. Der Sand knirscht unter deinen Stiefeln und du setzt dich in den Schneidersitz; legst die Hände auf die Knie, formst mit Mittelfinger und Daumen einen Kreis, schließt die Augen und lässt deinen Kopf nach vorne sinken. Nur noch du, der Wind, das Meer, seine Wellen und ihr leises Rauschen sind bei dir. Ihr gehört zusammen: die Erde, das Wasser, die Luft und das Feuer in dir.
Ihr Brief hat es wieder auflodern lassen. Sehnsucht nach Verbotenem atmete er, nach Hemmungslosem und der Lust auf eine Nacht ohne Verbote, ohne Moral, ohne Scham. Nur diese Eine. Doch du weißt, dass es eine Lüge ist wie alles andere auch; dass sie ihre Stärke nur wie einen Schild vor sich herträgt, um ihre Schwäche nicht sehen zu müssen. Sex war schon immer ihre Droge, doch wenn der Rausch nachließ, kam die große Leere und da war keiner, dem sie, wenn der Orgasmus ihn schreien ließ, in die Augen geblickt hätte. Außer dir …
Nichts hören, nichts sehen, nichts denken, nur noch fühlen die eine Seele, die sie umhüllt und der sie alle ihre Sehnsüchte, Träume, Hoffnungen und Wünsche offenbaren kann. Ein Mensch, der dahin blicken kann, wohin sie nicht zu schauen wagt und der sie liebt, trotz allem, was er dort sieht – oder gerade deswegen. Mochte diese Liebe auch nur Stunden dauern: Diesem Menschen würde sie ihre Seele auf Knien darbieten, auf dass er sie von ihrer Qual erlöse. Vielleicht nicht für immer und vielleicht waren die Geister in ihr nie zum Schweigen zu bringen. Doch ein einziger Moment der vollkommenen Stille in ihr würde sie den Menschen wiederfinden lassen, der sie einmal war, vielleicht sogar den, der sie sein wollte. Kommt dir das bekannt vor?
Flammenzeichen waren ihre Zeilen, Hilfeschreie, sorgsam verborgen hinter einem Schild aus scheinbaren Belanglosigkeiten. Doch du hast die Qual brennen sehen in der Finsternis und wünschst doch, du wärst blind gewesen. Denn dein ist die Verantwortung. Das war sie schon immer.
Du setzt den Helm auf. Es ist Zeit.
***
Dann liegst du neben ihr. Ihr Kopf ruht an deiner Schulter, ihr Haar liebkost deine Wange und ihre nackten Brüste berühren deine Haut. Die roten Spuren der Seile, mit denen du sie abgebunden hattest, sind noch immer zu sehen. Halb liegt sie auf dir, ein Bein angewinkelt, und das Schimmern ihrer Haut unter dem schwarzen Strumpf lässt dich schneller atmen. Sacht streichst du mit deiner freien Hand darüber und es ist so still, dass du das Knistern des Nylons dabei hörst. Du hast nur diese eine Hand, die andere hält sie fest im Arm und die Welt und alle bösen Geister von ihr fern. Auch deine.
Du liegst neben ihr und jede Bewegung ihrer Füße, jedes Wogen ihres langen Haares hatte sie deiner Atemlosigkeit näher gebracht. Sie hatte dir ihre schmale Hand gerecht und schon da hattest du die Hitze gefühlt. Ohne ein Wort seid ihr gemeinsam hineingegangen und die Erinnerung an den Klang ihrer High Heels auf den Steinplatten vor dem Haus weckt wieder die Erregung in dir.
Du liegst neben ihr und weißt, dass der Glanz ihrer Augen im schimmernden Licht der Kerzen auf dem Tisch mit dem Abendessen nur ein Zwischenhalt war. Genau wie die Berührung ihrer Hand, als ihr beide gleichzeitig nach dem Salzstreuer langtet. Flogen die Funken von den Kerzen? Ihr vorsichtiges und doch lockendes Lächeln und deine gesenkte Stimme, ihre Füße unter dem zu kleinen Tisch, so dass sie sie zwischen deine stellen musste und sie dich mit roten Wangen dafür belohnte. Was sie nur noch röter werden ließ, weil ihr beide das gleiche dachtet.
Du liegst neben ihr und ihre Schönheit verwandelt deine Erregung erneut in Härte. Es ist nicht wichtig, nicht mehr. Bilder sind in dir, Klänge und Gerüche: der schimmernde Glanz des Schweißes auf ihrem nackten Körper, sein süßer Duft und ihre leisen Schreie: Symphonie der Lust.
Du liegst neben ihr und erinnerst dich an den Moment, an dem sich ihr Rückgrat unter deinem Körper in einem schier unmöglichen Winkel bog, als wollte sie dich fortstoßen und dich dabei doch mit all ihrer Kraft festhaltend, als wollte sie ihren Leib für immer mit deinem verschmelzen. Ihr Mund zum Schrei aufgerissen, aber nur deinen Namen flüsternd und winzig klein, in der Tiefe ihrer großen Augen, das Spiegelbild deines Ich.
Du liegst neben ihr und wie früher, als deine Gedanken für sie noch ein offenes Buch waren so wie ihre für dich, hebt sie ihre Hand, legt sie in deinen Nacken und ihre Lippen, nur Millimeter von deinen entfernt, flüstern: Du lebst in einer sehr dunklen Welt.
***
Der Himmel ist noch schwarz, als du nach Hause zurückkehrst. Du steigst von der Maschine, nimmst den Helm ab und blickst nach oben. Ein paar Sterne leuchten noch, dazwischen ist Dunkelheit und du denkst an ihre Abschiedsworte: Dunkelheit ist nur die Abwesenheit von Licht, Finsternis ist die Abwesenheit von Liebe. In der Dunkelheit kann ich leben. Mit Dir.
Nachdenklich streichst du mit der Hand über die Sitzbank der Maschine. Auf ihr ist Platz für zwei und du fragst dich, ob du stark genug bist, um schwach zu sein. Du gehst hinein, klappst den Laptop auf und schreibst diese Geschichte auf, für dich selbst und für die, die sie verstehen.
RHCSo, Januar 2022